Kommentar

Im Labyrinth der Vieldeutigkeit

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsKeine. ©

Heinrich Vogler /  Ein Lektürekommentar zu Olga Tokarczuks Roman «Die Jakobsbücher».

Rohbau
«Ich wollte dieses Buch hinschmeissen.» Gestand die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk dem Sender NDR Kultur, bevor sie den Dreh raus hatte, welche Instanz den Romandampfer Die Jakobsbücher auf dem mächtigen Erzählstrom steuern soll. Die polnische Autorin hatte sich zuvor die Zähne ausgebissen an der Aufgabe, ihren uferlosen Erzählstoff zu strukturieren. Tokarczuk rettete sich mit dem folgenden Einfall aus ihrem Dilemma der totalen Unübersichtlichkeit: Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod halluziniert nun die allwissende Greisin Jenta mit dem Hauch ihrer letzten Züge die Schlüsselpassagen dieses Romans. Mit Sicherheit gibt es darüber hinaus eine auktoriale Perspektive. Also eine Stimme, die nahe bei derjenigen der Autorin selbst liegt. Schliesslich zog Tokarczuk eine Ebene in der Vergangenheitsform ein, die nicht mit Sicherheit einer einzigen Erzählinstanz zu zuordnen ist. Wie Figura zeigt, ist allein schon der Rohbau dieses Buchs hoch komplex. 

Grenzenloses Panorama

Der Kernstoff reicht von der polnischen Republik im 16. und dem Grosspolnischen Reich im 17. Jahrhundert über den zeitgenössischen Häretiker Jankiew Lejbowicz alias Jakob Frank, der vom Judentum zum Islam und schliesslich zum Christentum konvertierte. Der Roman umfasst auch Erzählebenen über den damaligen polnischen Antisemitismus in der Diaspora und die Drangsalierung von Juden durch Juden. Dazwischen sind ausgedehnte Bezüge zum Erbe der drei monotheistischen Weltreligionen eingeflochten.
Als Leser und Kritiker geht es mir ähnlich wie anfänglich der Autorin. Ich habe verschiedene Anläufe genommen, um dieses faszinierende Meisterwerk von 1200 Seiten Umfang unter der Brille des verstehenden Lesens zu fokussieren. An diesem allzu hohen Anspruch bin ich bisher – ohne ausreichende Kenntnisse der Thora und des unerschöpflichen Talmud gescheitert. Ich weiss viel zu wenig über Chassidismus, jüdische Zahlenmystik und -symbolik, über hergebrachtes und messianisches Judentum, den Panslawismus und die Sozial- und Religionsgeschichte Polens der Neuzeit. Ich verbringe seit Wochen fast soviel Zeit mit Nachschlagen im Sekundären wie mit Lektüre im Primären, dem Roman selbst.

Lesen bis sich der Nebel lichtet

Diesen Roman zu rezensieren, halte ich unter diesen Voraussetzungen für unredlich. Ich gestehe also: Auch ich habe vorerst «hingeschmissen.» Ich befreie mich einstweilen von der selbst gestellten Aufgabe, dieses Buch zu rezensieren. Und zwar frohgemut. Denn ich geniesse meine Lektüre durch die aberhundert Verzweigungen dieses wunderbar schnurrigen Labyrinths in vollen Zügen. Dieses einmalige Kunstwerk hat es in sich. Allein, wer gerade aus welcher Perspektive spricht und erzählt, ist oft ein packendes Rätsel für sich. Aber der Roman hält mich auf Kurs. Weiterlesend und wieder lesend. Ich werde sanft belehrt und gleichzeitig glänzend unterhalten in einem der bereicherndsten Bücher meines Leserlebens.
Literaturkritik beruht auf einem möglichst nachvollziehbaren Verständnis eines Textes als Voraussetzung dafür, diesen einzuordnen und schliesslich pointiert zu bewerten. Dies ist mir im jetzigen Stadium unmöglich. Also lasse ich es. Weil ich grundsätzlich noch zehn Jahre Zeit hätte es nachzuholen. So lange hat Olga Tokarczuk nämlich an der Konstruktion dieses bald harmonisch eingängigen, bald geheimnisvoll verschlossenen Werks gearbeitet. Sie hatte recherchiert, Schauplätze besucht, Berge von Quellen und Sekundärliteratur ausgewertet, mit Fachleuten korrespondiert und sie hat schliesslich den Roman niedergeschrieben. Dies nehme ich geradezu als Aufforderung davon abzusehen, Die Jakobsbücher mit ein paar hundert Zeichen weg-zu-rezensieren und wohlfeil zugespitzt zu schubladisieren.

Herkulesarbeit und Schnellschusskritik

In diesem Fall sollte die Rezeption als Dekonstruktion dieses Romans in einem angemessenen Verhältnis zur aufwendigen Schöpfung durch die Autorin stehen. Die mediale Kritik hat sich jedoch unter dem in der Branche herrschenden Zeitdruck bei diesem hochkomplexen Kunstwerk meist mit flachen Paraphrasen und Inhaltsangaben sowie mit biographischem Zierrat durchgemogelt. Dies wird diesem Roman nicht annähernd gerecht. Vor lauter loben, drohe ich aber gerade in eben diese Falle zu tappen, die es zu umschiffen gilt. Darum sei wiederholt: Ich möchte es, Stand heute, vermeiden eine weitere Oberflächenbesprechung dieses Romans in die Welt zu setzen. Ich möchte begreifen, mir im Slowup-Modus sukzessive möglichst Sinn und Verständnis dieses Buchs abgewinnen. Deshalb liegt mein Rezensionsbesteck nun in der Spüle – und ich lese weiter.
Ich verneige mich vor der herausragenden Künstlerin und Nobelpreisträgerin, die diesen aus allen Fugen wachsenden Zauberwald geschaffen und vor den inneren Augen von uns Leserinnen mit höchster Präzision inszeniert hat. So viele Vorschusslorbeeren sind der Ausnahmekünstlerin dann doch geschuldet, obwohl man nur einen Bruchteil der Spuren in dieser üppigen Romanlandschaft zu lesen und zu verstehen vermag.
Eben erst entdecke ich, beim Verfassen dieser Zeilen, dass der Roman sieben einzelne Bücher umfasst. Bertolt Brecht war auch ein firmer Bibelkenner. Aber Olga Tokarczuk stellt ihren Vorgänger diesbezüglich spielend in den Schatten. Also: lesen Sie doch auch! Es «…stärkt die Seele», wie uns Voltaire einst zu Recht versprochen hat.


Olga Tokarczuk. «Die Jakobsbücher». Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag, Zürich 2019, 1184 Seiten, bei Buchhaus.ch 54.90 CHF.

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Eine Meinung zu

  • am 16.03.2020 um 21:59 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Vogler
    ihre wunderbare «Literaturkritik» der Jakobsbücher hat mich sehr gefreut.Inbesondere so als Schlussbouquet die letzen beiden Abschnitte. Ich bin zu 2/3 fertig und auch gefesselt von diesem Buch und der polnischen Geschichte.
    mit freundlichen Grüssen
    Heinz Weber

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