Kinder Jemen FILE

Kinder nahe von Hodeida in Jemen: Der Krieg in der Ukraine macht die Nahrungsmittelhilfe noch prekärer. © FILE

Lebenswichtige Infrastruktur auch im Jemen gezielt zerbombt

Susanne Aigner /  Zu Recht werden russische Angriffe auf zivile Infrastruktur scharf verurteilt. Deutlich weniger im Jemen, wo Menschen verhungern.

Das systematische Zerstören der lebenswichtigen Infrastruktur im Jemen hatte Arte bereits im Jahr 2019 mit dem Bericht «Hunger als Kriegswaffe» dokumentiert. Hilfswerke bestätigten die völkerrechtswidrigen Bombardierungen. Die Uno konstatierte eine der grössten Hungerkatastrophen weltweit. Obwohl die Folgen für die schon vorher arme Bevölkerung katastrophal waren und immer noch sind, haben weder die Uno noch die EU oder die Schweiz Sanktionen verhängt. Dies machte Arte bereits vor drei Jahren publik:

  • Hunderte Strassen wurden zerstört, so dass die Menschen nicht schnell genug vor den Kämpfen fliehen beziehungsweise Verletzte transportiert werden konnten
  • Viele Schulen, Märkte, Geschäfte und Krankenhäuser wurden zerbombt. Kranke und Verletzte konnten kaum oder gar nicht behandelt oder ausreichend medizinisch versorgt werden.
  • Brunnen wurden zerstört, weshalb rund 16 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
  • 14 Millionen Menschen – der Hälfte der Bevölkerung – droht der Tod durch Verhungern.
  • 2,2 Millionen Kinder sind akut unterernährt.
  • Rund vier Millionen Menschen von 28 Millionen Einwohnern mussten ihre Wohnorte verlassen.
  • Hunderttausende Menschen starben in Gefechten oder bei Angriffen.

Laut WHO leiden 540‘000 Mädchen und Jungen unter fünf Jahren unter akuter Mangelernährung und sind unmittelbar vom Tode bedroht. Wegen ihres geschwächten Immunsystems erkranken vor allem Kinder häufiger an Cholera, aber auch an Masern, Diphterie und Dengue-Fieber. An Hunger und Krankheiten verstarben bereits Tausende Kinder.

Um Lebensmittel, Wasser, Medizin und andere Hilfsleistungen für rund 17 Millionen Menschen zu finanzieren, werden allein in diesem Jahr 4,3 Milliarden Euro benötigt, wie die UN und Hilfsorganisationen berechneten. Auf einer im Februar tagenden Geberkonferenz kamen jedoch gerade mal 1,2 Milliarden US-Dollar zusammen.

Gezielte Angriffe auf Landwirtschaft und lokale Märkte

Hilfsorganisationen und die Investigativ-Plattform disclose.ngo sprechen von einer gezielten Strategie: Saudi-Arabien und seine Verbündeten liessen die Bevölkerung vor allem in den von den Huthi besetzten Gebieten regelrecht aushungern. Dreissig Prozent der Luftangriffe seien eindeutig auf zivile Ziele und die lebenswichtige Infrastruktur gerichtet.

Laut Arte-Bericht gab es allein zwischen März 2015 und Februar 2019 rund 19’000 Angriffe des saudi-arabischen Militärs. Mehr als 11’000 Bomben trafen Ziele in der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelproduktion. Im Nordwesten, dem Kerngebiet der Huthi-Rebellen, bombardierte die arabische Koalition gezielt 660 Farmen – die Lebensgrundlage der Bevölkerung.

Zudem bombardierten die logistisch von den USA unterstützten Kampfflugzeuge Zisternen und Trinkwasseraufbereitungsanlagen. Rund 16 Millionen Menschen verloren den Zugang zu sauberem Trinkwasser. Das ist auch die Ursache für eine verheerende Choleraepidemie, an der seit April 2014 mindestens eine Millionen Jemeniten erkrankten. Eine Viertel Million Menschen soll daran gestorben sein.

Als die Kämpfe ausbrachen, hörten viele einheimische Bauern auf, ihre Äcker zu bewirtschaften. Viele wurden vertrieben. Seit die Kämpfe in der Region endeten, liege die Hälfte der Flächen brach, erklärte Mohammed Abdulwahab in einem bewegenden Interview von 2020. Der Vater von vier Kindern wusste nicht, wohin er mit seiner Familie gehen sollte. Zudem wollte er das Vieh nicht verhungern lassen. So blieb die Familie auf dem Hof und kämpfte ums Überleben.

In den Häfen und im Roten Meer wurden hunderte Fischerboote zerstört – ebenfalls eine wichtige Nahrungsgrundlage. Aus der Luft und von Kriegsschiffen aus wurden Boote, lokale Märkte, darunter Fischmärkte beschossen. Infolge dessen brach die Versorgung mit Lebensmitteln nahezu zusammen, die Lebensmittelpreise stiegen um 150 Prozent.

Mit einer Seeblockade im Roten Meer versuchte die arabische Koalition, Waffenlieferungen an die Rebellen zu verhindern. Allerdings blockierte sie damit auch humanitäre Hilfe, medizinische Ausrüstung und Nahrungstransporte. Weil Häfen und Flughäfen zerstört oder geschlossen wurden, kamen Lebensmittel und Hilfspakete bei den Menschen kaum noch an. Nicht nur die Koalition, auch die Huthi-Rebellen setzten Hunger als Kriegswaffe ein.

Kriegsverbrechen – begangen mit Waffen aus der EU

Hinzu kommt ein Missbrauch von Kindern. So wurden rund 4’000 minderjährige Jungen als Kindersoldaten eingesetzt. Mindestens 12’000 Kinder wurden verletzt, verstümmelt oder getötet.

Trotz allem gelangten in Deutschland produzierte Waffen und Komponenten für Kampfjets und ein vernetztes Luftkampfsystem nach Saudi-Arabien. Allein 2018 genehmigte die deutsche Regierung mehr als 200 Exporte im Wert von 400 Millionen Euro an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Während der vergangenen zwei Jahre lieferte sie Waffen auch an andere Länder der Allianz etwa Ägypten, Sudan, Kuwait, Bahrain und Katar.

Einem Bericht von disclose.ngo zufolge lieferte auch Frankreich Waffen an Saudi-Arabien und die Arabischen Emirate. So wurden 48 mobile Artilleriegeschütze an der Grenze von Saudi-Arabien gegen den Jemen aufgefahren. Mehr als 400’000 Menschen sollen von der Artillerie beschossen worden sein. 70 französische Panzer waren an der Westküste des Jemen an mehreren Offensiven beteiligt. Zudem produzierte Frankreich Steuerungssysteme für Lenkflugkörper in amerikanischen Kampfjets, die an die Saudis verkauft wurden. Eine französische Fregatte beteiligte sich auch an einer Seeblockade.

Seit Anfang April führen die Vertreter der Kriegsparteien erste Friedensgespräche. Doch es gibt Zweifel, ob diese den Krieg wirklich beenden.

In den letzten Tagen des diesjährigen Fastenmonats Ramadan spielte sich in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa eine menschliche Tragödie ab: Hunderte Menschen drängten sich in der Altstadt, um Geldgeschenke entgegen zu nehmen. Während die Spenden verteilt wurden, gaben Huthi-Rebellen Schüsse ab, wie Augenzeugen berichten. Dies und eine Explosion nach einem elektrischen Kurzschluss soll schliesslich zu einer tödlichen Massenpanik geführt haben. Mindestens 78 Menschen kamen ums Leben, weitere wurden verletzt oder schwebten in Lebensgefahr.


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Keine
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7 Meinungen

  • am 24.04.2023 um 11:12 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen Bericht.
    Er ist ein gutes Beispiel für den Irrsinn von Krieg und Waffenhandel.
    Gerade heute Morgen brachte Radio SRF die Meldung, dass 2022 das Jahr der grössten Waffenverkäufe je war. Und dieses Material soll ja irgendwo irgendwann eingesetzt werden.
    Wer kann dieser Entwicklung wie Einhalt gebieten?

  • am 24.04.2023 um 12:53 Uhr
    Permalink

    Man stelle sich vor, Mohammed Abdulwahab würde jeden Morgen über das Internet, aufgeblasen durch die Leitmedien des Westens, die Lage seines Landes erklären und gleichzeitig mehr Waffen fordern, um Saudiarabien aus seinem Land zu drängen oder gar zu besiegen. Man stelle sich vor, Mohammed Abdulwahab träte per Life-Schaltung in den wichtigsten europäischen Parlamenten auf, um Sanktionen gegen Saudiarabien zu verlangen. Man stelle sich vor, Mohammed Abdulwahab würde die Blockierung und Einkassierung saudiarabischer Vermögen, z.B. in der Schweiz, einfordern, um damit den Wiederaufbau seines Landes zu finanzieren. Und man stelle sich vor, der Vater von vier Kindern würde behaupten, dieselben Werte wie die unseren zu verteidigen: Freiheit, Selbstbestimmung. Demokratie usw. usf. Ist das jetzt Whataboutism? Nein, nur ein Hinweis auf die schier unerträgliche Doppelmoral des EU-Westens, diktiert von den USA. Ausführlicher dazu freystefan.ch.

    • am 24.04.2023 um 18:25 Uhr
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      Da der «Daumen Hoch» Button nicht funktioniert, dann eben auf diese Weise.
      Ich bilde mir nicht ein, dass die Menschen von einem Tag auf dem anderen auf Gewalt verzichten werden, aber damit aufhören Waffen an Orte zu liefern, wo sie nur unsägliches Leid anrichten und offensichtlich die menschenrechte verletzt werden, wäre immerhin ein Anfang.

    • am 25.04.2023 um 17:07 Uhr
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      Daumen hoch!

  • am 24.04.2023 um 13:25 Uhr
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    Gut zu sehen, dass sich mal ein westliches Medium diesem Thema annimmt.
    Jemen wird schon seit rund acht Jahren praktisch blockiert, bombardiert, ausgehungert und alles systematisch. Alles Ausrede müssen die Houthis mit ihren Beziehungen zum Iran herhalten – eine Ausrede, die für die Saudis und den sie unterstützenden Westen offensichtlich alles rechtfertigt.
    Im Grunde macht Saudi Arabien so ziemlich alles – mit Billigung und Unterstützung des Westeens (ohne irgendwelche Kritik), was derselbe Westen Russland in der Ukraine vorwirft und es deswegen verurteilt.

  • am 24.04.2023 um 15:28 Uhr
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    Und dies dabei gedacht: Laut dem letzten Bericht hat der Rassismus hat in der Schweiz zugenommen. Ist m.E. nicht verwunderlich, denn unsere Medien preisen unsere Werte als die einzig wahren und grenzen alle Andersdenkend aus. Die Suprematie des Westen wird als die allen anderen überlegene Kultur gepriesen und uns ständig vor Augen geführt, wie schlimm und schlecht doch die anderen sind Und deshalb ist es leicht die Not in Jemen publizistisch zu verdrängen. Fragt sich nur, welche Langzeitwirkung dieses schiefe Weltbild auf unsere Jugend, Zukunft und damit unser Wohlergehen haben wird.

  • am 25.04.2023 um 20:09 Uhr
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    Auch die Schweiz hat diesen Krieg in Jemen in den sieben Jahren, von 2015 – 2022, mit Waffenexporten unterstützt. Unser Land hat der Militärallianz, die im Jemen Krieg führte, laufend Rüstungsgüter geliefert. Auch die Staaten, die dieser Allianz des Massakers im Jemen logistisch möglich machten, blieben Kunden der Schweizer Rüstungsindustrie.
    Total der Kriegsmaterialexporte der Schweiz an die von Saudi-Arabien im Krieg im Jemen angeführte Militärallianz von 2015 – 2022: CHF 474,6 Millionen, (Bahrein, Katar, Kuwait, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate).
    Total der Kriegsmaterialexporte der Schweiz an die Staaten die im Krieg im Jemen die Militärallianz von 2015 – 2022 logistisch unterstützten: CHF 681,3 Millionen (USA, Frankreich, Grossbritannien, Pakistan) (Zahlen SECO, Staatsekretariat für Wirtschaft) Diese Staaten waren in diesen Jahren auch an anderen Kriegen beteiligt, am Krieg in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in Afrika.

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