Kommentar

Fernunterricht als Lösung – aber für welche Probleme?

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Die Programme für Fernunterricht an den Universitäten sind älter als Corona. Was aber sollen sie «lösen»?

Das Herbstsemester 2020 steht vor der Türe, die Schutzkonzepte werden angepasst und sie implizieren, dass sich die Studierenden an Hochschulen und Universitäten weiterhin auch auf digitalen Unterricht einstellen müssen. Viele haben dies schon unabhängig von aktuellen Fallzahlen und Abstandsregeln so geplant. So direkt wie Matthias Geerig, Kommunikationsleiter an der Universität Basel äusserten sich andere Hochschulleitungen dazu nicht: «Die Reise geht auf jeden Fall in Richtung Blended Learning – mit oder ohne Corona.» (Matthias Geering, «bz» vom 20. Juli). Was für eine Reise aber – und wohin führt sie?

Digitalisierung: Mehr oder weniger Bildung?

Die Pläne für eine Digitalisierung des Unterrichts sind älter als Corona, die Programme für den Ausbau von E-Learning ebenfalls. Jetzt aber, mit einem sprungartig angestiegenen Erfahrungswissen über digitalen Fernunterricht, ist es beste und höchste Zeit, darüber nachzudenken, welche Probleme die Digitalisierung lösen soll, wenn es nicht um die Vermeidung von Ansteckung geht. Ganz wichtig hierbei ist zu sehen, dass die Ziele nie klar formuliert wurden, weil vielerorts «Digitalisierung» als Innovation und damit als Zweck an sich aufgefasst wird. Dieses Selbstverständnis klingt im Statement von Geering an; abgebildet ist es in vielen Strategiepapieren der Hochschulen seit mindestens 5 Jahren.
Dabei fehlte es an einigen Koordinaten – zunächst an einer Differenzierung dessen, was Digitalisierung als Begriff alles im Gepäck hat. Denn Digitalisierung ist zunächst nur eine technologisch gesteuerte Rationalisierung, die nichts mit Menschen und deren Bildung zu tun hat. Hierzu haben sich in der Coronazeit Erkenntnisse eingestellt, in welchen die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des digitalen Fernunterrichts klarer geworden sind.
Sie sollten jetzt geprüft werden, bevor einfach flächendeckend iPads verteilt werden an Sekundarschulen wie im Kanton Baselland, der sonst gerne in der Bildung spart.

«Blended learning»: Mit oder trotz digitaler Medien?

Die ersten Auswirkungen auf das Lernverhalten von Schüler*innen im Coronasemester wurden jüngst als «Schulbarometer» kommuniziert, basierend auf einer grossen Umfrage der pädagogischen Hochschule Zug, die im Frühjahr 2020 in der Schweiz, Deutschland und Österreich durchgeführt wurde. Es handelt sich also nicht um eine Langzeitstudie, sondern um die Auswertung erster Erkenntnisse. Sie sind durchzogen und besagen vor allem: Trotz digitaler Medien wurde gelernt. Aber nur von einem Drittel der Befragten. Ein Drittel hat weniger oder nichts gelernt, ein Drittel hat profitiert und mehr gelernt. Die individuelle Lernbilanz ist abhängig vom Lerntypus wie auch vom sozialen Milieu.
Fast in allen Kommentaren und Auswertungen, ob von Schülern, Studierenden oder Lehrer*innen / Dozierenden hörte man dieselben Rückmeldungen, die ich als selber Fernlehrende beglaubigen kann: Ja, es gab zwar interessante neue Formen von Nähe durch die Distanz, es gab durch die Synchronizität von Lernnotizen auf einem E-Pad auch effektive und sichtbare Lernschritte, es gab sogar witzige Situationen durch die Mischung von Öffentlichkeit und Privatheit beim Besuch von Katzen und Müttern in den Arbeitszimmern oder auch durch den spontanen Griff in die eigene Bibliothek, die man sonst nie bei sich hat beim Unterrichten.
Dies und noch viel anderes Neues gibt es zu berichten aus dem Homeoffice – dennoch ist die erste Bilanz der Studie sehr durchzogen und sollte aufhorchen lassen. Dass die Unterschiede grösser geworden sind, heisst: Einige Schüler und Studierende sind zurückgefallen und haben ganz abgehängt; die Motivierten hingegen haben zugelegt. Dies widerspricht der Chancengleichheit, die Schulen und Hochschulen garantieren sollten. Eine Schlüsselfunktion beim Lernen nimmt das immer wieder vage umschriebene «Soziale» ein, das gefehlt habe in der Corona-Schulzeit. Den einen fehlen die Kolleg*innen, den andern die spontanen Gespräche, wieder anderen der direkte Kontakt zur Lehrperson, für andere sind es die Diskussionen. Das Soziale ist mithin um einiges gewichtiger, als viele Vertreter*innen von Digital learning annehmen. Mit dieser widersprüchlichen pädagogischen Bilanz starten wir ins Herbstsemester – und interessant ist, wie Medienberichte solche Widersprüche kommentarlos stehen lassen. So im «Tagesschau»-Bericht vom 3. August 2020: Zum einen kam Stefan Huber, Professor für Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Zug und Leiter der Studie ausführlich zu Wort. Seine differenzierte Bilanz besagt, dass einfach nicht alle Lernenden ohne Lernklima und ohne soziale Lernumgebung lernen können. Schlüsse wurden daraus aber keine gezogen.

Wie genau gelernt wurde und was auch über Medien selber durch ihre aktivere Nutzung gelernt wurde, wäre nun zu erforschen – viele Lehrpersonen und Teams haben das aus eigenen Stücken begonnen, weil sie merken, was für einen grossen Unterschied es macht, Studierende vor sich zu haben oder sie nur noch mit Stoff zu «versorgen». Dass «die Reise» genau dorthin gehen könnte, wurde in der gleichen Sendung durch den Leiter einer technischen Hochschule vorgestellt. Seine Schule hat fürs Herbstsemester Lernpakete vorbereitet, die sich die Schüler*innen selber downloaden und erfüllen können, wann sie wollen. Hingewiesen auf die Schwierigkeit, dass nicht alle Schüler*innen diese Selbstorganisation beherrschen, antwortet er mit ja, so würden sie halt Selbstverantwortung lernen.
Soweit der Bericht. Hier aber gilt es nachzuhaken. Denn was heisst es, einfach auf Selbstverantwortung zu setzen – geht das pädagogisch überhaupt? Das starke «Selbst» ist nämlich nicht die Voraussetzung von Schule und Hochschule. Voraussetzung ist Neugier und eine Sorge, die Lehrpersonen in einer Lernumgebung übernehmen für eine Beziehung auf Zeit, in vielen kleinen Schritten. Zu dieser Form von Präsenz gehören auch Gesten, Fragen und Blicke. Deshalb wäre es nützlich, bei aller Notlösung, in die Corona uns zwingt, an dem festzuhalten, was Schule im Kern ausmacht.

Schule kann ansteckend sein

Wenn aktuelle Möglichkeiten von «blended learning» entwickelt werden, dann setzt man dabei auf einen Teil Präsenzunterricht, einen Teil Fernunterricht. Auf Präsenz zu bestehen, darauf verweist der Philosoph Andreas Brenner in einer Replik auf zwei Apologeten des «distant learning», hat nichts mit einem «reaktionären Retour» zu tun.

Denn Präsenz besagt nicht einfach nur Zeitgleichheit (Synchronizität), wie sie viele Online-Lernplattformen anbieten, sondern sie impliziert eben Gemeinschaft, die Studierende wie Schüler*innen dem Alleinlernen vorziehen.
Zu ergänzen wäre: Sie tun dies, weil Präsenz nicht nur mit Zeit zu tun hat, sondern auch mit Beziehungen und Räumen. Man muss nur einmal lesen, was mit Harry Potter und seinen Freund*innen passiert, als sie das erste Mal Hogwart betreten und man versteht, warum Hogwart als Zauberschule im Bewusstsein der Generation, die wir unterrichten, zum Modell für Schule schlechthin geworden ist. Es gibt dort viel Technik und Übersinnliches, klar, das gehört zur Zauberei. Aber es gibt vor allem das, was es braucht, damit Schule wirksam ist und alle bildet – jede und jeden in seiner Art. Das Gewicht der Räume ist dabei nicht zu unterschätzen. Räume sind mehr als technisch-funktionale Einheiten, sie sind atmosphärische und ästhetische Simulatoren fürs Gedächtnis, sie untermalen Stimmungen, sie verbinden Gehörtes mit Gerüchen und Geräuschen und sie sind Voraussetzung für das physische Gefühl von Gemeinschaft.
Was man auch erfährt in Hogwart: Lernen ist ansteckend, Schule kann ansteckend sein. Vor den Augen der anderen zu bestehen oder zu scheitern, sich zu verbessern oder gemeinsam zu gewinnen, das Geheimwissen der anderen zu knacken, um Gefahren zu bestehen, ist mehr als Wissensmanagement. Es ist Bildung. Wenn wir uns nur noch «schützen» vor den andern, vergessen wir, dass wir durch Beziehungen geformt werden. Natürlich können Beziehungen auch auf Distanz gepflegt werden, Briefe und Telefon und Social Media haben es gezeigt. Warum aber vermissen dann doch alle das Soziale – an den Schulen wie an den Hochschulen? Vielleicht, weil wir uns riechen wollen, weil wir uns berühren oder in die Augen sehen möchten?
Das zentrale Element, das die Technik nicht richten kann, ist, was mit unserem Körper und Bewusstsein passiert, wenn wir Aufgaben lösen sollen, Dinge verstehen und Informationen verarbeiten. Hierzu hat auch die Neurowissenschaft keine sicheren Antworten. Sie kann zwar, wie am Gabrieli Institute am MIT Boston untersuchen, wo und wann es ‚wandernde Aufmerksamkeit’ beim Lernen gibt, welche Schüler wie schnell welche Lernschritte machen. Sie kann aber keine Probleme einfach oder technisch lösen bei Lernschwierigkeiten. Das besagt zumindest: Es braucht jemanden, der Aufmerksamkeiten zu bündeln versteht, der bemerkt, wenn sie gestört sind und das ist die Lehrperson. Insofern ist neben den Räumen die Lehrperson das zentrale Element einer Lernumgebung, das Aufmerksamkeit herstellen kann. Hinzu kommt die direkte Interaktion, kommen die Pausen und Unterbrechungen. Das Zögern, Widersprechen und vielleicht auch einmal verwerfen. Nur daraus kommt Reibung, Energie und damit Resonanz. Das alles passiert online nicht. Wer zwei Stunden online unterrichtet hat, weiss, dass einem alle Energie aufgesogen wird damit, weil in der digitalen Plattform praktisch keine Interaktion und fast keine Resonanz möglich ist. Dass nichts zurückkommt von der anderen Seite heisst eben auch: Dass nichts passiert und dass niemand angesteckt wird.
Wenn man nun auf «Blended learning» setzt, gilt es genau zu überlegen, wo man die Energie und den Aufwand einsetzt, denn beides ist nicht gratis. Die Technik allein richtet nichts und kostet viel. Wenn jene, die präsent sind, dann doch nur in den Laptop sehen, sind alle da und niemand ist präsent. Es braucht also sehr sorgfältige Arrangements und viel Überlegungen im Austausch. Doch gibt es diese Zeit, wird dem Lehrpersonal diese Zeit gegeben?
Hört man den «Tagesschau»-Bericht vom 10. August, scheint das Fazit überall schon gemacht:
«Jede Lehrperson, auch wenn sie Digitalisierungsgegnerin war, hat davon profitiert. Die Schülerinnen und Schüler machten viele neue Erfahrungen. Eltern haben ihre Kinder neu kennengelernt: Sie haben gesehen, wie sie lernen, was für Typen sie sind», so die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm.
Dieses positive Fazit erscheint vor dem Hintergrund der eben ausgeführten Überlegungen voreilig. Und da jetzt Weichen gestellt werden, sollte man so lange als möglich innehalten und sorgfältig abwägen, wohin die Reise geht. Dabei geht es nicht, wie der «Tagesschau»-Bericht vom 10. August suggeriert, um einen Grabenkrieg zwischen Digitalisierungsapologeten und Skeptikern, sondern darum, dass aus einer Notlösung ohne Not keine Normalität entstehen sollte, wenn es um die Lernchancen und Bildungserfolge von einem Drittel der Schüler*innen geht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst & Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.

    Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder.

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