Japan: Vorwärts in die 30er und 40er Jahre?

Raji Steineck /  Mit Verfassungsreform zurück zu autoritären Staatsformen? Alarm im eigenen Land. Gleichgültigkeit in westlichen Medien.

Red. Raji C. Steineck ist Philosoph und Philologe. Er lehrt Japanologie an der Universität Zürich und forscht über symbolische Formen, die Geschichte der Zeitauffassungen und die kritische Theorie der Kultur.

Am 5. Januar hat Japans Regierungschef Shinzō Abe in einer Pressekonferenz die Vorbereitung einer Verfassungsreform ganz oben auf die Agenda für dieses Jahr gesetzt. Im Zentrum steht die Änderung des Artikels 9, in dem Japan dem Krieg als Mittel der Politik grundsätzlich entsagt. Im Ausland wird das, wenn überhaupt, als Anpassung an veränderte aussen- und geopolitische Realitäten wahrgenommen. Im Lande selbst weckt es jedoch starke Befürchtungen über eine Rückkehr zum autoritären Staat der 1930er und 1940er Jahre.

Pressefreiheit: Von Platz 11 auf 72 abgerutscht

Bei der angestrebten Verfassungsreform geht es keineswegs nur um die Frage, in welchem Masse Japan sich in Zukunft im Bündnis mit den USA sowie im Rahmen von UN-Missionen militärisch engagiert, sondern um den Charakter des japanischen Staatswesens und das Verhältnis von Staat und Bürgern überhaupt. Die enge Verbindung aussen- und innenpolitischer Fragen machte schon das Geheimhaltungsgesetz von 2014 deutlich, das Abe im Angesicht von wochenlangen Demonstrationen und gegen den Willen von zwei Dritteln der Bevölkerung ohne nennenswerte Diskussion durchs Parlament peitschte. In diesem Gesetz wurden die Weitergabe als «geheim» eingestufter Informationen sowie ihre Veröffentlichung unter Strafe gestellt. Nach Abe war das notwendig, um eine internationale Sicherheits-Zusammenarbeit zu ermöglichen.

Wegen vager Formulierungen im Gesetz sahen viele Bürger aber die Gefahr von willkürlichen Einschränkungen der Pressefreiheit. Und das nicht ohne Grund: Ebenfalls 2014 besetzte Abe den Chefposten des staatlichen Fernsehens NHK mit einem Verbündeten. Dieser machte dem Sender umgehend die Vorgabe, dass seine Berichte und Kommentare mit der Position der Regierung im Einklang zu sein hätten. Im internationalen Ranking der Pressefreiheit ist Japan mittlerweile von Platz 11 (2000) auf Platz 72 (2017) von 181 abgerutscht und rangiert damit noch gut 15 Ränge hinter Ländern wie Polen oder Mauretanien.

Nolens volens machte Premierminister Abe die bei der Verfassungsreform im Raum stehenden Probleme am 5. Januar selbst deutlich, indem er versicherte, dass Grundelemente wie «die Souveränität des Volkes, die Achtung der Menschenrechte und das fundamentale Ideal des Pazifismus unangetastet» bleiben sollten. Dass er das überhaupt sagen muss, liegt unter anderem daran, dass seine eigene Partei 2012 einen Entwurf für eine neue Verfassung vorgelegt hat, die an genau diese Grundelemente rührt. So koppelt sie etwa die Anerkennung der Menschenrechte mit der Einhaltung von Bürgerpflichten. Zudem gehören Abe und ein Grossteil der Abgeordneten seiner Partei Gruppierungen wie der «Japan-Konferenz» (Nippon kaigi) an, in denen Aufrufe zur Abkehr von der Demokratie Applaus finden und sogar der militärischen Rückeroberung nach dem Zweiten Weltkrieg verlorener Gebiete das Wort geredet wird. Verteidiger des Premierministers weisen allerdings die verbreiteten Bedenken, er könnte das Land zurück zur autoritären Willkürherrschaft führen, entschieden zurück und stellen ihn gar als konservativen Verteidiger der Demokratie gegen die autoritäre rechte Bewegung dar.

Die Verfassung und die «Selbstverteidigungskräfte»

Die von Abe aufgeworfene Frage, ob der sogenannte Friedensartikel der japanischen Verfassung in seiner vorliegenden Form den gegenwärtigen Realitäten noch angemessen sei, ist grundsätzlich verständlich. Zu gross ist der offensichtliche Widerspruch zwischen dem, was der Verfassungstext suggeriert – ein Land ohne Armee, das auf militärische Mittel gänzlich verzichtet – und der Wirklichkeit. Japan unterhält nicht nur verschämt «Selbstverteidigungsstreitkräfte» genannte Truppen zu Land, zur See und in der Luft, die unlängst von einer Studie der Crédit Suisse als die viertstärksten der Welt eingestuft wurden – direkt hinter den USA, Russland und China, noch vor Frankreich, Grossbritannien oder Israel. Das Land stellt zudem den USA Stützpunkte zur Verfügung, die keineswegs nur dem Schutz des zum Frieden verpflichteten Verbündeten dienen – es sei daran erinnert, dass auch die Korea- und Vietnam-Kriege wesentlich von japanischen Stützpunkten aus geführt wurden. Ausserdem beteiligt sich Japan seit den 1990er Jahren zunehmend an bewaffneten Missionen im Ausland, wenn auch bisher unter Vermeidung von Kampfeinsätzen, eine Beteiligung, die von der Regierung Abe in den letzten Jahren weiter ausgebaut wurde.

All das wurde bisher mit immer neuen regierungsamtlichen Re-interpretationen der Verfassung gedeckt. Das war nicht zuletzt deswegen möglich, weil es in Japan kein Verfassungsgericht gibt, das diese Reinterpretationen auf der Basis von Normenkontrollklagen unabhängig von tagespolitischen Interessen beurteilen könnte. Man kann also auch unabhängig von der politischen Agenda den gegenwärtigen Zustand unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als unbefriedigend empfinden. Zugleich wäre der Versuch, Übereinstimmung zwischen Verfassungstext und -wirklichkeit durch sofortige Auflösung der Streitkräfte und Neuverhandlung des Sicherheitsabkommens mit den USA wiederherzustellen, im gegenwärtigen Umfeld unrealistisch. Das geben auch Vertreter der Opposition wie der Abgeordnete der Kommunistischen Partei Japans, Koike Satoshi, unumwunden zu.

Die veränderte geopolitische Lage

Wie die Befürworter einer Verfassungsänderung betonen, lassen nicht zuletzt das zunehmend aggressive Auftreten der Nachbarländer China und Nord-Korea sowie die Haltung der Trump-Administration eher einen Ausbau als einen Abbau der militärischen Kräfte ratsam erscheinen. Angesichts der Atom- und Raketenexperimente Nord-Koreas sowie der maritimen Aufrüstungs- und Expansionspolitik Chinas sind solche Überlegungen verständlich – aber sie sind nicht zwingend. Kritiker der Abe-Regierung verweisen darauf, dass diese mit ihrem Bestreben, den japanischen Militarismus und die Expansionspolitik der 1930er und 1940er Jahre zu rechtfertigen und ein beschönigendes Bild der Vergangenheit zu zeichnen, die Verständigung mit den ehemaligen Kriegsgegnern künstlich erschwert. Im Verein mit der japanischen Aufrüstung heizt das die Konflikte weiter an, anstatt auf ihre Beruhigung hinzuwirken.

Unabhängig davon, wie man diese Fragen beurteilt, bereitet die gegenwärtige Politik Probleme bei der japanischen Beteiligung an Friedensmissionen wie jener im Süd-Sudan bis 2017: So dürfen nach der geltenden Interpretation die japanischen Sicherheitskräfte ihre Waffen nur zur Verteidigung der eigenen Verbände, nicht aber zu jener ihrer Schutzbefohlenen einsetzen. Aus den Streitkräften kommt daher auch Kritik an Abe. Dessen gegenwärtig ausgegebene Zielvorgabe, die Streitkräfte in einem Zusatz zum Friedensartikel unter Bindung an das Ziel der Selbstverteidigung zu erwähnen, empfindet man dort angesichts bereits bestehender Anforderungen als unzureichend.

Berater des Premierministers wie Tetsuo Itō, Direktor des Thinktanks Japan Policy Research Institute, antworten auf solche Kritik mit dem Hinweis, die jetzt avisierte Verfassungsänderung sei nur der erste Schritt zu einem weitergehenden Umbau. Das erklärt wiederum das bleibende Misstrauen bei den Gegnern der geplanten Reform, die den beschwichtigenden Äusserungen Abes nicht trauen, sondern ihm unterstellen, er wolle der Rückkehr zum autoritären «nationalen Verteidigungsstaat» der Kriegszeit den Weg bereiten. Ihnen ist auch noch die Äusserung von Finanzminister Tarō Asō von 2013 im Ohr, die Regierung solle von den Nazis lernen, wie man eine demokratische Verfassung aushöhle – was Asō und seine politischen Freunde als blossen Ausrutscher abtun.

Verordnete «Harmonie»

Kritiker Abes erkennen allerdings ein Muster. Sie verweisen nicht zuletzt auf das Verhalten der Regierung gegenüber der Opposition und auf Abes eigene, frühere Äusserungen. So zitiert Shūichi Yutaka, Mitherausgeber der liberalen (und im Abe-Lager verhassten) Asahi-Zeitung in einem Beitrag für die linke Wochenzeitschrift Shūkan Kinyōbi (Der Freitag) eine Einlassung Abes von 2014 vor der Budgetkommission des Parlaments. Dort hatte Abe die Idee, die Verfassung die Gewalt des Staates beschränken zu lassen, als «Vorstellung aus der Zeit des Absolutismus» bezeichnet. Yutaka stellt das in Zusammenhang mit dem Verfassungsentwurf der Regierungspartei, dessen Präambel mit dem «japanischen Staat» (statt, wie bisher, mit dem «japanischen Volk») beginnt, die «Achtung der Menschenrechte» durch die «Achtung der Harmonie» ergänzt und die Rede von der «allgemeinen Wohlfahrt» durch «den Nutzen des Staates und die öffentliche Ordnung» ersetzt. Er resümiert, Abe wolle eine Verfassung, die den Staat zum Selbstzweck und die Bürger zu Mitteln des Staates mache. Zugleich unterwerfe er sie schon jetzt seinem eigenen Urteil, so Yutaka: Abe sehe sich qua Amt als höchste Autorität in der Interpretation der Verfassung, und er halte sein Urteil spätestens durch eine nächste gewonnene Wahl für sanktioniert.

Es ist kaum realistisch, solche kritischen Beobachtungen mit dem Hinweis auf die jüngsten Äusserungen von Regierungsvertretern abzutun, die Verfassungsreform werde die Grundprinzipien der gegenwärtigen Verfassung bewahren. Zwar gibt Abe sich in letzter Zeit nach aussen zurückhaltend. Aber das hat taktische Gründe: Für die Verfassungsänderung benötigt er die Mehrzahl der Stimmen in einer Volksabstimmung, und die gegenwärtige Verfassung mitsamt dem Friedensartikel ist zum Leidwesen der Regierung im Volk ungebrochen populär. Doch Abe hat als Regierungschef vielfach gezeigt, dass er wenig von demokratischen, rechtsstaatlichen Prozesse und Werten hält. Wie die Republikaner in den USA peitscht er seine Gesetze ohne ernsthafte Diskussion durchs Parlament. Auch die Meinung der Bevölkerung zu entscheidenden Fragen ist ihm gleichgültig, solange er seine Politik dank komfortabler Mehrheiten in beiden Kammern durchsetzen kann. Diese Mehrheiten sind übrigens weniger aussagekräftig, als es scheint: In Abwesenheit einer schlagkräftigen Opposition und dank des vorherrschenden Mehrheitswahlrechts genügten Abes Koalition bei den letzten Wahlen von 2017 45 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen für eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Unterhaus – und das bei einer Wahlbeteiligung von 53,8 Prozent, der zweitniedrigsten seit Kriegsende 1945. Aktiv unterstützt wird die Regierung also von 24 Prozent der Wahlberechtigten. Inzwischen kommt es übrigens auch zu absurden Vorfällen wie der Unterdrückung von verfassungsfreundlichen Äusserungen durch Vertreter konservativer städtischer und regionaler Administrationen. Man kann den Eindruck gewinnen, für diese wie für die Regierung seien die Schützer des Rechtsstaats und der Verfassung politische Extremisten, die im Namen der Staatsräson an öffentlicher Meinungsäusserung gehindert werden müssten.

In dieser Situation wäre eigentlich eine gut informierte und kritische Berichterstattung im Ausland nötig. Seit der Niederlage 1945 achtet Japan nämlich sehr darauf, international nicht in den Ruf zu geraten, allgemein akzeptierte Normen zu verletzen. Leider haben aber die Medien im deutschsprachigen Raum dafür anscheinend weder die nötigen Ressourcen noch auch den Willen. So wurde etwa über die Massendemonstrationen gegen die Sicherheitsgesetze, die 2014 in Tokyo stattfanden, praktisch kaum berichtet. Genauso wenig wird hierzulande die Abnahme der Pressefreiheit in Japan problematisiert. Lieber pflegt man das Bild von der japanischen Harmoniekultur, auf das die Abe-Administration zukünftig ja auch die eigenen Bürger verpflichten möchte – ob sie es nun wollen oder nicht. Dass Harmonie hier wie in Russland oder China als «Gehorsam» ausbuchstabiert wird, braucht wohl nicht weiter erläutert zu werden.

Dieser Text erschien erstmals auf Geschichte der Gegenwart.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.