Auch Goethe hat schon gegendert: «Die Fräulein»
«Gender» ist für Rechtskonservative ein Reizwort, das sie gezielt einsetzen, um Emotionen gegen Geschlechtergerechtigkeit zu schüren. Wer das Gendern diffamiert geht in der Regel davon aus, dass es sich um eine Modeerscheinung handelt. Dabei ist die Sprache seit langem gegendert: männlich. Doch das war nicht immer so, wie die Literaturwissenschaftlerin Angela Steidele im Deutschlandfunk erklärte.
Die Verwandtin
Sprache verändere sich und es habe immer Versuche gegeben, diesen Wandel zu beeinflussen, sagt Steidele. Die heutigen Versuche, nicht nur Männer anzusprechen, seien nicht neu. Schon vor 300 Jahren sei aufgefallen, dass die deutsche Sprache teilweise unlogisch, ausgrenzend und ungerecht ist. Zum Beispiel dem Schriftsteller und Sprachforscher Johann Christoph Gottsched (1700 bis 1766), der bereits im 18. Jahrhundert genderte. Als Herausgeber und Autor der ersten Frauenzeitschrift im deutschsprachigen Raum, «Die vernünftigen Tadlerinnen», verwendete er Begriffe wie «Bekanntinnen», «Verwandtinnen» und «Anverwandtin».
Auch Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781) benutzte in einer Rezension eines Werks von Christian Fürchtegott Gellert den Begriff «Bekanntinnen». Würde heute jemand «Bekanntinnen» schreiben, wäre schnell von «Genderwahn» die Rede.
Familiennamen feminisiert
Im 18. Jahrhundert war auch das Gendern weiblicher Familiennamen üblich, sagt Steidele. Lessing nannte die Schriftstellerin und Theaterdirektorin Caroline Neuber «die Neuberin». Johann Sebastian Bachs zweite Ehefrau und «Capellmeisterin» genderte ihren Geburts- und ihren Ehenamen und unterschrieb mit «Anna Magdalena Bachin gebohrne Wülckin». Auch Luise Gottschedin und die Dichterin Anna Louisa Karschin feminisierten ihre Familiennamen. Diese Praxis verschwand im 19. Jahrhundert, zusammen mit den «Verwandtinnen», «Bekanntinnen» und «Studirenden» (ohne e in der Mitte).
In der Schweiz allerdings existiert die Feminisierung von Familiennamen umgangssprachlich noch immer. Im Kanton Zürich etwa ist «d Mülleri» noch geläufig – so wie im Bernbiet «d Ramseiere».
Die Fräulein
Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832) ignorierte die grammatikalische Regel, dass Diminutive mit -chen oder -lein sächlich werden, und hielt sich an das tatsächliche Geschlecht. Deshalb sei das Fräulein bei ihm oft weiblich gewesen, sagt Steidele. An seine Frau Christiane schrieb er: «Die Fräulein spielte Hendelische Sonaten und Ouvertüren.» Goethe verband Fräulein und Mädchen im Relativsatz mit dem Femininum statt mit dem Neutrum: «Es ist von der Hand der Fräulein Göchhausen, welche Hofdame bey der Herzogin Mutter Durchlaucht war.» Er schrieb nicht «des Fräuleins Göchhausen, welches…», was grammatikalisch korrekt gewesen wäre.
In einem Brief erwähnte er das «Nussbraune Mädchen, welche jetzt der Favorit ist». Korrekt wäre «welches» gewesen. Dass Goethe das weibliche Mädchen zum männlichen Favoriten machte, führt Steidele darauf zurück, dass Goethe in diesem Brief von der androgynen Sängerin Mignon schrieb. Goethe habe literarisch mit den grammatikalischen Zumutungen der deutschen Sprache gespielt.
Unbehagen an sächlichen Frauen
Das Unbehagen an grammatikalisch sächlichen Frauen sei im 18. Jahrhundert verbreitet gewesen, sagt Steidele. Auch Sophie von La Roche (1730 bis 1807) verwendete in «Geschichte des Fräuleins von Sternheim» stets das weibliche Relativpronomen. So heisst es über das Fräulein: «Ein Mädchen, das keine Eitelkeit auf ihre Reize hat…» Korrekt müsste es «seine Reize» heissen, aber das war laut Steidele bis Anfang des 19. Jahrhunderts unüblich. Eine Sprache, die weibliche Wesen zu Dingen macht, habe man vor 300 Jahren als komisch und irreführend empfunden und deshalb angepasst.
Sprache männlich gegendert
Erst als das Zeitalter der Aufklärung im 19. Jahrhundert zu Ende ging, wurden weibliche Wesen wieder zu Dingen, sagt Steidele. Beginnend mit Rousseau suchten männliche Autoren in Europa nach Argumenten, um die Gleichberechtigung der Frauen trotz fortschreitender Säkularisierung zu verhindern. Sie beriefen sich auf die Biologie, die Frauen und Männern angeblich unterschiedliche Charaktereigenschaften und Aufgaben zuweise. Frauen galten fortan als emotional, passiv und ungeeignet für Aufgabe ausserhalb der Familie. Auch aus der Sprache verschwanden sie.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Artikel ist zuerst auf frauensicht.ch erschienen.
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