Lubrizol

Beim Chemieunfall im Lubrizol-Werk in Rouen sind weit mehr Produkte verbrannt als bisher angenommen. © SRF/News-Clip

Frankreich: Unbekannte Auswirkungen nach Brand in Chemiefabrik

Tobias Tscherrig /  Nach dem Brand in einer Chemiefabrik bestehe keine Gefahr durch Schadstoffe. Doch niemand weiss, welche Giftstoffe verbrannt sind.

Am 26. September brannte die im französischen Rouen ansässige Chemiefabrik «Lubrizol», die in direkter Nähe zu Wohnquartieren liegt. Der Grossbrand breitete sich rasch aus, die schwarzen Rauchwolken waren kilometerweit zu sehen. Ein Aufgebot von rund 200 Feuerwehrmännern und -frauen bekämpfte die Flammen während Stunden, erst danach konnten sie unter Kontrolle gebracht werden.

Obwohl «Lubrizol» hauptsächlich industrielle Schmiermittel als Zusätze für Öle herstellt, dazu auch hochgiftige Chemikalien verwendet und damit zur Kategorie der «Industrieanlagen mit besonders hohen Risiken für die Bevölkerung» (Seveso-Kategorie) gehört, beruhigte der französische Innenminister Christophe Castaner die besorgte Bevölkerung bereits einige Tage nach dem Vorfall. Die Gefahr einer weiteren Ausbreitung sei gebannt, eine akute Bedrohung durch giftige Schadstoffe sei nicht gegeben, hiess es.

Was Chemieunfälle angeht, ist «Lubrizol» kein unbeschriebenes Blatt. Bereits 2013 gab es im «Lubrizol»-Werk in Rouen einen Zwischenfall, bei dem schwefelhaltiges Gas austrat, das in grösseren Konzentrationen als toxisch gilt. Der Geruch war nicht nur in Paris, sondern sogar im südlichen England wahrnehmbar. Im Anschluss an den Unfall mahnten die französischen Behörden die Firmenleitung von «Lubrizol» zu grösserer Vorsicht.

Auswirkungen erst unklar, jetzt noch unklarer

Die Frage, ob die Gase und Partikel, die beim Brand vom 26. September freigesetzt wurden, längerfristige Umweltrisiken darstellen und Schäden verursachen können, ist bis heute ungeklärt. Im Netz verbreiteten Anwohnerinnen und Anwohner Fotos von schmierigen Rückständen, die sich zum Beispiel auf Kinderspielplätzen oder Autos abgelagert hatten. Da unweit der «Lubrizol»-Fabrik die Seine durch Rouen fliesst, aktivierten die Behörden zudem den «Polmar»-Plan zur Bekämpfung einer Verschmutzung des Flusswassers.

Gemäss Berichten von französischen Medien kam die Entwarnung von Castaner wohl zu früh: Laut neuen Informationen brannten nicht nur die Chemiefabrik, sondern auch die Lagerhallen eines benachbarten Logistikunternehmens, in dem möglicherweise tausende zusätzliche Tonnen chemische Produkte verbrannt sind – hochgiftige Materialien, die laut Medienberichten wahrscheinlich entgegen den strikten Sicherheitsauflagen gelagert wurden. Das betroffene Unternehmen war nach eigener Aussage nicht in der Lage, eine Bestandesaufnahme der Produkte zu erstellen, die in Flammen aufgingen. Damit weiss zum jetzigen Zeitpunkt niemand, welche Stoffe tatsächlich verbrannt sind und welche Schadstoffe freigesetzt wurden.

Chemieunfall erhält neue Dimension

So werden im ersten offiziellen Brandbericht vom 1. Oktober 5’262 Tonnen Produkte erwähnt, die vom Brand betroffen gewesen seien. Eine Zahl, die wohl nach oben korrigiert werden muss. Denn gemäss Informationen, die das Logistikunternehmen «Normandie Logistique» vor kurzem bekannt gab, brannten unweit des «Lubrizol»-Werks auch drei Lagerhallen des Logistikunternehmens. Das Unternehmen lagerte hier insgesamt 9’050 Tonnen Produkte, von denen knapp die Hälfte von «Lubrizol» hergestellt wurde. Bei weiteren 139 Tonnen handelt es sich um Produkte, die von der «Total»-Gruppe hergestellt wurden. Der Rest fällt auf übrige Produkte.

Welche Substanzen in den drei Lagerhallen von «Normandie Logistique» tatsächlich verbrannt sind, ist unklar. Zur Zeit ist einzig klar, dass eine der Lagerhallen komplett und die anderen zwei teilweise niedergebrannt sind. Französische Medien berufen sich auf staatliche Quellen und sprechen von «Asphalt-Produkten», die zur Produktpalette von «Total» gehören sollen. Bei den «Lubrizol»-Produkten soll es sich um «Rohstoffe und Fertigprodukte» gehandelt haben. Näheres war nicht zu erfahren – vor allem weil «Normandie Logistique» nicht in der Lage sei, eine Bestandesaufnahme zu erstellen. Das französische Online-Portal «mediapart» weist aber daraufhin, das bei «Lubrizol» Öle, Lösungsmittel, Korrosionsschutzmittel, Antioxidantien und Kohlenwasserstoffpolymere hergestellt werden.

Einige dieser Stoffe, wie zum Beispiel Antioxidantien, gelten als giftig und umweltschädlich. Im Übrigen arbeitet «Lubrizol» auch mit Dithiophosphat-Zinksalzen und deren Derivaten, die besonders giftig sind und dazu dienen, Ölen Korrosions- und Verschleissschutzeigenschaften zu verleihen.

Überraschender Mangel an Informationen

Der Mangel an Informationen darüber, was in den Lagern von «Normandie Logistics» gelagert wurde, ist – gelinde gesagt – überraschend. Jedes Unternehmen, das wertvolle und teure Produkte lagert, klassifiziert sie naturgemäss sehr genau. Jede Trommel, jeder Beutel und jeder Container werden streng nach Gewicht, Volumen und Lagerort aufgelistet, damit sie jederzeit lokalisiert, verladen und verschifft werden können. «mediapart» stellt deswegen die pikante Frage: «Verhindert Normandie Logistique oder einer ihrer Kunden die Verbreitung dieser Informationen?». Im Übrigen werfen französische Medien die Frage auf, ob sich «Lubrizol» als Unternehmen der Seveso-Kategorie dem strengen Kontrollsystem und den damit verbundenen Transparenz- und Überwachungsvorschriften entzogen hat, indem es Rohstoffe und Fertigprodukte bei einem Transportunternehmen gelagert hatte.

«mediapart» liegt eine Liste von Produkten vor, die das Logistikunternehmen «Normandie Logistique» transportiert. Darin seien die gleichen Gefahrenklassen wie bei den von «Lubrizol» gelagerten Produkten zu finden. Zum Beispiel Stoffe, die beim Einatmen tödlich sind, chronische und akut toxische Stoffe, Ätzmittel, Reizstoffe und so weiter. Das Online-Portal verglich die Dateien von «Normandie Logistique» mit denjenigen von «Lubrizol» und kommt zum Schluss, dass sich am Tag des Brandes in den Lagern des Transportunternehmens Stoffe befunden hätten, die beim Verschlucken oder Eindringen in die Atemwege tödlich sein können. Auch Stoffe, die die Fruchtbarkeit beeinträchtigen können, sollen bei «Normandie Logistique» gelagert worden sein.

Ungereimtheiten bei der Zulassung
Ob diese Stoffe tatsächlich verbrannt sind, ist unklar. Allerdings ist die Antwort auf diese Frage angesichts der möglichen gesundheitlichen Auswirkungen für die Bevölkerung dringend. Dringende Aufklärung braucht es auch bei der Frage, welcher Art der «Cocktail» ist, der bei dem Brand in die Atmosphäre gelangt ist.
«mediapart» weist auf eine weitere Ungereimtheit hin. Gemäss behördlichen Informationen, die dem Onlineportal vorliegen, fallen die Produkte, die bei «Normandie Logistique» gelagert wurden, nach den vom Betreiber angegebenen Informationen nicht unter das ICPE-Genehmigungsverfahren. Dieses Verfahren müssen Unternehmen durchlaufen, die – unter anderem – eine Gefahr für Menschen, ihre Gesundheit und die Umwelt darstellen. Eine der Auflagen für den Erhalt der Genehmigung ist das Erstellen einer Folgenabschätzung. Erneut gibt es offene Fragen: Wurde «Normandie Logistique» davon ausgenommen, obwohl es eine Seveso-Anlage in einigen Metern Entfernung gibt und das Transportunternehmen in grosser Menge brennbare und giftige Materialien transportiert?

Allerdings lockerte die französische Verwaltung 2009 die Kontrollvorschriften für klassifizierte Anlagen durch die Einführung eines Registrierungssystems, das Unternehmen nicht mehr verpflichtet, vor der Aufnahme bestimmter Tätigkeiten Folgenabschätzungen durchzuführen. Der Schwellenwert für die Genehmigung von überdachten Lagern wurde von 50’000 auf 300’000 m3 angehoben. Für die Lagerung von Polymeren, einschliesslich Gummi und Kunststoff, ist der Sprung noch spektakulärer: Die Schwelle steigt von 1’000 auf 40’000 m3. Für die Lagerung von Reifen und Produkten aus mindestens 50 Prozent Polymeren wurde der Schwellenwert von 2’000 auf 45’000 m3 angehoben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Gift_Symbol

Gifte und Schadstoffe in der Umwelt

Sie machen wenig Schlagzeilen, weil keine «akute» Gefahr droht. Doch die schleichende Belastung rächt sich.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

2 Meinungen

  • am 6.10.2019 um 13:52 Uhr
    Permalink

    "Machen Sie mal eine typische Bewegung». <> Kopfschüttel

  • am 6.10.2019 um 23:33 Uhr
    Permalink

    Im Verharmlosen vor dem Volk (Französische Revolution?) ist Frankreich Grande: Tschernobyl machte gemäss Behörden an Frankreichs Grenzen halt. Und dass Notre Dame 500 Tonnen (!) Blei verdampfte beim Brand, wurde erst relativ spät nach Protesten veröffentlicht. Made in France für uns Gourmets ecologiques?

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...