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Neben dem Kreuz steht der Galgenbaum © us

Im Schatten des Galgenbaumes

Robert Ruoff /  Der Rassismus in den USA hat eine lange und grausame Geschichte. Er wurde über Generationen weiter gegeben.

Es ist nun gerade neun Jahre her, im Jahr 2007, dass ich Carvin Eison begegnete, dem schwarzen, afro-amerikanischen Filmemacher, den ich heute meinen Freund nennen darf. Carvin Eison war damals schon ein preisgekrönter Regisseur und Produzent, bekannt durch seinen Dokumentarfilm «July ’64». Der Film erzählt die Geschichte des «Rochester Riot», eines dreitägigen Aufruhrs in der Stadt Rochester im Staate New York. Es war der erste Aufstand in einem nördlichen Bundesstaat der USA in der Zeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Es war der Ausbruch des «stillen Zorns» der Schwarzen in zwei afro-amerikanischen Wohnvierteln. Es war der Zorn und die Frustration über die Massen in beengten Wohnungen, über den Rassismus in Schulen, Wirtschaft und Verwaltung, über die Arbeitslosigkeit und die Angriffe scharfer Polizeihunde.


Carvin Eison, afro-amerikanischer Filmemacher (Foto: Mark Chamberlin, by courtesy of Rochester City Newspaper)

Drei Tage und Nächte dauerte der Aufruhr von 1964. Er löste Aufstände in anderen Städten aus, und die Spannung vibrierte noch 40 Jahre später nach, als der Film erschien. Und sie explodierte auch heute wieder, 2016, nach den letzten Erschiessungen von schwarzen Mitbürgern im Süden, denn es hat sich noch immer nichts wirklich geändert. Armut, keine Bildung und keine Berufschancen sind noch immer die Lebensbedingungen für viele schwarze Amerikaner. Und wenn sie wieder demonstrieren für den Wert von schwarzen Leben, «Black Lives Matter», wie in diesen Tagen, rechnen sie auch mit ihrer Verhaftung.

Der endlose Rassismus

Weil sich auch vier Jahrzehnte nach dem Aufstand in Rochester nichts wirklich geändert hatte, begann Eison mit der Arbeit an einem anderen Film. Er wollte verstehen und die Ursachen des endlosen Rassismus finden, der bis heute wirkt: «Shadows of the Lynching Tree», die Schatten des Galgenbaums. Das war vierzig Jahre, nachdem der gewaltfreie Bürgerrechtler Martin Luther King (1968) ebenso ermordet worden war wie der Muslim Malcolm X (1965), der predigte, die Schwarzen müssten, wenn nötig zu den Waffen greifen, um ihre Rechte durchzusetzen. Eison begann seinen Film Jahrzehnte danach, als der schwarze Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin schon festgestellt hatte, dass «der amerikanische Traum ausgeträumt» sei. Baldwin ging ins französische Exil, denn «…alles, was meine Landsleute mir anzubieten hatten, war der Tod – ein Tod nach ihrem Geschmack.»

Mit dieser Art des Todes beschäftigt sich Carvin Eison im «Schatten des Galgenbaums». Der Film erzählt, wie die Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten nach Abschaffung der Sklaverei (1865) eine «zweite Welle der Sklaverei» erlebt haben: die Lynchjustiz. Um die 4000 Schwarze sind in den USA zwischen 1880 und 1940 auf diese Weise umgebracht worden, häufig ohne jedes Gerichtsverfahren. Und sei es nur, weil sie es an «Respekt» gegenüber ihren weissen Herren oder weissen Frauen haben fehlen lassen.

Die schwarzen Untermenschen

Lynchjustiz war Folter. Die Schwarzen wurden, zum Beispiel, ausgezogen, Finger wurden ihnen einzeln abgehackt und als Souvenir an Umstehende verteilt, ihre Körper wurden mit Öl übergossen, sie wurden an einem Baum aufgehängt und Stück für Stück lebendigen Leibes verbrannt. Das berichtet die amerikanische «Equal Justice Initiative», und sie erzählt, dass diese Lynchjustiz nicht selten als Party gefeiert wurde. Frauen, Männer und Jugendliche ergötzten sich an den Schmerzen der Hängenden, kleine Kinder sassen auf den Schultern ihrer Väter, und Fotografen schossen Bilder, die als Postkarten verschickt wurden mit der Bemerkung: «Das ist das Grillfleisch, das wir heute hatten. Grüsse, Joe.»


Lynchjustiz aus dem Film «Shadows of the Lynching Tree» (Foto: Zur Verfügung gestellt von Carvin Eison)

Der Schriftsteller James Baldwin legt diese Wirklichkeit seinem Roman «Des Menschen nackte Haut» zugrunde. Es ist, unter anderen, die Geschichte des 17-jährigen Jesse Washington, eines geistig zurückgebliebenen Afroamerikaners, der wegen eines angeblichen Mordes an einer weissen Frau auf diese Weise umgebracht wurde. Carvin Eison, der Filmemacher, erzählt mit Fotos und schwarz-weiss Film die Geschichte wie James Baldwin aus der Sicht eines jugendlichen Weissen, der teilnehmen darf an diesem Volksfest der Lynchjustiz. Der Knabe fühlt sich stolz an der Seite seines Vaters, erwachsen. Es ist der Initiationsritus des weissen Jugendlichen, der auf diese Weise zum grossen, mächtigen weissen Mann wird.

«Afro-Amerikaner waren Untermenschen. Ihre Unterwerfung musste mit jedem notwendigen Mittel erreicht werden. Und Weisse, die Lynchjustiz übten, hatten keine gesetzlichen Massnahmen zu befürchten», schreibt die «Equal Justice Initiative». Das galt auch für Polizisten und Bürgermeister, die teilnahmen, obwohl die Lynchjustiz verboten war. Das Gefühl der weissen Überlegenheit, der «white supremacy», ist vielen Weissen über Generationen hinweg in Fleisch und Blut übergegangen.

Rassismus trotz Obama

Carvin Eison sollte im Dezember 2008 mit «Shadows of the Lynching Tree» zu einer internationalen Fernsehkonferenz nach Basel kommen. Kurz davor, Mitte November, rief er an und erklärte: «Ich kann nicht. Obama ist gewählt. Ich weiss nicht, wie ich den Film fertigmachen soll.» Alles war anders. Carvin Eisons grösste Hoffnung hatte sich erfüllt. Der Rassismus, so schien es, war überwunden. Der amerikanische Traum würde in Erfüllung gehen.

Eison kam dann doch. Mit einem nicht ganz fertigen Film für eine Vorführung im überfüllten «kultkino» in Basel, für eine bewegte Diskussion unter Fachkollegen und schliesslich, nach der Fertigstellung des Films, für zwei Ausstrahlungen im deutschen Fernsehen.

Heute wissen wir: die Hoffnung wurde nicht erfüllt. In Obamas Regierungszeit ist der amerikanische Rassismus aggressiver geworden. Die Weissen mit dem Überlegenheitswahn wollen wieder weisse Männer wie Donald Trump im Weissen Haus sehen. Und republikanische Gouverneure wie Mike Huckabee verweisen darauf, dass «in diesem Jahr mehr Weisse von der Polizei erschossen wurden als Schwarze und andere Minderheiten». Huckabee hat recht, wenn man nur die nackten Zahlen nimmt.

Statistik und Wahrheit

Aber die «Washington Post», die 2015 ihre eigene Statistik zu dem Thema begonnen hat, stellt nicht nur fest, dass im ersten Halbjahr 2016 mehr Schwarze von der Polizei erschossen wurden als im Vorjahr. Sie stellt auch fest, dass seit Anfang 2015 im Verhältnis zur Bevölkerungszahl 2.5mal mehr Schwarze erschossen wurden als Weisse, und dass unbewaffnete Schwarze eine fünfmal grössere «Chance» haben, von der Polizei erschossen zu werden als Weisse. Von allen unbewaffneten Männern, die von der Polizei erschossen wurden, waren 40 Prozent Schwarze, auch wenn die schwarzen Männer nur sechs Prozent der nationalen Bevölkerung ausmachen. Selbst unter schwarzen Polizisten entsteht mittlerweile da und dort der Eindruck, dass es sich dabei nicht um Fehler, sondern um Hinrichtungen handelt.

Es ist nicht die Lynchjustiz und der Mob von damals, es ist ein Teil des institutionellen Rassismus, der sich durch die Gesellschaft und das «Gewaltmonopol» des amerikanischen Staates zieht. Es ist vielleicht die immer wieder statistisch gerechtfertigte Angst vor den Schwarzen und vor der Gewalt, zu der diese Schwarzen greifen könnten, dieselbe Gewalt, die sie von den herrschenden Weissen erfahren haben, seit sie in Amerika sind.

Carvin Eison ist filmisch zurückgekehrt nach Rochester, aber er bleibt beim Thema. «Insbesondere reiche weisse Männer aus den Südstaaten», sagt er, «haben die Schwarzen immer wieder als die Verkörperung alles Bösen dargestellt, um sich selber als tugendhaft und wunderbar und rein darzustellen. Aber in Wirklichkeit haben sie nur den Hass und die Vergewaltigung und die Plünderungen und die Tötungen, die sie selber begangen haben, auf die Schwarzen übertragen.» Eison arbeitet jetzt an einem Film über die Auswirkungen des gegenwärtigen Wahlkampfs auf junge Muslime und andere Randgruppen.

Die Schatten des Galgenbaums

Die kleine, aber politisch einflussreiche, amerikanische Episkopalkirche hat im Frühjahr 2016 eine Erklärung veröffentlicht, in der sie sagt: «In einem Land, das noch immer im Schatten des Galgenbaumes lebt, sind wir aufgewühlt über die Kräfte der Gewalt, die durch die politische Rhetorik freigesetzt werden.» Es braucht offenkundig Generationen, um den alltäglichen Rassismus, der viel zu vielen Weissen in Fleisch und Blut übergegangen ist, wieder zu vertreiben. Das hiesse heute: den Rassismus vertreiben aus den gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen. «Wir weisen den götzendienerischen Gedanken zurück», sagt die Kirche, «dass wir die Sicherheit von Einigen dadurch gewährleisten, dass wir die Hoffnungen der anderen opfern.»

«Wir wollen Frieden.» Mit diesem Plakat hat sich in Dallas ein einzelner Demonstrant ganz allein vor eine Gruppe Polizisten gestellt. Er stand da für all die Menschen, die nichts anderes wollen als die einfache, alltägliche, menschliche Freiheit, unbedroht zu handeln und sich friedlich und sicher zu bewegen und zu entfalten, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion, Volkszugehörigkeit und der Farbe ihrer und unserer Haut.

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Und für alle, die es genauer wissen möchten und dieses Video noch nicht kennen: hier klicken

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Dieser Text ist am 14. Juli in der AZ Nordwestschweiz erschienen.


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2 Meinungen

  • am 15.07.2016 um 13:59 Uhr
    Permalink

    Es sei die Frage aufgeworfen, was denn die Ursache von Rassismus ist.
    Antwort: antisoziale Persönlichkeitsstörungen, auch bekannt unter der Bezeichnung Psychopathie. Die rund 1% aller Menschen welche diese Verhaltensmuster aufweisen, haben kein Gewissen. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind offensichtlich, deren neurobiologischen und psychosozialen Ursachen jedoch wenig bekannt.
    Eine kurzer und treffender CAN/USA Beitrag der das präzis beschreibt: https://goo.gl/30ZjIA

  • am 29.07.2016 um 07:43 Uhr
    Permalink

    Gut an diesem Artikel ist eigentlich nur das Eingeständnis, dass «Rassismus» auf Angst vor schwarzen (jungen Männern) beruht und diese Angst ihre guten statistischen Gründe hat. Menschen wären dumm, wenn sie aus der Statistik keine Konsequenzen ziehen würden.
    Auch die Polizei schießt fast ausschließlich dann, wenn sie sich bedroht fühlt (z.B. ein Schwarzer nach dem Gewehr des Polizisten greift).
    Wer sich vor die Polizei stellt,. um «Wir wollen Frieden» zu demonstrieren, der sollte sich auch (oder zuerst) vor die Versammungsräume der schwarzen und «hispanischen» Gangs stellen. Und wieso passiert das nicht?
    Und eine schwarze Kultur, die sich an der geringen Zahl von historischen schwarzen Lynchopfern festklammert, um sich über die proportional so große Zahl heutiger schwarzer Gewalttäter hinwegzutäuschen – das wird den Schwarzen auf Dauer nicht weiterhelfen. Selbstviktimisierung ist eine beliebte poltisch-psychologische Technik, aber eine Technik mit sinkenden Ertrag.

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