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Glaube und religiöse Werte haben im Sexualkundeunterricht nichts verloren © pixabay

Konservative Christen zensieren Klitoris

Tobias Tscherrig /  Die konservative «Stiftung Zukunft Schweiz» will mit eigenen Lehrmitteln den Sexualkundeunterricht beeinflussen.

«Wir Powergirls» und «Rakete startklar»: Das sind die Namen der neusten Sexualkunde-Lehrmittel der «Stiftung Zukunft Schweiz». Damit will die konservative Stiftung zehn bis dreizehnjährige Kinder über Sexualität aufklären. Die Publikationen kommen ansprechend daher: Niedliche Buchtitel und liebevoll gemalte Zeichnungen buhlen um ihre Gunst. Auf den ersten Blick ist wenig zu beanstanden, die Lehrmaterialien scheinen nach methodischen Standards aufgebaut, sie wirken progressiv.

Erst der zweite Blick enthüllt ihre Rückständigkeit. Die Autoren verschweigen die Klitoris und verteufeln Themen wie Selbstbefriedigung und Pornografie. Auch das Thema der sexuellen Vielfalt fällt komplett unter den Tisch. Die Sexualität von Frauen wird auf Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung reduziert. Der Aspekt der Lust ist im Lehrmittel nicht nur inexistent, er wird den Schülerinnen und Schülern abgesprochen. So steht im Buch, Selbstbefriedigung könne zu Abhängigkeit führen. Auch Abtreibung wird ausschliesslich negativ dargestellt.

Daneben bedienen die Autoren Stereotypen: So seien Mädchen schön und würden meckern. Knaben würden dagegen «Ziele anpeilen» und ihre «Ausdauer trainieren». Aus ihnen entstünden «Helden», die «was zu sagen haben». Überhaupt propagieren die Autoren die Ehe von Mann und Frau als Lebensentwurf und gehen auf keine anderen Beziehungsformen ein.

Beschwerde gegen Lehrmittel
Kein Wunder, dass dieses rückständige Denken Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan rief. Sie fürchten die Folgen, die ein derart lückenhafter und falsch gewichteter Sexualkunde-Unterricht bei Kindern und Jugendlichen hervorrufen könnte. Immerhin hat die «Stiftung Zukunft Schweiz» ihre «Lehrmittel» mit 4000 Briefen in der Deutschschweiz beworben. Wie die Stiftung erklärte, hätten bereits 300 Schulen die Lehrmittel bestellt (Stand: 29. Oktober).

Auch deshalb schrieb der nationale Dachverband «Sexuelle Gesundheit Schweiz» im Oktober einen zweiseitigen Brief an die Zürcher CVP-Regierungsrätin Silvia Steiner. Zusammengefasst heisst es darin, dass das Schulbuch dem auf Menschenrechten basierten Sexualaufklärung widerspreche. Ausserdem decke es nicht alle Themen ab, die im Lehrplan 21 verankert seien und lasse sich nicht mit den «Standards für die Sexualaufklärung in Europa» vereinbaren.

Das falsche Argument der «Frühsexualisierung»
Gegenüber der «taz» erklärte die «Stiftung Zukunft Schweiz»: «Bildliche Darstellungen, die wir für die Sexualaufklärung von Mädchen verwenden, dürfen nicht zu explizit sein. Dies, weil stark sexualisierte Bilder auf gesunde Mädchen in der Regel eine abschreckende Wirkung haben und Abwehr auslösen.» Deshalb wurde zum Beispiel die Klitoris aus den Lehrmitteln verbannt.

Mit ihrer Aussage spielt die Stiftung auf das oft gehörte und trotzdem falsche Argument der «Frühsexualisierung» an. Dabei haben Expertinnen und Experten diese Mär längst widerlegt. Schon lange ist wissenschaftlich belegt, dass Kinder von klein auf auch sexuelle Wesen sind. Ebenso klar, dass andere Lehrmittel nicht – wie oft von konservativen Kreisen befürchtet – Kinder sexualisieren möchten. «Frühsexualisierung» ist nicht mehr als ein politischer Kampfbegriff, der vor allem von rechten, konservativen und gläubigen Kreisen benutzt wird.

Die Aussage, wonach «sexualisierte Bilder» für gesunde Mädchen gefährlich seien, ist selber brandgefährlich. Sie drängt Mädchen, die diese Bilder interessant und lustvoll finden, in die ungesunde, abnormale Ecke. Von Knaben ist dagegen nicht die Rede. Das von der «Stiftung Zukunft Schweiz» herbeigezauberte Problem scheint also nur Mädchen zu betreffen.

Politik statt Sexualkunde
Im Lehrmittel steht auch, dass die «gesellschaftlichen Umwälzungen der 60er-Jahre» zu einer Fokussierung auf Lust geführt hätten. Das sei eine einseitig-männliche Messlatte, woraus fehlende Achtung vor dem anderen und eine Überforderung der Schülerinnen und Schüler resultieren könne.

Nicht nur deshalb wird der Leserin und dem Leser der Lehrmittel bald klar, worum es der «Stiftung Zukunft Schweiz» wirklich geht: nicht etwa um Sexualkundeunterricht, sondern um die Verbreitung der eigenen Ansichten und Werte. Die «Stiftung Zukunft Schweiz» hat sich zwar einen fortschrittlichen Namen gegeben, wirbt darunter aber für ihre stockkonservativen Überzeugungen. Sie kämpft zum Beispiel für das Abtreibungsverbot, gegen die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Transgender-Menschen, für ein traditionelles Familien- und Rollenbild, gegen Sterbehilfe, Migration, Flüchtlinge und den Islam. Dabei wird die Stiftung nicht müde zu betonen, sie setze sich für eine Respektierung der Menschenrechte ein.

Fundamentalisten kämpfen gegen Fundamentalisten
Die «Stiftung Zukunft Schweiz» wurde von Hansjürg Stückelberger als Reaktion auf die «zunehmende Islamisierung auch in unserem Land und in Europa» gegründet. Der Pfarrer der Reformierten Kirche ist auch Gründer von «Christian Solidarity International», einem internationalen christlichen Hilfswerk, dass sich für verfolgte Christen einsetzt.

Stückelberger ist umstritten, er sah sich dem Vorwurf der Religionshetze und der Nähe zu fundamentalistischen Islamgegnern ausgesetzt. Im Buch «Europas Aufstieg und Verrat – Wie Gott Geschichte macht» präsentierte er eine christliche Deutung der Geschichte. Darin versuchte er aufzuzeigen, «wie das christliche Gottes- und Menschenbild den Aufstieg Europas begründet» – und wie der Abstieg Europas mit dem «Verrat am biblischen Gottes- und Menschenbild» zusammenhängen soll. Stückelberger kämpft für die «Wiederentdeckung des christlichen Menschenbildes als Grundlage einer europäischen Leitkultur».

Inzwischen hat Stückelberger sein Präsidentenamt bei der «Stiftung Zukunft Schweiz» an Michael Freiburghaus abgetreten. Der reformierte Pfarrer nennt Kritik an der Bibel eine Sünde und tritt auch sonst in die ideologischen Fussstapfen von Stückelberger: «Unsere europäische Gesellschaft versinkt immer mehr im Chaos, wir brauchen christliche Werte, die uns für die Zukunft tragen.»

Ein Auszug aus einer seiner Predigten: «Frau und Mann sind gleichwertig, aber nicht gleichartig. Sie haben eine unterschiedliche Bestimmung. Der Mann ist das Haupt der Frau, er hat den Stichentscheid. Der Mann trägt die Hauptverantwortung. Viele können dies heute nicht mehr nachvollziehen in unserer Kultur der totalen Gleichheit der Geschlechter (…).»

Kampf um Werte auf dem Buckel der Kinder
Als Geschäftsführerin von «Stiftung Zukunft Schweiz» amtet Beatrice Gall-Vollrath, die zusammen mit Abtreibungsgegnern am sogenannten «Marsch fürs Läbe» auf die Knie fiel, um gemeinsam mit den selbsternannten «Lebensschützern» zu beten. In einer Vernehmlassungsantwort zur Änderung des Bundesgesetzes über Finanzhilfen für familienergänzenden Kinderbetreuung schrieb sie: «Die vorgeschlagenen Massnahmen zielen an der gelebten Realität der Schweizer Bevölkerung vorbei und erklären etwas zur vermeintlichen Lebenswirklichkeit, was die feministisch dominierte Gleichstellungs-Lobby für fortschrittlich hält».

Die Lehrmittel der «Stiftung Zukunft Schweiz» wurden von Regula Lehmann und Pascal Gläser verfasst. Neben ihrer Tätigkeit für die Stiftung, arbeitet Lehmann auch als Leiterin der «Elterninitiative Sexualerziehung». Die Gruppe vertritt den Standpunkt, dass Sexualerziehung Familiensache sei.

«Überlassen sie das Prägen Ihrer Kinder in Bezug auf Beziehungen, Liebe, Sexualität und Familie nicht der Schule oder der Gesellschaft», steht auf der entsprechenden Internetseite. Dazu gibt es einen Musterbrief, den besorgte Eltern als Vorlage für den Kontakt mit Lehrpersonen und Schulleitungen verwenden sollen. Beim Sexualkundeunterricht gehe es nicht nur um sachliche Fakten und Informationen, sondern auch um Wertefragen, heisst es darin. «Zudem verstärkt sich für uns der Eindruck, das teilweise unter dem Vorwand, sexuellem Missbrauch und sexuell übertragbaren Krankheiten vorzubeugen, Inhalte und Ideologien in den Schulunterricht einfliessen, die wir nicht unterstützen können (…).»

Pascal Gläser ist promovierter Philosoph. Er hat Philosophie, Ethnologie und die Geschichte Ost- und Südosteuropas studiert. Gläser studierte aber auch Theologie und arbeitet als Bildungsreferent der Diözese Augsburg. Unter anderem kümmert er sich um wertorientierte Sexualpädagogik und natürliche Familienplanung.

Auch Verlag hat klare Absichten
Die Lehrmittel der «Stiftung Zukunft Schweiz» erschienen im fontis-Verlag, einem «innovativen Verlag mit dem Ziel, durch Bücher und Medien Glauben zu wecken und Kultur zu gestalten». Der Verlag wurde von Dominik Klenk gegründet. Zwischen 2002 und 2012 leitete dieser die ökumenische Kommunität «Offensive Junger Christen». Klenk setzt sich für die Familie aus Mann und Frau sowie für ein Therapierecht für «veränderungswillige Homosexuelle» ein.

Wenn nun derart konservative Christen den Sexualkundeunterricht der Schulen vereinnahmen wollen, ist das nicht nur rückständig – sondern gefährlich. Darunter können Schülerinnen und Schüler leiden, die anhand von «christlichen Werten» nur teilweise aufgeklärt werden und dadurch Lust plötzlich als krankhaft empfinden. Sexualkundeunterricht sollte unabhängig von Religion und Glauben stattfinden. Es braucht einen kindergerechten und ganzheitlichen Unterricht – keine religiösen Dogmen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Vater, seine Tochter besuchte kürzlich zum ersten Mal den Sexualkundeunterricht.

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2 Meinungen

  • am 29.11.2018 um 01:49 Uhr
    Permalink

    «Rakete startklar – Wie aus Jungs echte Kerle werden» ! … Ein doch ziemlich deftiger Titel für ein christliches Sexualaufklärungsbuch !!! «Startklare Raketen» wecken auch bei ansonsten durchaus nüchternen Geistern lebhafte Assoziationen zu einschlägigen Vorkommnissen, welche sich in jüngerer Zeit in frommem Umfeld zugetragen haben.

    Lehrmittel – egal welcher Art – aus der Küche religiöser Fundamentalisten haben an der öffentlichen Volksschule absolut nichts verloren. Die politischen Instanzen sind deshalb angehalten, jeglicher religiöser Einflussnahme auf die Gestaltung des obligatorischen Sexualkundeunterrichts strikt Einhalt zu gebieten.

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