DelphineHorvilleur

Eine der einflussreichsten Vertreterinnen des liberalen Judentums in Europa: Delphine Horvilleur © LaMèreVeille/CC BY-SA 4.0

Das Judentum verweist auf das Offene

Jürg Müller-Muralt /  Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur legt einen inspirierenden Essay rund um Antisemitismus und Identitätspolitik vor.

Es ist auffallend: Die gängigsten antisemitischen Klischees sind in sich völlig widersprüchlich. Man warf (und wirft) den Jüdinnen und Juden im Laufe der Geschichte die unterschiedlichsten Dinge vor – und jeweils das exakte Gegenteil davon. Sie seien zu reich und zu dominant – oder aber sie seien Schmarotzer, fielen der Allgemeinheit zur Last und seien zu unterwürfig. Sie seien die Träger der Weltrevolution – oder aber die grossen Strippenzieher des Finanzkapitalismus; sie bedrohten also das herrschende System – oder sie verkörperten es geradezu idealtypisch. Und: Sie mischten sich bis zur Unkenntlichkeit in Nationen – oder sie kultivierten das Unter-sich-Bleiben.

Schwierige Identitätssuche

Doch woher kommen diese skurrilen bis wahnhaften antisemitischen Stereotype? Klar ist: Einfach ist die Suche nach «der» jüdischen Identität nicht. «Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam», sagte der Schriftsteller Franz Kafka. Und der französische Philosoph Jacques Derrida findet: «Wenn man zu wissen glaubt, was Jüdischsein bedeutet …, kann man sicher sein, dass es schon nicht mehr existiert, ja, dass es nie existiert hat.» Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur wiederum hält fest: «Ich glaube nicht, dass mein Judentum erschöpfend durch das definiert wird, was der Antisemitismus aus ihm gemacht hat. Ich glaube nicht, nur deshalb Jüdin zu sein, weil die anderen mir diese Eigenschaft zuschreiben. Aber wenn ich darlegen müsste, worin das authentische Wesen meines Judentums besteht, seine spezifische Besonderheit, der harte, von aller historischer Kontingenz befreite Kern, käme ich in Schwierigkeiten.»

In ihrem Essay mit dem Titel «Überlegungen zur Frage des Antisemitismus» geht Delphine Horvilleur den Fragen nach der Identität nach: Was heisst es, jüdisch zu sein, ohne den definierenden Blick des Antisemiten? Wo liegen die Ursprünge des Antisemitismus? Horvilleur ist eine von drei Rabbinerinnen Frankreichs und eine der einflussreichsten Vertreterinnen des liberalen Judentums in Europa. Sie gilt auch als eine der bemerkenswertesten Figuren der zeitgenössischen französischen Intellektuellenszene.

Der Unterschied zum Rassismus

Allgemein wird Antisemitismus als spezielle Form des Rassismus verstanden. Die meisten Historiker, Soziologinnen, Theologen und Psychologinnen verorten die Ursprünge der Geissel des Antisemitismus in politischen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Ursachen. Horvilleur gräbt tiefer, sie steigt in biblische Texte ein, in die Thora und in die Rabbinische Literatur. Diese «legt weder das Opfer auf sein Leid noch – und das ist sehr viel Überraschender – den Henker auf seinen Hass fest, und genau diese Verweigerung der Schicksalhaftigkeit sollten wir uns auch für die heutige Zeit zunutze machen.»

Gemäss Horvilleur gibt es einen «grundlegenden Unterschied zwischen Antisemitismus und anderen Rassismen. Letztere hassen den anderen im Allgemeinen für das, was er nicht hat». Also etwa die gleiche Hautfarbe, die gleichen Bräuche, die gleiche Sprache, die gleiche Herkunft. «Die Juden werden meist für das gehasst, was sie haben, nicht für das, was sie nicht haben.» Man wirft ihnen vor, etwas zu besitzen, was eigentlich uns zufallen sollte «und was sie offenbar unrechtmässig an sich gebracht haben.» Man könnte auch sagen, Antisemitismus sei ein Hass auf die Menschen, die wie wir sind, aber irgendwie dann doch nicht ganz: «Die Juden sind immer ein bisschen zu ähnlich und immer ein bisschen zu anders.» Dieses Ein-wenig-Anderssein erinnert uns immer daran, dass Uniformität und Einheitlichkeit in einer offenen Gesellschaft weder möglich noch wünschenswert sind, sondern gefährlich.

Identität aus der Nicht-Identität

Delphine Horvilleur geht ganz weit zurück, zum Anfang der Geschichte des Judentums und stellt fest, «die hebräische Identität interpretiert ihren Ursprung im Aufgeben einer Identität, sprich: Sie entwickelt ihre Identität aus der Nicht-Identität mit ihrem Herkunftsort.» Der allererste Hebräer, Abraham, wird in Ur geboren, im Land der Chaldäer, und folgt dem Ruf Gottes: «Der Herr sprach zu Abraham: geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.» (Genesis 12:1). Die hebräisch-jüdische Identität ist folglich mit dem Losreissen aus dem Land der Geburt verknüpft.

Juden «schaffen durchlässige Welten»

Auf der Suche nach den Spuren des Hasses wird die Autorin in den jüdischen Überlieferungen fündig, in den rabbinischen Texten, die immer wieder auch Hinweise auf die psychische Verfassung der Judenfeinde enthalten. Es ist das Uneindeutige der jüdischen Existenz, das die Antisemiten nicht gelten lassen wollen, weil Juden und Jüdinnen zwar Teil einer Gesellschaft sind, aber nicht vollständig mit dieser verschmelzen. Horvilleur drückt es so aus: In den Augen des Antisemiten «schafft der Jude durchlässige Welten, bedroht mit hybriden Mischformen die territorialen Grenzen sowie die der nationalen und oder familiären Identität. Der Jude verhindert jede klare Grenzziehung». Man verdächtigt die Juden, «dem Kollektiv eine Schwachstelle zuzufügen. Sie widersetzen sich der Einheit.» Mit anderen Worten: «Der Jude ist abgetrennt und erinnert an all das, was sich in unserer Welt sonst noch in diesem Zustand befindet. Um sich von der eigenen Unvollkommenheit zu trennen, erklärt man ihn für schuldig. Und für diese Schuld wird er zahlen müssen.»

Die Idee des Völkermords an den Juden taucht denn in der Tat bereits im Alten Testament auf. Haman, der höchste Regierungsbeamte des persischen Königs, wollte die Vernichtung des jüdischen Volkes in einem einzigen Tag durchführen (wozu es dann aber nicht kam). Seinem König erklärt Haman: «Es gibt ein Volk, das lebt verstreut und abgesondert unter allen Völkern in allen Provinzen deines Königreichs, und ihre Gesetze sind anders als die aller Völker». (Ester, 3:8). Horvilleurs Kommentar dazu: «In einem einzigen Vers bietet Haman dem Leser eine perfekte Zusammenfassung, eine zeitlose Illustrierung der im Verlauf der Geschichte gegen die Juden erhobenen Anklagen.»

Gegen klar umrissene Identitäten

Der Reinheitswahn, die Sehnsucht nach dem Ganzen, der Totalität, dem klar Definierten, nach Eindeutigkeit und Identität – dem allem entzieht sich die jüdische Existenz. Da sich «ihre Identität aus der Nicht-Identität mit ihrem Herkunftsort» entwickelt hat, verweist das Judentum auf das Offene, das Veränderbare, das Unabgeschlossene, sich Entwickelnde. Das provoziert und bedroht den Antisemiten. Diese jüdische Nichtidentität steht allen Konzepten von klar umrissenen Identitäten entgegen. Die jüdische Geschichte hat es zur Genüge gezeigt: «Die Versuchung, eins zu werden und die Gruppe zu festigen, stösst sich früher oder später immer an den Juden oder wird ‹auf ihrem Rücken›, also ihrem Ausschluss, ausgetragen», schreibt Horvilleur.

Antisemitismus als «Hass auf das Universale»

«Der Antisemitismus ist der Hass auf das Universale und gleichzeitig auf das Partikulare der modernen menschlichen Existenz», schreibt der israelische Soziologieprofessor Natan Sznaider (NZZ vom 11.06.2020) über das Buch von Delphine Horvilleur. «Die Juden verkörpern diese Existenz auf sichtbare Weise, aber im Prinzip ist ihr Problem allen Menschen gemein: Der Traum von der perfekten Assimilation ist eine uneinlösbare Illusion. In dieser Illusion zeigt sich die paradoxe Situation aller modernen Menschen, doch in den Augen der Antisemiten haben die Juden den Zustand verbreitet: Die Juden, die durchlässige Welten geschaffen haben, werden als ‹Infektionsträger› beschrieben, die alles befallen haben und die territorialen Grenzen sowie die nationale oder familiäre Identität zersetzten. Lange bevor die gegenwärtige Pandemie die Welt befiel, wurden die Juden als ‹Virus› gesehen. Die antisemitisch gefärbten ‹Hygiene-Demonstrationen›, die momentan zu beobachten sind, bestätigen nur dieses alte Narrativ.»

Antisemitismus ganz rechts und ganz links

Was Delphine Horvilleur speziell Sorgen macht, ist der Umstand, dass sich der antisemitische Reinheitswahn in die unterschiedlichsten Systeme einschleichen kann. Dass bei Rechtsradikalen der Antisemitismus konstitutiv ist, bedarf keiner weiteren Erörterung. Warum aber, so fragt Horvilleur, werden die Juden im Diskurs von Teilen der extremen Linken systematisch mit dem herrschenden Kollektiv identifiziert? «Warum gelten sie immer als privilegiert, selbst in einer Gesellschaft, in der ihre Sicherheit auf dem Spiel steht und der Antisemitismus wie in Frankreich tödliche Auswirkungen zeigt? (…) Wie kann es sein, dass die Forderung nach territorialer Souveränität, nach einer politischen und kulturellen Autonomie bei jeder ethnischen Minderheit, nur nicht bei den Juden, als berechtigt gilt?»

Verdächtige Israel-Fixierung

Verdächtig ist der Autorin auch, dass «ein Mikro-Volk und ein Mikro-Gebiet völlig unverhältnismässig die leidenschaftlichsten Debatten auf internationaler Ebene entfachen. Die Israel-Frage wird bei manchen zur fixen Idee». Sie weiss zwar auch, dass der Staat Israel, bzw. dessen Führung, am Sympathieverlust mitschuldig ist, fragt sich aber doch, weshalb der Besuch israelischer Prominenter, Künstler oder Schriftsteller etwa an europäischen Universitäten im Unterschied zu russischen, chinesischen oder iranischen Gästen nicht selten Demonstrationen auslösen.

Plädoyer gegen die Identitätspolitik

Delphine Horvilleur hat ein äusserst facettenreiches Buch geschrieben, das einen weiten Bogen spannt von religiösen Texten bis hin zur politisch-gesellschaftlichen Gegenwart. Es werden sehr viele Themen angesprochen, zu denen man gerne weitere Ausführungen gelesen hätte, was aber die kompakte Form des Essays nicht zulässt. Das Buch weist weit über das eigentliche Thema des Antisemitismus hinaus. Es ist vor allem auch ein Plädoyer gegen die Identitätspolitik, welche Menschen und Gruppen in eine einzige markante Identität hineinzwingen will. Für Horvilleur ist Identität nichts Monolithisches, das mit allem anderen auf Kollisionskurs ist, das nicht ins Konzept passt. Deshalb ist das Buch auch ein wichtiger Beitrag in einer Zeit von Abschottung, zunehmend aggressiverer nationalistischer Reflexe und immer stärker werdendem Autoritarismus.


Delphine Horvilleur: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Hanser Berlin, 2020. 141 Seiten. CHF 27.90

Weiterführende Informationen


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6 Meinungen

  • am 6.09.2020 um 15:21 Uhr
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    Worauf m.E. die liberale Autorin, respektive der Rezensent, nicht eingeht, sind die strikten Identitätsregeln, die im orthodoxeen Judentum herrschen. Man denke an Herrn Wolkenbruch, der zu seiner Schikse kam und deshalb von seiner Familie für tot erklärt erklärt wurde.

  • am 7.09.2020 um 06:15 Uhr
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    Auge um Auge, Zahn um Zahn! Diese Haltung dürfte langsam abgelegt werden und zwar von allen Völkern, denn das ist das was Unfrieden aufrecht erhält. Dass dies lange von israelischen Militärs aber gerne zelebriert wurde, um damit ein sogenanntes Gleichgewicht zu erzeugen, ist eine veraltete Strategie. Haim Omer (auch ein Israeli) vertritt das eine viel erfolgreichere Strategie in der Befriedung von konfligierenden Parteien. Er empfiehlt dies bisher vorwiegend in Familien, Gruppen und Schulen, Firmen. Die Vorgehensweise kann aber genauso für Nationen und internationale Konflikte eingesetzt werden – so man denn möchte.

  • am 8.09.2020 um 12:36 Uhr
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    Zitat aus dem Artikel: «Sie (…) fragt sich, weshalb der Besuch israelischer Prominenter, Künstler oder Schriftsteller etwa an europäischen Universitäten im Unterschied zu russischen, chinesischen oder iranischen Gästen nicht selten Demonstrationen auslösen."
    Kann der Autor dafür Beispiele nennen oder werden solche im Buch von Horvilleur aufgeführt? Wenn «nicht selten» Auftritte israelischer Gäste Demonstrationen an Unis auslösen, muss es folglich diverse davon gegeben haben. Bis zur Belegung von Horvilliers Aussage, ist diese Behauptung einer Diskriminierung unbewiesen.

  • am 21.09.2020 um 22:01 Uhr
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    Meine Bitte um ein konkretes Beispiel, die ich vor knapp zwei Wochen an dieser Stelle deponiert habe, konnte vom Autor des Artikels, Jürg Müller-Muralt, offensichtlich nicht erfüllt werden.
    Für die Behauptung, gegen jüdische Intellektuelle habe es an europäischen Universitäten «nicht selten» Demonstrationen gegeben, fehlt daher jeder Nachweis und jede Quellenangabe. Behauptungen, die nicht belegt werden können, müssen daher a priori als Fake-News betrachtet werden. Das diskreditiert nicht nur den Autor und infosperber aufs Äusserste, sondern macht den ganzen Essay von Delphine Horrvilleur fragwürdig und unglaubwürdig.

  • 06 Jürg Müller-Muralt
    am 22.09.2020 um 08:13 Uhr
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    @Arnold Fröhlich: Ich habe leider Ihre vor zwei Wochen deponierte Frage übersehen und bitte Sie um Entschuldigung. Es ist in der Tat so, dass die Autorin des rezensierten Buches keine Quelle für ihre von Ihnen erwähnte und von mir indirekt zitierte Aussage nennt. Ich vermute, dass Delphine Horvilleur nicht grosse, öffentlichkeitswirksame Demonstrationen gegen israelische Intellektuelle anspricht, sondern Proteste oder andere Unmutskundgebungen im inneruniversitären Rahmen. Dass Jüdinnen und Juden angesichts des wachsenden Antisemitismus auf derartige Vorkommnisse besonders sensibel und scharf reagieren, ist nachvollziehbar. Ich habe in meiner Rezension zudem auf ein Defizit des Buches hingewiesen: «Es werden sehr viele Themen angesprochen, zu denen man gerne weitere Ausführungen gelesen hätte, was aber die kompakte Form des Essays nicht zulässt.» Die von Ihnen angesprochene Aussage der Autorin ohne weitere Angaben in den Raum zu stellen, gehört in diese Kategorie – und das ist kritisierbar.

  • am 24.09.2020 um 10:38 Uhr
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    @J. Müller-Muralt
    Herzlichen Dank für Ihre differenzierenden Ausführungen, die ich gut nachvollziehen kann.
    Erst recht wenn die Autorin nichtöffentliche Demonstrationen gegen Jüdinnen und Juden an Universitäten meint, wäre das zu belegen. Antisemitische Aktionen gehen in der Regel von Rechtsaussen aus und dieses Milieu ist an den liberalen bis linksliberalen Unis in Europa und den USA sozusagen nicht vertreten. Darum war ich gegenüber dieser unbelegten Aussage von Horvilleur skeptisch. Ihre nun erklärende Antwort ist stichhaltig und ich nehme meine «Anklage» in aller Form zurück und bitte Sie um Entschuldigung.

    Mein Einwurf ist nicht zuletzt entstanden, weil die Kommunikation auf infosperber schlecht funktioniert. Früher bekamen die Leute, die einen Kommentar verfasst hatten, automatisch einen Link zugestellt, wenn ihr eigener Beitrag aufgeschaltet worden war, resp. wenn es weitere Einträge zum gleichen Thema gegeben hat. Diese hilfreiche und zeitsparende Funktion wurde von infosperber leider abgeschafft. Ich ging allerdings davon aus, dass wenigstens Sie als Autor eines Artikels über die eintreffenden Kommentare automatisch benachrichtigt werden. Das ist offensichtlich nicht der Fall und so entstand meinerseits das Missverständnis, Sie seien nicht in der Lage, meine Frage zu beantworten.
    Ich habe Herrn Gasche einst schriftlich angefragt, warum diese früheren automatischen Benachrichtigungen unterbleiben, aber keine Antwort erhalten.
    Mit bestem Dank und freundl. Grüssen

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