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Idlib im Nordwesten Syriens © gk

Syrien und die Türkei am Rande eines offenen Kriegs?

Amalia van Gent /  Der Konflikt um Idlib in Nordsyrien eskaliert und stellt die türkisch-russische Beziehung ernsthaft auf die Probe.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat letzten Mittwoch sein Nachbarland Syrien unmissverständlich davor gewarnt, Stellungen der türkischen Armee in der nordsyrischen Provinz Idlib anzugreifen. «Sollte einer unserer Soldaten auch nur die kleinste Verletzung davontragen, so erkläre ich hier und jetzt, werden wir die syrischen Truppen überall zurückschlagen», erklärte er vor einem vollbesetzten Parlamentssaal.

Er bestätigte einmal mehr, dass die Türkei fest entschlossen sei, bis Ende Februar die syrischen Truppen jenseits aller türkischen Beobachtungsposten in Idlib zurückzudrängen: «Das werden wir auf jeden Fall tun.» Jeder Widerstand Syriens werde dabei – ob mit dem Einsatz von türkischen Bodentruppen oder der Luftwaffe – im Keim erstickt. Flugzeuge, «die heute Zivilisten bombardieren, werden nicht mehr wie bis anhin so frei herumfliegen können», fügte er erregt hinzu.

Dann schwor der türkische Präsident, das Blut der Märtyrer zu rächen: Jedes Opfer auf Seite der Türkei werde Syrien «sehr teuer» zu stehen kommen. Von Vergeltung sprach letzten Mittwoch auch der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar: Die türkischen Sicherheitskräfte in Idlib hätten den Befehl erhalten, auf jeden syrischen Angriff gnadenlose Vergeltung zu üben. Das syrische Regime wäre deshalb besser beraten, einen Angriff auf türkische Einrichtungen nicht zu wagen.

Vormarsch der syrischen Truppen

Die Erklärungen der politischen und militärischen Führung der Türkei hören sich wie eine unverhohlene Kriegserklärung an das Nachbarland an: «Wie konnte es nur so weit kommen?», fragte sich der türkische Journalist Sedat Ergin und führte die dramatische Eskalation zwischen Ankara und Damaskus auf den Vormarsch der Damaskus-treuen Truppen in Richtung Idlib zurück. Syrische Truppen haben Anfang Februar die strategisch wichtige Strasse M-5, welche die syrische Wirtschaftsmetropole Aleppo mit der Hauptstadt Damaskus verbindet, grösstenteils unter ihre Kontrolle gebracht.

Als sie auch in Richtung Saraqib voranmarschierten, sah Ankara offenbar seine roten Linien als überschritten: Das Städtchen Saraqib bildet einen Knotenpunkt zwischen der M-5 und der zweitwichtigsten Autostrasse M-4, die von Aleppo aus zum Mittelmeerhafen Latakia führt. Sollte die syrische Armee beide Strassen unter ihre Kontrolle bringen, wäre der Fall der Provinz Idlib nur noch eine Frage der Zeit. Einen Fall Idlibs zu verhindern, ist aber das erklärte Ziel Ankaras.

Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens ist der letzte Zufluchtsort der sunnitischen Opposition Syriens. Bis vor kurzem zählte sie über drei Millionen Einwohner. Mindestens die Hälfte davon waren syrische Binnenflüchtlinge, die aus ihrer angestammten Heimat aus politischen und/oder religiösen Gründen zuvor vertrieben worden waren. Neben den Zivilisten haben sich in der Provinz Idlib aber auch 50’000 bis 70’000 Rebellen verschanzt, die meisten von ihnen bewaffnete Dschihadisten der Miliz Hayat al-Scham (HTS). Um den Dschihadisten in Syrien den Garaus zu machen, hatten die Truppen Assads bereits im September 2018 die Provinz belagert und wurden dabei von iranischen Milizen und der russischen Luftwaffe unterstützt. Kurz vor der grossen Offensive verständigten sich aber der russische Präsident Wladimir Putin und sein türkischer Amtskollege Erdogan im populären russischen Tourismusressort Sotschi auf die Schaffung einer Pufferzone in Idlib.

Erdogan versprach, die HTS-Dschihadisten Idlibs abzurüsten. Als Gegenleistung blies Putin, eigentlich der Hauptakteur in Syrien, die Offensive ab. Die Türkei dürfte in der Provinz zwölf Beobachtungsposten errichten. Noch verstand sich der türkische Präsident Erdogan allgemein als der Schutzherr der Sunniten im Nahen Osten und auch als der geschickte Stratege einer Regionalmacht, der mit den «Grossen der Welt» auf gleicher Augenhöhe verhandelt.

Hunderttausende Menschen auf der Flucht

Das Sotschi-Abkommen war allerdings von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Die Türkei konnte nicht die Dschihadisten Idlibs unter ihre Kontrolle bekommen, geschweige denn, sie abrüsten. Und so sahen Al-Assad sowie die Führung in Moskau und in Teheran einen Totalangriff auf Idlib als legitimiert an. Seit letztem April wird die Provinz wieder gnadenlos bombardiert.

Der unaufhaltsame Vormarsch der syrischen Truppen seit Anfang Februar löste zudem eine beispielslose Flüchtlingswelle aus. Bis zu 700’000 Menschen sollen gemäss Angaben der UN auf der Flucht in Richtung Türkei sein. Die Flüchtlingslager sind bereits heillos überfüllt. Es regnet und die Temperaturen sinken in der Nacht auf bis zu 10 Grad Minus. «Die Menschen frieren und suchen verzweifelt, ihre Kinder am Leben zu halten», sagte ein UN-Menschenrechtskoordinator der Presse. «Das Ausmass der Krise ist unvorstellbar». Täglich kommen aber immer mehr Flüchtlinge hinzu. Sie sind die grossen Verlierer des Kriegs – einmal mehr. Die meisten von ihnen wollen raus aus Syrien. Der Fluchtweg ist ihnen aber verbaut. Denn die Türkei hat ihre Grenze mit einer drei Meter hohen Betonmauer abgeriegelt.

Die Türkei beherbergt bereits über drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Mehr will und kann sie nicht aufnehmen. Um den Vormarsch der syrischen Truppen Einhalt zu gebieten, beschloss Ankara in eigener Regie, weitere Beobachtungsposten in der Pufferzone Idlibs zu errichten.

Am 3. Februar passierte unverhofft der erste «Unfall»: Während der Errichtung eines Beobachtungspostens bei Saraqib wurden sieben türkische Soldaten und ein Zivilist bei einem Raketenangriff der syrischen Kräfte tödlich getroffen. Die Türkei antwortete mit einem Vergeltungsschlag: Gemäss Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums sollen 76 syrische Soldaten getötet worden sein.

Am 10. Februar fielen beim Militärflughafen Taftanaz nochmals fünf weitere türkische Soldaten und lösten in der türkischen Führung eine Art Panik aus. Täglich werden seither neue Truppen, neue Panzer und neue Artillerie ins Gebiet verlegt, nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums sollen in Idlib über 5’000 zusätzliche türkische Soldaten stationiert worden sein. Bei Vergeltungsschlägen der türkischen Armee sollen rund 200 syrische Soldaten umgekommen sein. Von der Türkei unterstützte Rebellen schossen ferner einen syrischen Helikopter ab. Der Vormarsch der syrischen Truppen konnte dennoch nicht aufgehalten werden.

Wie weiter?

Devlet Bahceli ist Vorsitzender der rechtsextremen MHP-Partei und wichtigster Alliierter der Regierungspartei. Ohne die Unterstützung seiner MHP könnte Erdogan nicht regieren. Bahceli forderte letzten Mittwoch die Regierung auf, die Beziehungen zu Russland neu zu überdenken und Pläne für einen «türkischen Einmarsch in Damaskus» zu entwerfen. «Die türkische Nation sollte in Damaskus einmarschieren», sagte er vor seiner MHP-Gruppe im Parlament. «Lasst uns Syrien niederbrennen, lasst uns Idlib zugrunde richten». Präsident Erdogan stellte Damaskus vorerst ein Ultimatum: Die Assad-treuen Truppen sollten sich bis Ende Februar hinter alle türkischen Beobachtungsposten zurückziehen. Oder andernfalls einen offenen Krieg mit der Türkei wagen. «Wir fordern sie auf, sich hinter der M-5-Route zurückzuziehen», erläuterte auch Verteidigungsminister Hulusi Akar.

In Wirklichkeit handelt es sich um ein Ultimatum an die Adresse Moskaus. Die Eskalation um Idlib hat die Beziehungen der Türkei und Russland ernsthaft auf die Probe gestellt, zum ersten Mal seit 2015, als die Türkei ein russisches Flugzeug abgeschossen hat. Mit der massiven Truppenkonzentration in Idlib und an der syrischen Grenze signalisiere Ankara seinen Gesprächspartnern in Moskau, dass eine bewaffnete Auseinandersetzung bei Idlib schwerwiegende Konsequenzen auch für russische Soldaten haben werde, kommentierte am Donnerstag Barcin Yinanc. «Es soll für Moskau kein leichter Sieg werden», so die Journalistin, die allgemein als gute Kennerin der türkischen Politik gilt. Ankara räumt Moskau also zwei Wochen Zeit ein, um Assad zu einer Einstellung seiner Offensive auf Idlib zu bringen.

Es gilt allgemein als unrealistisch, dass Russland tatsächlich darauf eingeht. Moskau sucht vorerst, das Säbelrasseln aus Ankara zu ignorieren, und führt die jüngste Eskalation um Idlib auf die Unfähigkeit der Türkei zurück, ihren Verpflichtungen in Idlib gerecht zu werden. Statt wie im Sotschi-Abkommen vereinbart, die islamistischen Terroristen zu entwaffnen, werden sie von Ankara unterstützt, heisst es im russischen Aussenministerium. Letztlich ist die Türkei das schwächere Bindeglied: Mehrere türkische Beobachtungsposten sind seit Ausbruch der Krise von syrischen Soldaten umstellt. Sollte der Konflikt noch weiter eskalieren, würde eine unbekannte Zahl türkischer Soldaten faktisch zu Geiseln der syrischen Kräfte werden. Wie also weiter?

Die Mehrheit der in- und ausländischen Beobachter gehen davon aus, das Drohgebaren Erdogans ziele in erster Linie darauf hin, Moskau zu einem neuen Abkommen über eine Neuaufteilung des syrischen Nordens zu zwingen. Die Türkei verspreche sich von ihrer massiven militärischen Präsenz demnach erstens, das Territorium, das sie während dreier Offensiven in den letzten Jahren mit der Macht der Waffen in Nordsyrien eingenommen hat, auf dem Verhandlungstisch mit Moskau zu vergrössern und dort die Tausenden syrischen Flüchtlinge unterzubringen. Ankara hoffe zudem, auf diese Weise das politische Geschehen im Nachbarland auch künftig mitzubestimmen.

Der türkische Präsident Erdogan ist in seinem Land als risikofreudiger Schachspieler bekannt. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 setzte er auf den Sturz Al Assads und hat Syriens unterschiedlichste bewaffnete Gruppierungen unterstützt. Sein Plan, Assad zu stürzen, ist aber nicht aufgegangen. Al Assad hat den Grossteil seines Landes unter seine Kontrolle gebracht und wird voraussichtlich auch vor Idlib nicht halt machen wollen.

Scheitert auch der neue Plan Erdogans, Moskau zu mehr Zugeständnissen zu bewegen, was dann? Die Spannung nimmt jedenfalls zu. Während das türkische Verteidigungsministerium auch am Freitag von Vergeltungsmassnahmen bei Idlib sprach, bei denen «mindestens 63 syrische Regime-Soldaten neutralisiert worden» seien, erklärte der russische Botschafter in Ankara, er habe Todesdrohungen erhalten. Die Gefahr einer direkten syrisch-türkischen Konfrontation, oder gar einer türkisch-russischen nimmt laut der «International Crisis Group» stetig zu.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

BasharalAssad

Der Krieg in Syrien

Das Ausland mischt kräftig mit: Russland, Iran, USA, Türkei, Saudi-Arabien. Waffen liefern noch weitere.

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3 Meinungen

  • am 15.02.2020 um 14:24 Uhr
    Permalink

    Sehr guter Artikel. Erdogan spielt einmal mehr ein völkerrechtswidriges und höchst gefährliches Spiel. Opfer sind Millionen Syrer, die er zu schützen vorgibt.

  • am 16.02.2020 um 09:59 Uhr
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    Der Punkt den dieser an sich sehr gut geschriebene Artikel nicht anspricht, ist dass es bei der russisch-türkischen Konfrontation nicht aufhört: einmal mehr ist der Westen indirekt via Türkei mit den islamischen Extremisten verbündet, nämlich über die NATO. Die Besetzung syrischen Territoriums durch die Türkei ist klar völkerrechtswidrig und sollte durch das Bündnis nicht gedeckt sein. Doch wenn es zum offenen Krieg mit Syrien kommt, und Russland nicht einfach aufgibt und abzieht, dann wären russische Luftschläge auf türkische Stellungen auch auf Nachschubslinien innerhalb der Türkei militärisch kaum vermeidbar. Ruft die Türkei dann die NATO an, muss der Westen wählen zwischen Bündnistreue mit Weltkrieg, oder Völkerrecht und NATO Vertragsbruch – was wiederum einen Präzedenzfall setzen würde, welcher die Osteuropäer verängstigen dürfte (denn diese hoffen auf Abschreckung Russlands durch die Drohung der NATO, und wenn sie im Zweifelsfall nicht gegen Russland antritt, dann hätte Russland in Osteuropa freie Hand – obwohl ich persönlich nicht glaube dass Russland in Osteuropa ein Interesse an weiteren Kriegen hat)

  • am 16.02.2020 um 17:42 Uhr
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    Durch Erdogans Plan, Assad zu stürzen, hat er maßgeblich zu den 3 Millionen syrischen Flüchtlingen beigetragen, die sich in der Türkei befinden. Seit Kriegsbeginn unterstützt er die schlimmsten islamistischen Terrorbanden in Syrien mit Waffen und Logistik, sogar mit dem IS hat er Geschäfte (Öl) gemacht. Und in Idlib führt er sein schmutziges «Spiel» weiter fort:
    "Erdogans Syrien-Pakt: Warum der türkische Präsident mit einem der gefährlichsten Terroristen zusammenarbeitet"
    Der US-amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky,auch im Alter von 88 Jahren von vielen Linken als scharfsinniger Beobachter gefeiert, richtete im Januar des vergangenen Jahres eine E-Mail an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
    Chomsksy warf Erdogan darin eine Doppelmoral bei der Terrorbekämpfung vor: «Die Türkei gibt dem IS die Schuld, (…) während sie selbst die Al-Nusra-Front unterstützt, die kaum anders ist."
    https://web.archive.org/web/20180802223443/https://www.huffingtonpost.de/2017/11/09/erdogan-syrien-jolani_n_18512448.html
    Al Dschaulani ist der Kopf der Nusra-Front und ohne die Waffen Erdogans wären sie schon lange besiegt. Erdogan erschafft die Flüchtlinge, mit denen er dann Europa erpresst und manche Medien «feiern» Erdogan jetzt, er würde durch seine Invasion in Syrien/Idlib die Flüchtlingswelle jetzt stoppen. Einfach nur noch irre.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Abu_Muhammad_al-Dschaulani

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