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Synes Ernst: Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Wer spielt, braucht ein grosses Zeitbudget

Synes Ernst. Der Spieler /  Der Boom der Gesellschaftsspiele beginnt auch die Forschung zu interessieren. Höchste Zeit. Gesicherte Erkenntnisse gibt es wenige.

Davon werden die deutschen Spielverlage noch lange träumen: Dass sich eine Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler an einer ihrer wichtigsten Veranstaltungen für das Computerspiel als wichtiges Kulturgut stark macht, wie das Angela Merkel 2017 bei der Eröffnung der weltgrössten Spielmesse Gamescon in Köln getan hat. Mit Neid verfolgen die Anbieter von Gesellschaftsspielen solche Auftritte, aber das hilft ihnen wenig. Denn immer noch fehlt ihnen jene gesellschaftliche und politische Anerkennung, welche die Computerspielbranche trotz anfänglich weitverbreiteter Ablehnung und Skepsis innert kurzer Zeit gewonnen hat.

Eigentlich müsste die Interessenorganisation Spieleverlage e.V. als «Verbund der wichtigsten Spieleverlage im deutschsprachigen Raum» dringend die politische Lobbyarbeit an die Hand nehmen. Denn sie will sich unter anderem auch «für die Anerkennung des Spiels als gesellschaftlich und sozialpädagogisch relevantes Kulturgut» einsetzen. Doch da gibt es ein Problem: Die Branche hat wenig Konkretes in der Hand, mit der sie die gesellschaftliche Bedeutung des Gesellschaftsspiels belegen könnte. Dazu bräuchte sie Studien mit den entsprechenden hieb- und stichfesten wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Eine Menge Fragen

Zu diesem Zweck müsste eine Menge Fragen beantwortet werden. Zum Beispiel diese: «Wer spielt wieviel?» Und schon beginnt die Verwirrung. Die eine Konsumentenstudie sagt, dass 65 Prozent der Deutschen Brett- und Kartenspiele spielen. Gemäss einer anderen kommen in 80 Prozent aller deutschen Familien wenigstens einmal in der Woche Gesellschaftsspiele auf den Tisch. Die Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse ihrerseits ermittelte für 2017, dass 7,9 Prozent der Deutschen in ihrer Freizeit Brettspiele spielen. Dagegen sagt der Freizeitmonitor 2018, dass 33 Prozent der Deutschen mindestens einmal im Monat beim Brett- und Kartenspiel anzutreffen seien. Oder sind es gar deren 42 Prozent, wie ein anderes Marktforschungsinstitut publiziert hat?

Mit einem solchen Datensalat lässt sich wohl kaum eine glaubwürdige Botschaft zugunsten des Spiels formulieren. Wie schwierig es jedoch ist, gerade im Bereich der Gesellschaftsspiele zu gesicherten Erkenntnissen zu kommen, zeigt Wolf Marvin Weidner indirekt mit seiner Bachelor-Arbeit «Aufschwung bei Gesellschaftsspielen als Ausdruck von Cocooing?», die er jüngst auf der Webseite Spielen.de der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Darin befasste er sich mit der Fragestellung: «Inwiefern lässt sich die wachsende Beschäftigung mit Gesellschaftsspielen in Deutschland durch einen häuslichen Lebensstil, das sogenannte ‹Cocooning›, erklären?»

Während sich Weidner bei der Beschreibung seines Forschungsgegenstandes bei den Begriffen «Gesellschaftsspielen» und «Cocooning» auf vorhandene Arbeiten abstützen kann, ist er gezwungen, bei der Definition «wachsende Beschäftigung» eigene Wege zu gehen. Denn mit den Erhebungen von Meinungs- und Marktforschungsinstituten, die ich weiter oben aus Weidners Arbeit zitiert habe, hätte sich ein «Aufschwung» nicht solide nachweisen lassen. Für eine These, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollte, wäre eine solche Basis zu dürftig gewesen.

Mehr Aufmerksamkeit

Aussagekräftigere Indizien liefert hingegen die jährlich steigende Zahl von Besucherinnen und Besuchern der Internationalen Spieltage in Essen sowie die Zunahme der dort präsentierten Neuerscheinungen. Die weltweit grösste Publikumsmesse für Gesellschaftsspiele zog im vergangenen Herbst gemäss Angaben des Organisators 190’000 spielbegeisterte Menschen an, 2012 waren es noch 149’000 gewesen. Bei den Neuheiten verzeichnete man im gleichen Zeitraum eine Steigerung von rund 800 auf rund 1400. «Dass wir so viele begeisterte Besucher aus aller Welt anziehen und so viele wunderbare Spiele präsentieren können, zeigt, dass wir in einem goldenen Zeitalter der Gesellschaftsspiele leben», sagt Dominique Metzler, Geschäftsführerin des veranstaltenden Friedhelm Merz Verlags.

Bestätigt wird dieser Trend durch die Spielehersteller, die in den vergangenen Jahren steigende Umsätze bei den Gesellschaftsspielen verzeichnen. 2018 betrug er rund 550 Millionen Euro, etwa 40 Prozent mehr als 2014. Laut einem Bericht der «Neuen Osnabrückner Zeitung» seien 2018 erstmals über 50 Millionen analoge Spiele in einem Jahr verkauft worden. Besonders stark entwickelt habe sich vor allem die wichtige Unterkategorie der familientauglichen Brett- und Aktionsspiele mit einem Plus von 18 Prozent. Die Zeitung zitiert den Vorsitzenden des Spielverlage e.V., Heinrich Hutter, mit der Feststellung, dass «der Handel den analogen Spielen (…) spürbar mehr Aufmerksamkeit geschenkt» habe. Spiele erhielten zunehmend auch mehr Präsentationsfläche in Buchhandlungen und Drogeriemarktketten.

Welt der Spiele wird erwachsener

Interessante Erkenntnisse zur Qualifizierung der Entwicklung im Bereich der Gesellschaftsspiele hat Weidner in seiner wissenschaftlichen Arbeit mit einer vertieften Analyse der weltweit umfangreichsten Spieledatenbank von BoardGamesGeek (BGG) gewonnen. «Das Wachstum an Neuerscheinungen ist nicht auf ein einzelnes Genre zurückzuführen, sondern auf allgemeines Wachstum», schreibt Weidner und fährt fort: «Dieses Wachstum geht einher mit von Spielenden subjektiv als besser empfundenen Spielen, die sich nun auch zunehmend an ein älteres Publikum richten.» Mit anderen Worten: Die Welt der Spiele wird erwachsener.

Wer spielt überhaupt? Diese Frage versucht Weidner mit Daten aus der sogenannten Zeitverwendungserhebung (ZVE) des deutschen Statistischen Bundesamts zu beantworten. Demnach beschäftigen sich über 70 Prozent der 10- bis 12-Jährigen mit Gesellschaftsspielen, bei den 12- bis 18-Jährigen sinkt diese Rate auf 31 Prozent. 47 Prozent aller Spielenden sind über 45 Jahre alt. Frauen und Männer spielen gleich gerne, ebenso wie Knaben und Mädchen. Wer sehr viel arbeitet, gehört, so Weidner, nur halb so oft zur Gruppe der Gesellschaftsspieler wie der Rest der Bevölkerung. Ob jemand viel oder wenig spielt, ist schliesslich nicht abhängig vom monatlichen Haushalteinkommen. Entscheidender ist hingegen die Antwort auf die Frage, ob jemand über die zum Spielen nötige Zeit verfügt. Weidner: «Wenn man den Spielanteil nach Berufsstatus aufteilt, erscheinen zwei Blöcke, die Arbeitsfreien wie Studenten und Senioren auf der einen und auf der anderen Seite die Erwerbstätigen.» Die einen spielen mehr, die anderen weniger.

Lebensabschnitt und Lebensstil

Die neue oder wachsende Begeisterung für Gesellschaftsspiele lasse sich kaum durch die Verbreitung des Lebensstils «Cocooning» erklären, lautet das Fazit Weidners. Die Beschäftigung mit Gesellschaftsspielen sei vielmehr «ein Ausdruck der Freizeitkultur der Mitte der deutschen Gesellschaft». Alle würden spielen, Frauen und Männer, Jung und Alt, Arm und Reich. Allerdings würden jene mehr spielen, «die viel frei verfügbare Zeit haben». Weidner: «Gesellschaftsspielen ist also eher Ausdruck eines Lebensabschnitts als eines Lebensstils.»

Weidners Ergebnisse sind nicht überraschend. Viele Menschen, mit denen ich mich übers Spielen unterhalte, sagen mir: «Ich würde sehr gerne spielen, aber ich habe einfach keine Zeit.» Sehr oft sind es junge Eltern, die neben Kindererziehung und Beruf kaum noch für anderes Zeit haben, wie etwa Spielen. Für sie hat die Studie etwas Tröstliches – sie sind mit ihrem Schicksal nicht allein. Und der betreffende Lebensabschnitt geht schliesslich auch einmal zu Ende, spätestens, wenn aus den Kindern wunderbare Gesellschaftsspielpartner geworden sind …


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

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