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Franz Blankart musste miterleben, wie Volk und Stände 1992 den EWR-Vertrag ablehnten. © SRF/Dok

«Es gibt in der Europa-Politik keine Tabus»

Urs Zurlinden /  Franz Blankart (76) war unser Chefunterhändler mit der EU für den EWR-Vertrag. Heute sieht er noch Chancen für den bilateralen Weg.

Herr Blankart, wie beurteilen Sie das aktuelle Bild der Schweiz im Ausland?
Franz Blankart: Das aktuelle Bild ist positiv: Die Schweiz wird als wirtschaftlich starkes, solidarisches und zusammenarbeitsfähiges Land angesehen. Zeitweise gehen wir unseren Partnern in Washington und in Brüssel auf die Nerven.
Das Verhältnis zur Europäischen Union hat sich merklich abgekühlt. Woran liegt das?
Seit 1970 verfolge ich unsere Europa-Politik. Es hat stets wieder Spannungen gegeben, zum Beispiel im Wettbewerbsrecht. Dies ist keineswegs erstaunlich, wenn Sie bedenken, dass der Wirtschaftsverkehr zwischen der Schweiz und der EU eine Milliarde Franken pro Arbeitstag beträgt.
Die EU hat nun den Tarif durchgegeben: Basis für weitere Verträge ist das EU-Recht. Eine logische Forderung?
Diese Forderung ist diskutabel, falls die Schweiz an der Ausarbeitung dieses Rechts beteiligt wird, wie dies im EWR der Fall ist.
Ist denn bei einer «dynamischen Übernahme» des EU-Rechts nicht die Souveränität in Gefahr?
Die Souveränität ist die Unmittelbarkeit gegenüber dem Völkerrecht. Diese ist nicht in Gefahr. Wichtig ist hingegen die Unabhängigkeit. Die Kunst der Diplomatie ist dafür zu sorgen, dass die gegenseitige Abhängigkeit nicht zur einseitigen Abhängigkeit wird.
Die EU will ein internationales Schiedsgericht, der Bundesrat eine nationales Überwachungsbehörde. Wer gewinnt?
Die Überwachungsbehörde und das Gericht werden nach Ansicht der EU international sein.
Die Rede ist von fremden Richtern im Land. Teilen Sie diese Bedenken?
Fremde Richter sind Personen, die in der Schweiz Recht sprechen, das ausländisch und nicht schweizerisch ist. Das ist hier, wie auch beim EWR, nicht der Fall.
Der Berner Europarechtler Thomas Cottier schlägt vor, die Überwachungsbehörde der Efta auch für die Belange der EU einzusetzen. Ein vernünftiger Kompromiss?
Dies ist möglich.
Harsche Kritik kommt aus Brüssel wegen der Ventilklausel bei der Personenfreizügigkeit. Zu Recht?
Das war ein politischer Entscheid. Es war dies meines Wissens das erste Mal, dass die Schweiz eine protektionistische Massnahme in einem Liberalisierungsvertrag ergriffen hat.
Ein Aufheben der Ventilklausel würde innenpolitisch zu einem Aufstand führen?
Kaum.
Die SVP möchte das Abkommen zur Personenfreizügigkeit neu verhandeln. Die Angst vor Überfremdung politisiert mit?
Wird die Initiative angenommen, werden die übrigen Abkommen des ersten Pakets der Guillotineklausel wegen ungültig. Dies muss man sich sehr wohl überlegen.
Ist der bilaterale Weg nun am Ende?
Nein. Doch muss eine Lösung für die Überwachung und für das Gericht gefunden werden.
Bundesbern erweckte bisher stets den Eindruck, der bilaterale Weg sei der einzig gangbare. War das klug?
Viel politisch Gesagtes ist bald wieder vergessen.
CVP-Präsident Christophe Darbellay hat kürzlich die EWR-Beitrittsdebatte neu lanciert – ein Tabubruch?
Es gibt in der Europa-Politik keine Tabus. Die Frage ist nur, ob eine vorgeschlagene Lösung vor dem Volk eine Chance hat.
Die Sympathien in der Bevölkerung für einen EU- oder EWR-Beitritt sind so klein wie noch nie. Was raten Sie?
Welche Lösung man auch vorschlägt, man muss bereit sein, sie vor dem Volk zu vertreten.
Gemäss dem früheren FDP-Präsidenten Franz Steinegger hätte der EWR-Beitritt damals vor 20 Jahren finanziell Vorteile gebracht. Stimmt das?
Ja.
Nun verlangt die EU nach den Kohäsionsmilliarden weitere finanzielle Unterstützung – als «Ausdruck der Solidarität». Zu Recht?
Alle 30 Staaten, die am EWR teilnehmen, zahlen einen Solidaritätsbeitrag. Die Schweiz befindet sich in einem EWR-ähnlichen Verhältnis.
Sie waren beim Freihandelsabkommen dabei, beim GATT, bei der EFTA und beim EWR. Welches war das für die Schweiz wichtigste Abkommen?
Der EWR.
Welche Zukunft sehen Sie für die Schweiz?
Gute Ausbildung, brauchbare Forschung, mässige Steuern und eine moderne Infrastruktur sind nebst dem Arbeitsfrieden die Grundlagen unseres Wohlstandes.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine. Das Interview erschien zuerst in der "Südostschweiz am Sonntag"

Zum Infosperber-Dossier:

EU_Schweiz

Die EU und die Schweiz

Europa ist für die Schweiz lebenswichtig. Welchen Grad an Unabhängigkeit kann die Schweiz bewahren?

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6 Meinungen

  • am 27.12.2012 um 12:26 Uhr
    Permalink

    Einverstanden. In der Europa-Frage keine Tabus. Alles andere würde die Chancen der Schweiz sinnlos eingrenzen.

    Das heisst selbstverständlich auch, dass der Vollbeitritt zur EU eine jederzeit aktivierbare Option bleiben muss, auch wenn die Zustimmung zur Zeit auf einem Allzeittief steht. Das kann sich rasch wieder ändern. Die Zeiten sind einem raschen Wandel unterworfen. Darauf muss die Schweiz reagieren können. So muss es auch kommuniziert werden, ohne die üblichen Windungen um sieben Ecken herum.

    Die Feststellung Blankarts, dass die Schweiz bereits heute faktisch EWR-Mitglied ist, muss ebenso ohne Umschweife offen gesagt werden. Die Leisetreterei führt zu nichts, ausser zur Zementierung irrealer Vorstellungen, die je länger je schwieriger veränderbar sind. Zumindest dies sollten uns die letzten 20 Jahre von ziellosem europapolitischem Dahingeplampe gelehrt haben.

    Den Mund zu halten ist die dümmste aller Varianten.

  • am 28.12.2012 um 04:07 Uhr
    Permalink

    Ich habe vor vielen, vielen Jahren, Herrn Blankart als volksfernen «Grandseigneur» der Politik kritisiert (mit aller Hochachtung für seine Verdienste – Staatssekretär wird ma nicht umsonst…) – und mich dann nie bedankt für seine freundliche Erwiderung (Chapeau!), was ich hiermit nachholen möchte. Aber seiner Meinung bin ich nach wie vor nicht, gar nicht. Und als Kommentar zu diesem Interview brauche ich nur einen einzigen Ausdruck: «Newspeak".

  • am 28.12.2012 um 11:31 Uhr
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    @) Patrick Hafner: «Newspeak» sagt mir nicht viel in diesem Zusammenhang. Das Interview reflektiert meiner Meinung nach eher die Ratlosigkeit der Elite. In solchen Situationen ist es die beste, vielleicht einzige Möglichkeit, sich alle Optionen offen zu halten, aber es ist letztlich keine Lösung des Riesenproblems, das die Schweiz im Umgang mit Europa hat.

    Jetzt rächt es sich, dass man die Sache zwei Jahrzehnte lang hat schleifen lassen und die Bilateralen Verträge noch immer als Lösung anpreist, obwohl alle wussten und wissen, dass sie eine reine Notlösung sind – unendlich bürokratisch und schwerfällig (allein das Grundsatzdokument zählt 53 Unterschriften) – und dass sie die Position der Schweiz der EU gegenüber auf Dauer schwächen statt stärken.

    Man hat 20 Jahre verplempert und verplempert jetzt weitere Jahre, indem man eine unausweichliche Grundsatzdebatte verhindert : Aussenminister und Wirtschaftsminister dekretierten, dass nicht über den CVP-Vorstoss zu einer Neuauflage des EWR diskutiert werden dürfe und auch unsere willigen Medien halten sich brav an das Dekret der Obrigkeit.

    Wir sind schon eine seltsame Demokratie geworden!

  • am 28.12.2012 um 15:52 Uhr
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    @ Fred David: Zu Newspeak zitiere ich aus Wikipedia «Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation der Bevölkerung in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken.» – wenn ich die Antworten von Staatssekretär Blankart lese, kommt mir exakt das in den Sinn.

  • am 28.12.2012 um 16:55 Uhr
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    @) Patrick Hafner: …."in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken"….Danke, damit kann ich schon mehr anfangen. Ich sage nur: «Weissgeldstrategie".

  • am 28.12.2012 um 17:07 Uhr
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    ….das vollständige Zitat aus Wikipedia heisst übrigens: «Newspeak stammt aus dem Roman «1984» von George Orwell . Es bezeichnet, die künstlich veränderten Sprache, verordnet vom herrschenden Regime….» Da kommen wir der Sache doch immer, und auf bedrückende Weise, näher.

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