Kommentar

kontertext: Schmutziger Sex im sauberen Russland

Nika Parkhomovskaia, Inna Rozova © zvg

Nika Parkhomovskaia / Inna Rozova /  Das Putin-Regime kümmert sich um Dresscodes, Pimmel und sexuelle Orientierungen. Erklärbar ist das nur aufgrund der Geschichte.

Am Abend des 21. Dezember 2023 fand im Moskauer Mutabor-Club eine Party mit dem Dresscode «fast nackt» statt. Zur allgemeinen Überraschung hatte sie die Wirkung einer explodierenden Bombe. An der Party selbst war nichts Ungewöhnliches: Die anwesenden Prominenten bedeckten im Vorfeld alle intimen Stellen, und als ungewöhnlichste Figur entpuppte sich der Rapper Vacio, der sich eine Socke über den Penis stülpte – was mehr ein Scherz als eine Provokation war. Noch vor ein paar Jahren, vor dem Beginn der «besonderen Militäroperation» in der Ukraine, fanden in Moskau regelmässig ähnliche und noch viel freizügigere Veranstaltungen statt, und niemanden störte es. Jetzt ist dies ein Grund für Verhaftungen, Geldstrafen und öffentliche Entschuldigungen (1). Warum nur erregt sich der Staat, der sich bis vor kurzem nicht um das Privatleben seiner Bürger gekümmert hat, beim diskreten Anblick von wenig Körper dermassen?

Realsozialistischer Puritanismus

Um dieses Phänomen zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, wie sich der Staat während des Spätsozialismus, in den 1970er und 80er Jahren, verhalten hat. Aus heutiger Sicht kann man die damalige Politik als kontrollierten Puritanismus bezeichnen. Auf der einen Seite versuchte der Staat, die Bürger so weit wie möglich ihrer individuellen Freiheit zu berauben. Es gab eine «Aufenthaltsgenehmigung», die eine Person dazu verpflichtete, an einem bestimmten Ort zu leben; dann einen «Arbeitsdienst» – eine Person durfte nicht arbeitslos sein, selbst wenn sie über Mittel zum Lebensunterhalt (z. B. eine Erbschaft) verfügte, und musste bei einem Unternehmen «angemeldet» sein. Alle mussten eine im Pass vermerkte «Nationalität»  haben, z.B. Russen, Usbeken, Juden oder eine der vielen anderen. Der Staat versuchte auch, das Familienleben zu kontrollieren: Scheidungen waren nicht erwünscht, vor allem nicht bei den Mitgliedern der Kommunistischen Partei – ausserdem wurden Personen wegen «unmoralischen Verhaltens» bei kollektiven Versammlungen blossgestellt und getadelt. Ihnen konnten Prämien gestrichen werden und sie konnten degradiert werden (2).

Obwohl offiziell die Auffassung herrschte, dass eine Frau gleichberechtigt mit einem Mann arbeiten könne, wurde den Mädchen in der Realität von klein auf beigebracht, dass ihr Hauptziel die Heirat und das Kinderkriegen sei. Mädchen waren immer wieder konfrontiert mit Babypuppen, Mutter-Tochter-Rollenspielen, der Frage «Wie viele Kinder willst du?» und der gesellschaftlichen Missbilligung der Kinderlosigkeit, die auch finanziell bestraft wurde: Es gab eine Sondersteuer für Junggesellen, für Alleinstehende und für Bürger mit kleinen Familien. Kinderlose Männer im Alter von 20-50 Jahren und Frauen im Alter von 20-45 Jahren mussten 6 % ihres Gehalts an den Staat abführen. In der «gesunden» sowjetischen Gesellschaft gab es  natürlich keinen Platz für alles, was aus dem Rahmen der Norm fiel, insbesondere nicht für homosexuelle Beziehungen. Das unter Stalin erlassene antihomosexuelle Strafgesetz «über Sodomie» verschwand nicht: Homosexuelle wurden weiterhin verfolgt und inhaftiert. Oft wurden sie verhaftet, weil sie dem Regime in irgendeiner Weise sonst nicht gefielen, oft aber auch, weil sie ihre Vorlieben zu offen zeigten. Tatsache ist, dass in der Sowjetunion der Grundsatz galt (und in vielen russischen Köpfen immer noch gilt): «Man kann alles tun, aber nur im Verborgenen». Die russische Sprache formuliert in diesem Zusammenhang besonders prägnant: Man kann alles tun, aber nur unter der Decke. Das bedeutet, dass man die geltenden Regeln und sogar Gesetze auf jede erdenkliche Weise verletzen kann – Hauptsache, niemand erfährt davon.

Das ist der Grund, warum viele Russen, selbst in den liberalsten Zeiten, gegen Schwulenparaden waren: Sie sagten, es sei ihnen egal, wer mit wem schläft, sie wollten nur nichts darüber hören. Ausserdem galt Sex lange Zeit als etwas Verbotenes und Schambehaftetes. In der UdSSR gab es keine Bücher zur Sexualerziehung, weder für Kinder noch für Erwachsene. Informationen zum Thema lieferten bestenfalls medizinische Nachschlagewerke und anatomische Atlanten: rare Nachdrucke von Übersetzungen, die als kostbare Juwelen von Hand zu Hand weitergereicht wurden. In Schulbüchern wurde das Thema Fortpflanzung zum Selbststudium angeboten. Kondome waren Mangelware, und die, die es gab, waren von schlechter Qualität und wurden vor Kindern versteckt. Hygienebinden wurden in den Geschäften nicht verkauft, und Mädchen lernten über Menstruation und Geburt nicht von ihren Müttern, sondern von Freunden und Bekannten. Es ging bis zur Absurdität: In Filmen beschränkte sich alles auf Küsse, dann folgte ein Blackout, und dann tauchten Kinder aus dem Nichts auf.

Sex erscheint

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann sich die Situation allmählich in Richtung grösserer Offenheit zu verändern. Es stellte sich heraus, dass es in Russland Sex gibt (3), und die Sexualerziehung spielte eine grosse Rolle dabei, ihn sichtbar zu machen. In erster Linie ist hier die Zeitung «AIDS-Info» zu nennen, die damals in grosser Auflage erschien, sowie eine grosse Zahl populärwissenschaftlicher Bücher, die die Vorstellung vermittelten, dass Sex normal und natürlich ist. Ebenso wichtig war die Verbreitung des Internets und der damit verbundenen Computer: Die Nutzer konnten auf eine Vielzahl von Informationen zugreifen, darunter auch auf Dating-Seiten. Demokratisch gesinnte Autoritäten verhielten sich anders als gewohnt: Gorbatschow war kein «geschlechtsloses» Wesen wie frühere sowjetische Führer, sondern ein Mann, der seine Gefühle für seine Frau nicht verbarg. 1993 wurde das Gesetz, das Homosexuelle diskriminierte, abgeschafft. Schwulenclubs entstanden und wurden populär. Kurz gesagt: Je mehr Freiheit im Land herrschte, desto weniger mischte sich der Staat in das Privatleben der Bürger ein, und desto mehr konnten sie experimentieren und sich zeigen.

Im Jahr 2000 kam der damals als demokratischer Führer positionierte Putin an die Macht, und lange Zeit, bis in die 2010er Jahre, mischte sich der Staat kaum in das Privatleben ein und konzentrierte sich auf die Wirtschaft und die Aussenpolitik. So konnte die Saat, die in der Perestroika-Ära gesät wurde, aufgehen. Die aus der Politik verdrängten einfachen Menschen konzentrierten sich auf die Schaffung eines komfortablen, angenehmen und offenen Lebensumfelds. Allmählich wurden Sex und alles, was mit dem Körper zu tun hat, vor allem für die Stadtbevölkerung zu etwas, das in aller Ruhe erlebt und diskutiert werden konnte. Die Kinder wurden von Eltern geboren und aufgezogen, die unterschiedliche Informationen und Ansichten über Sex hatten. Doch je mehr sich die Ansichten des fortgeschrittenen Teils der Gesellschaft änderten, desto stärker wurde der Widerstand der Konservativen. Man darf nicht vergessen, dass es in Russland etwa zwanzig Millionen Muslime und eine grosse Zahl orthodoxer Christen gibt, die die allgemeinen Ansichten über Sex nicht teilen.

Sauber gegen dreckig

Die 2010er Jahre wurden zu einer Zeit, in der die Schrauben auf staatlicher Ebene angezogen wurden: Nachdem Putin und sein Gefolge demokratische Wahlen abgelehnt hatten, begannen sie, zunehmend konservative Ansichten im sozialen Bereich zu verbreiten, und versuchten, dem Staat die Kontrolle über das Privatleben der Bürger zurückzugeben. Jedes Jahr wurden die Rufe nach einem Abtreibungsverbot lauter, die Gesetze gegen LGBTQIA+ (4) wurden verschärft, und schliesslich wurde 2020 im Zuge einer Verfassungsänderung die Ehe offiziell als  Verbindung von Mann und Frau definiert. Die Rhetorik, die von den russischen Medien nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine verbreitet wurde, führt uns in der Tat in die Zeit der Sowjetunion zurück: Das «saubere» Russland mit seiner «traditionellen Liebe» wird dem «schmutzigen» Westen mit seinem «verderbten Sex» gegenübergestellt. Wenn der Bürger irgendwie nicht in die vom Staat vorgeschriebenen Normen passt, kann er/sie immer beschuldigt werden, nicht-traditionelle Werte zu vertreten – und das ist, was die TeilnehmerInnen der «fast nackten» Party erlebten.

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(1) Der Mann mit der Socke überm Pimmel wurde für 15 Tage inhaftiert, die Organisatorin der Party wurde mit einer Geldstrafe von 100.000 Rubel belegt. Sie ist ausserdem auf eine Milliarde Rubel verklagt, und die Teilnehmer wurden gezwungen, in den Medien öffentlich Busse zu tun.

(2) Dies konnte geschehen, wenn der Ehepartner das «unmoralische» Verhalten der Partei meldete.

(3) Während einer der ersten «TV-bridges» zwischen der UdSSR und den USA äusserte 1986 einer der Gäste den Satz: «In der UdSSR gibt es keinen Sex», der bald zum geflügelten Wort und zum Anlass vieler Witze wurde.

(4) Im Jahr 2013 wurde ein Gesetz zum Verbot der «Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen» verabschiedet, das im Herbst 2022 erheblich erweitert wurde und am 5. Dezember 2022 in Kraft trat. Am 30. November 2023 stufte der Oberste Gerichtshof die LGBT-Bewegung als extremistisch ein und verbot ihre Aktivitäten in Russland.

Übersetzt aus dem Englischen von Felix Schneider


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

 

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