Moskaureisende_Front

Das war im Jahr 1957 © cc

Harte Fäuste und heisse Köpfe im Kalten Krieg

Alfons Sonderegger /  Als der Antikommunismus die Medien «blind» werden liess und die Menge im Bahnhof Zürich-Enge den Verstand verlor.

Red. Mit «Heisse Fäuste im Kalten Krieg – Antikommunistischer Krawall beim Bahnhof Zürich Enge 1957»* hat Rafael Lutz ein Stück neuere Schweizer Geschichte dokumentiert, das kaum bekannt ist. Er tut es auf spannende Weise, bringt Zeitzeugen zu Wort und zeigt auf, wie einseitig die Deutschschweizer Presse berichtet hatte.

«Landesverräter» und «Henkersknechte»

Das Buch vermittelt viel vom rigorosen Antikommunismus der 50er-Jahre, auch von der Angst vor der absolut bösen Sowjetunion, mit der Schweizer Unternehmen aber ungeniert Geschäfte machten. Dass kurz nach Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 380 junge Menschen nach Moskau zu reisen wagten, löste Entrüstung aus. Dass die Berichte über die BesucherInnen des 6. Weltjugendfestivals in Moskau (28.7. – 11.8.1957) aber an Hysterie grenzten, erstaunt. Die 380 wurden zur Gefahr für fünf Millionen Eidgenossen emporstilisiert und als «Landesverräter» und «Henkersknechte» beschimpft.
Eine der Folgen war die Gewalt am 11. August 1957 im Bahnhof Zürich Enge: Die wenigen Moskau-Heimkehrenden, die den Zug verliessen, wurden mit Schlägen malträtiert. Man warf ihre Koffer an die Bahnhofmauer; viele barsten, einige wurden angezündet. Eine junge Frau drückte man gar unter den stehenden Zug. Die Wut gipfelte in Rufen wie «Schlönd die Sauchaibe z’Tod!». In der Enge, so Lutz, erreichten die «antikommunistischen Auswüchse … einen eines Rechtsstaates und einer demokratisch-liberalen Gesellschaft unwürdigen Höhepunkt».
Doch der Reihe nach: Lutz schildert die Gründung des «Weltbundes der Demokratischen Jugend» 1945 in London – als Nachfolge der «Kommunistischen Jugendinternationalen». Alle zwei Jahre, so die Absicht, sollte es «Weltfestspiele der Jugend und Studenten» geben, erstmals 1947 in Prag. Für 1957 wurde Moskau festgelegt, was in der Schweiz im April 1956 zu Vorbereitungsgruppen führte. Im Mai wurde klar, dass 400 nach Moskau reisen sollten, 40 davon aus Zürich.
Der Herbst 1956 veränderte vieles: Zum einen zog die Suezkrise die Welt in Bann. Und am 23. Oktober stand in Ungarn das Volk auf und ersetzte die Diktatur durch eine neutrale Regierung unter Imre Nagy. Doch mit der Freiheit war es schon am 4. November vorbei – als die Sowjets die Panzer auffuhren und eine prosowjetische Regierung mit Janos Kadar installierten. Hunderte Aufständische wurden hingerichtet, Hunderttausende flohen. – Ende November begannen in Melbourne die Olympischen Sommerspiele (mit Russen); sie wurden von der Schweiz, Holland und Spanien boykottiert.
Job gekündigt

Ab April 1957 observierte die Schweiz die mutmasslichen Moskaureisenden und ihre Reisekomitees. Die Polizei sichtete deren Post, da man das Festival als blosse Sowjet-Propaganda einstufte. Dass es der Völkerverständigung dienen könnte, schien unvorstellbar. Die 380 Reisenden waren einfach Kommunisten, obwohl nur etwa 50 der PdA angehörten. Eine Folge der Observation: Noch vor der Rückkehr hatten viele die Arbeitsplatz-Kündigung im Briefkasten.
Besonders aktiv im Belauern der Moskaureisenden waren Studierende der Uni Zürich. Balz Hatt vom Kleinen und Walter Renschler vom Grossen Studentenrat stellten Antrag, nach Moskau fahrende Studenten vor ein Ehrengericht zu stellen. Beide waren in der «Studentischen Direkthilfe Schweiz-Ungarn» aktiv; Hatt arbeitete später bei der Wirtschaftsförderung, Renschler wurde Gewerkschafter und SP-Nationalrat.
«Immense Bedrohung»
Kein Land, so Lutz, habe derart hysterisch reagiert wie die Schweiz. Als die «Voix Ouvrière» meldete, in Moskau seien 46 Professoren dabei, war die Deutschschweiz erschüttert. Die «Appenzeller Zeitung» sah «eine immense Bedrohung», da diese Leute «das in Moskau eingesogene Gedankengut möglichst breitschichtig weitergeben können». Dass die offizielle Schweiz am 1. August – während des Festivals – Russlands Staatschef Bulganin in ihre Botschaft einlud, war da kein Problem.

Über das Festival mit 30’000 jungen Leuten aus 136 Ländern war in der Deutschschweiz fast nichts zu lesen – anders als in der Westschweiz und anderswo. So schrieb z.B. «Le Monde»: Die jungen Moskauer konnten «feststellen, dass die jungen ‹Kapitalisten› nicht so waren, wie ihre Propaganda sie ihnen oft zeigt, und dass diese … den Krieg ebenso hassten wie sie selbst. Bei zahlreichen Begegnungen haben Tausende von Sowjetbürger Gedanken gehört, die ihnen sehr überraschend erscheinen mussten». «Le Monde» merkte an, dass sich die Moskauer Presse über die Annäherungen geärgert habe.

«Der Zug trifft mit einer Stunde Verspätung ein»
In Zürich bereitete man sich derweil auf die Rückkehr der Moskaureisenden vor. Einer der Drahtzieher war Rechtsaussen Albert Münst, der u.a. eine Liste mit linken Uni-Professoren führte. Er arbeitete für das tendenziöse Bulletin des «Nationalen Informationszentrums», das von der «Aktion freier Staatsbürger» herausgegeben wurde. Mitorganisator der Bahnhof-Enge-Demo war auch Rolf Balsiger, späterer FDP-Gemeinderat, Mitglied der Ringier-Geschäftsleitung und langjähriger Zoo-Präsident.
Die Stadtpolizei wurde am Abend des 11. August von der NZZ informiert, dass die «Moskauwallfahrer» um 22.25 Uhr im Bahnhof Enge einträfen. Ab 18 Uhr meldete die Leucht-Wanderschrift beim HB Zürich die genaue Ankunft. Später wurde sie aktualisiert: «Der Zug trifft mit einer Stunde Verspätung … ein. Wird wohl ausser den PdA-Schutzstaffeln ein Extra-Empfangskomitee von echten ‹Schweizern› anwesend sein?»
Rund 400 Personen, meist Studenten, versammelten sich im Bahnhof. Einer war Berthold Rothschild mit einem «Vergiss Ungarn nie!»-Plakat. Im Buch schildert er, wie es ihm «immer … mulmiger zumute geworden sei, je länger er sich in der elektrisierten Masse befunden habe, die keinen kritischen Geist und keine Vernunft mehr besessen habe». Der «latente Hass» beunruhigte ihn, zumal er sah, wie Koffer ausgeleert und verbrannt wurden und wie niemand den Betroffenen beigestanden sei. Unter den Kalten Kriegern habe es Agents Provocateurs gehabt, «welche den Hass bewusst geschürt hätten». Für Rothschild war das eine Zäsur – er trat der PdA bei.
Einig waren sich die Medien bezüglich Gewalt-Auslöser: Einer der wenigen aussteigenden Moskaufahrer habe einem Demonstranten ein Ungarn-Plakat weggeschlagen. Das sei «der Funke gewesen, der die konzentrierte Spannung zur Explosion» brachte.

Einzelne Zeitungen riefen zu einer Hetzjagd auf
Die Deutschschweizer Presse zeigte viel Verständnis für die Schläger und nahm die untätige Polizei in Schutz. Es sei erfreulich, dass «in den Adern der jungen Schweizer noch immer das Blut der alten Eidgenossen fliesst». Die Zeitung «Der Bund» forderte, dass Moskaufahrer ihr Studium an Schweizer Hochschulen sofort zu beenden hätten. Und die LNN publizierte Namen und Wohnort jener vier LuzernerInnen, die in Moskau waren, und benannte die Arbeitgeber lobend, welche die vier entlassen hatten. Derweil schrieb die «Gazette de Lausanne»: «Die Polizei … wusste nicht, wie sie dem Tumult und Chaos entgegenzutreten hatte … Einige Polizisten und Detektive standen am Rande, ohne zu intervenieren.» Verhaftungen von Gewalttätern gab es keine.
Am 14. August publizierte die NZZ überraschend einen Leserbrief des deutschen Liberalen A.v.B.: «Die Ereignisse dieser letzten Tage … veranlassen mich, Ihnen zu sagen, dass ich bestürzt und entsetzt bin angesichts der von Ihnen geschürten Entartung des Antikommunismus zu bewussten persönlichen Provokationen, Ächtungen und Verfemungen, die rechtlich und vollends moralisch mit dem Geist der Schweiz, die ich in sieben Jahren zu schätzen und zu lieben gelernt habe, nichts mehr gemein haben und das Bild dieses Landes, erst recht das der NZZ, beträchtlich trüben.»
NZZ veröffentlichte Adresse und ermöglicht schwere Belästigungen

A.v.B. erwähnte auch die Hatz der NZZ auf den Marxisten Konrad Farner und zielte so auf Inlandredaktor Ernst Bieri (späterer FDP-Stadt- und Nationalrat), der u.a. einen NZZ-Text vom 13. November 1956 zu verantworten hatte, in dem es um ein Votum der PdA zum Ungarn-Aufstand ging. Da hiess es: «Vielleicht kann … Dr. Konrad Farner Auskunft geben; er ist jetzt zurück und wohnt in Thalwil an der Mühlebachstrasse 11.»
Die Adressangabe löste eine Hetzjagd auf Farner, seine Frau Martha und seine Kinder aus. Dass die Antwort der NZZ an A.v.B. von Bieri kam, wirkte wie ein böser Scherz: «Unser Blatt hat nie zu einer persönlichen Belästigung Farners aufgefordert und keine Kampagne gegen ihn als Person geführt, so wenig wie gegen andere bekannte Kommunisten.»
Die NZZ-Hetze gegen die Moskaureisenden bewog Farner zu einem Brief an Chefredaktor Bretscher, den die Zeitung «Vorwärts» am 23. August abdruckte: «Die von Angst und Hass diktierte Reaktion auf die Fahrt von 350 Jugendlichen» ist «eine nicht nur bösartige, sondern auch dumme und unfruchtbare Angelegenheit». Es habe auch Stimmen der Vernunft gegeben, schrieb Farner und zitierte die für ihn «anständigste», das katholische Basler «Volksblatt»: «Wäre da eine tapfere, mutigere Haltung nicht gesünder als die schwächliche Ängstlichkeit, die wir an den Tag legen? Was wir den Leuten im Osten zu bringen haben, ist gut … Und die Leute im Osten hungern darnach. Sie hungern nach dem kleinsten Fetzen von Kontakt.»

Nur wenige Prominente lehnten die Gewalt in der Enge öffentlich ab, so Stadtpräsident Emil Landolt und SP-Parlamentarier Otto Schütz. Derweil wiesen z.B. NZZ und LNN jede Schuld von sich und wälzten sie auf einige Radaubrüder ab. «Solche Kommunistenfeinde» würden dem Vaterland letztlich wenig dienen, meinte die LNN, «denn Pack schlägt sich, Pack verträgt sich» (16.8.1957). Dass das «Pack» aus Studenten bzw. der geistigen Elite bestand, war kein Thema.
In der Interpellationsantwort auf Fragen von Gemeinderat Edwin Burlet (PdA) anerkannte Polizeivorstand Albert Sieber (FDP) die Pflicht der Polizei, «für den Schutz der persönlichen Sicherheit und des Eigentums aller Einwohner Zürich zu sorgen». Doch zu den Schlägern sagte er nichts, da ja für den Bahnhof «in erster Linie die Bahnpolizei und die Kantonspolizei zuständig seien». Dass Steine gegen die Zugfenster flogen, habe die Polizei nicht gesehen.

Rafael Lutz ist ein eindrückliches Buch über eine angstgetriebene Schweiz der 50er-Jahre gelungen, das zu lesen sich lohnt.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor Rafael Lutz ist Redaktor beim «Tössthaler» und seit 2016 Soziologiestudent an der Universität Fribourg.

*Rafael Lutz: «Heisse Fäuste im Kalten Krieg – Antikommunistischer Krawall beim Bahnhof Zürich Enge 1957» (mit einem Vorwort von Ueli Mäder und einem Nachwort von Mario Gmür), 127 S., Limmat-Verlag, Zürich, 2019, 29.00 CHF

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4 Meinungen

  • am 27.08.2019 um 14:13 Uhr
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    Die Ängste von damals habe ich selbst erlebt. Warum wollen nun die Herren Lutz und Sonderegger die Geschichte neu einfärben? Die zitierten Schlägereien waren Ausdruck der Angst vor dem Kommunismus, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Es war damals unübersehbar, dass «einige» Sozialdemokraten ihre geistige Heimat in Moskau wussten. Die Wallfahrten vieler prominenter Sozialdemokraten in den 70-er Jahren nach Moskau und Ostberlin (Weber Präs. Ständerat, Hubacher Präs. SPS, usw.) zeugen davon. Die heute amtenden und wählenden Sozialdemokraten will ich mit diesen Bemerkungen nicht desavouieren. Das neu einfärben der Geschichte erleben wir doch immer wieder, auch in diesem Artikel. Dem muss widersprochen werden. Ich erinnere an Bergier, dessen halbintellektuelle Zujubler, der Sache schon längst nicht mehr ganz so sicher sind.

  • am 27.08.2019 um 15:08 Uhr
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    Es war fast wie heute die Jagd auf die SVP-Anhänger!

  • am 28.08.2019 um 00:15 Uhr
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    Herr Geissmann, Sie wollen mit Ihrem Kommentar offensichtlich die unhaltbaren kriminellen Übergriffe von damals – die jeder Rechtsstaatlichkeit spotten – rechtfertigen. Aber Rechtfertigung gibt es keine. Der von NZZ und FDP geschürte Hass gegen Andersdenkende scheint Sie auch heute nicht stören, nach Fichenskandal (meine Fiche umfasste 97 Seiten) und anderen Entgleisungen des Schweizer «Rechtsstaates». Ganz offensichtlich sind Sie wenig lernfähig.

  • am 29.08.2019 um 08:57 Uhr
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    @Alois Amrein. Mit ihren Worten bewegen Sie sich weit entfernt von meinem Gedankengut. Die „Realität des Rechtsstaates“ ist mir sehr wohl bewusst. Auch die Geschichtsschreibung des linken Dünkels ist mir bewusst. Wer die Geschichte umdeuten, verherrlichen oder verdammen will, verpasst die Gegenwart. Dem bleiben wichtige Vorboten der Zukunft verborgen. Ich hoffe, dass Sie meiner Lernfähigkeit folgen können und mit der Last der Fichen abschliessen können, ihrer Gesundheit und inneren Freiheit zu liebe.

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