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Synes Ernst: Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Wenn die Karten zu wandern beginnen

Synes Ernst. Der Spieler /  Misty» aus dem Schweizer Verlag Helvetiq ist ein Kartenlegespiel mit besonderem Dreh.

«Ein gutes Spiel entsteht oft aus einem kleinen Detail oder einer Alltagserfahrung», sagte Hadi Barkat in einem Gespräch mit der «bz Basel». Das war im Dezember 2018, ein halbes Jahr, bevor sein Verlag Helvetiq das kleine Kartenlegespiel «Misty» veröffentlichte, dessen Entstehungsgeschichte genau das illustriert, was der Verleger mit seiner Aussage gemeint hat. «Misty»-Autor Florian Fay erzählt nämlich in einem auf der Helvetiq-Webseite publizierten Interview: «‹Misty› hiess ursprünglich ‹Buée› (frz. für Beschlag, also wie beschlagene Fensterscheiben an einem regnerischen Tag), so hiess der Prototyp. Die Idee kam mir ganz einfach, als ich meine Kinder dabei beobachtete, wie sie mit ihren Fingern auf den beschlagenen Fensterscheiben zeichneten. Ich dachte mir, dass dieses Thema interessant sein könnte. Seither stand das Thema fest. Die Mechanik hat sich hingegen stark entwickelt.»

Dass Fay mit seinem «Buée» Helvetiq gelandet ist, hat viel mit «Bandido» zu tun, dem aktuellen Renner des in Lausanne und Basel domizilierten Verlags. Bei diesem Spiel versuchen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam, einen Verbrecher am Ausbrechen aus dem Gefängnis zu hindern. «Bandido» besticht vor allem durch seine Einfachheit, das Spielerlebnis mit hohem emotionalem Potenzial sowie durch sein plakativ-klares Design. Diese drei Kriterien prägen die Philosophie des Verlags seit seiner Gründung vor elf Jahren. Als Florian Fay auf der Suche nach einem Verleger «Bandido» kennenlernte, war er überzeugt, dass sein Spiel «in diese Kollektion passen könnte». Sein Gefühl täuschte ihn nicht: Hadik und Fay wurden rasch handelseinig, und seit vergangenem Juni ist «Misty», wie «Bouée» heute heisst, auf dem Markt, ein lupenreines Helvetiq-Spiel.

Besonderer Dreh

«Misty» gliedert sich in zwei Phasen. In der ersten wählt man Karten aus seiner Hand und legt diese in einem 3mal4- oder 4mal3-Raster vor sich ab. Gemäss bestimmten Regeln wird diese Auslage von insgesamt 12 Karten in der zweiten Phase umgruppiert. Es kommt dann zur Wertung, bei welcher die Spielerin bzw. der Spieler mit der höchsten Punktzahl ermittelt wird.

Mit der Verteilung der Karten nach dem so genannten Drafting-Prinzip hat Autor Florian Fay dem Spiel einen besonderen Dreh verpasst. Beim Drafting geht es (hier) darum, dass ich sechs zufällig verteilte Karten auf die Hand bekomme. Von diesen wähle ich eine aus, die ich auslege. Die restlichen fünf Karten gebe ich an den Nachbarn zu meiner Linken weiter. Das ist seine neue Hand. Ich wiederum wähle nun eine weitere Karte aus der Hand, die ich von meinem rechten Nachbarn bekommen habe. So geht das reihum weiter, bis alle je sechs Karten in ihrem Raster abgelegt haben. Anschliessend folgt eine analoge zweite Verteilphase.

Kommunikative und emotionale Faktoren

Drafting habe «etwas Elegantes» an sich, sagt Fay in seinem eingangs erwähnten Interview und fügt bei: «Es wirkt der Zufälligkeit des Aufnahmestapels entgegen, und mit etwas Übung weiss man, welche Karten im Spiel sind, und kann seine Strategie verfeinern. Das vermittelt einem auch bei einem simplen Spiel das Gefühl eines ‹Gamers›.» Das ist tatsächlich so: Ohne das Drafting wäre «Misty» ein belangloses Legespiel. Dank des witzigen Verteil- und Auswahlprinzips kommen auch kommunikative und emotionale Faktoren ins Spiel: Ich wähle nämlich nicht unbedingt nur jene Karte, die mir im Moment am meisten nützt, sondern vielleicht jene, auf die meine Nachbarin zur Linken gerade wartet, weil sie perfekt in ihre Auslage passen würde. Gerade weil Drafting jedes Spiel auf einfachste Art und Weise bereichert, ist es derzeit bei Autoren und Redaktionen sehr beliebt. Zu Recht, wie ich meine.

Herausfordernd bei «Misty» sind jedoch nicht nur die taktische Kartenwahl und ebenso taktische Ablage, sondern auch das, was in der Spielanleitung als «Kartenaktivierungsphase» bezeichnet wird. Der technische Begriff umschreibt zwar exakt, was auf dem Tisch passiert, wird aber der Idee nicht ganz gerecht, die dahinter steckt: Der Autor wollte nämlich damit umsetzen, was ihn zu diesem Spiel inspiriert hatte – das Wandern der auf einer beschlagenen Fensterscheibe gezeichneten Figuren.

Dies ist in «Misty» prächtig gelungen. Regentropfen und Blätter fallen, Ballone und Raketen steigen hoch, Traktoren, Lastwagen, Trottinetts bewegen sich seitwärts. Entsprechend verschieben sich die Karten in der Auslage je nach ihren Symbolen um einen Platz nach rechts, links, oben oder unten. Benachbarte Karten werden beim Verschieben verdeckt und zählen bei der Wertung nicht mehr, ebenso Karten, die wegen Randlage aus dem Raster fallen und vom Fenster verschwinden. Und aufgepasst: Da gibt es noch das böse Monster, das mir die schönen Blumen wegfrisst, sofern es mir nicht gelungen ist, es vorher mit einer anderen Karte abzudecken und auf diese Weise unschädlich zu machen. Ziel der Schieberei ist es, möglichst viele Karten zu aktivieren, da nur solche in der Wertung zählen. Für bestimmte Karten gibt es sogar zusätzliche Punkte. Diese sollte man unbedingt bis zum Schluss schützen.

Eine Art von Schiebe-Puzzle

Ich sehe in dieser zweiten Phase von «Misty» eine Art von Schiebe-Puzzle, wie wir es von unserer Jugend her kennen. Hier wie dort ist es entscheidend, welches Teil bzw. welche Karte man als erstes in Bewegung setzt. Schöne Kettenreaktionen gibt es nämlich noch von allein. In der Regel stecken ein paar taktische Überlegungen dahinter. Zu diesen sind auch Kinder ab sieben Jahren durchaus in der Lage, weshalb sich «Misty» auch dank seinen klaren und einfachen Regeln und einem eingängigen Ablauf sehr gut als kleines Familienspiel eignet. Ich empfehle es aber auch deshalb, weil man sich hier zielpublikumsgerecht mit dem tollen Drafting-Prinzip vertraut machen kann.


Misty: Drafting- und Legespiel mit Karten von Florian Fay für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 7 Jahren. Verlag Helvetiq. Fr. 16.90


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

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