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Welches Recht gilt wo? © ch.ch

Bewusstseinsspaltung des Bundesrates

Carl Baudenbacher /  Konzerninitiative und Rahmenabkommen: Gegen «koloniales» Verhalten der Schweiz, aber europäische Richter akzeptiert.

Red. Carl Baudenbacher war von 2003 bis 2018 Präsident des EFTA-Gerichtshofs, der nach dem Beitritt der drei EFTA-Mitgliedstaaten Norwegen, Island und Liechtenstein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) errichtet wurde. Seine Aufgabe war es, zusammen mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die einheitliche Anwendung des Rechts im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu sichern. Baudenbacher kritisiert, dass beim geplanten Rahmenabkommen mit der EU der EuGH letztinstanzlich über die Auslegung des bilateralen Rechts entscheiden kann.

Die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative will, dass Schweizer Unternehmen für Verstösse gegen Umweltstandards oder gegen die Menschenrechte im Ausland in der Schweiz auf Schadenersatz verklagt werden können. Mit anderen Worten sollen Schweizer Gerichte zur Beurteilung von Tatsachen zuständig werden, die sich ausserhalb des Schweizer Territoriums ereignet haben. Sie würden damit zu extraterritorialen Gerichten. Der Bundesrat lehnt die Initiative ab. Sein indirekter Gegenvorschlag sieht eine Berichterstattungspflicht für die Unternehmen vor, ohne Ausweitung ihrer Haftung.
Am 11. Oktober 2020 stellten die Blick-Redaktoren Simon Marti und Sven Zaugg Bundesrätin Karin Keller-Sutter die folgende Frage:

    «Grosse Rohstoffkonzerne etwa sind in Ländern mit laxen oder gar inexistenten Menschenrechts- und Umweltstandards tätig. Würde es sich daher nicht ziemen, dass Schweizer Unternehmen nach höheren Standards wie dem Schweizer Recht beurteilt werden?»

    Die Justizministerin antwortete:

    «Das ist eine sehr koloniale Sichtweise. Damit sagen Sie, dass die Rechtsordnung anderer Staaten jener der Schweiz unterlegen ist. Das ist anmassend. Stellen Sie sich vor, das würde Schule machen. Die Schweiz hat sich auch gewehrt, als die Amerikaner versucht haben, in unsere Rechtsordnung einzugreifen.»

US-Rechtsakt von 1789 ist Ursprung
In welchem Masse sich der Bundesrat in der Vergangenheit gegen Rechtsexport und extraterritoriale Rechtsanwendung aus Amerika zur Wehr gesetzt hat, mag hier offenbleiben. Tatsache ist, dass die USA das Ursprungsland des Gedankens sind, welcher der Konzerninitiative zugrundeliegt. Der sog. Alien Tort Claims Act von 1789 erlaubt Nicht-US-Bürgern in bestimmten Fällen, wegen der Verletzung von Menschenrechts- und Umweltstandards im Ausland vor amerikanischen Gerichten auf Schadenersatz zu klagen. Der Oberste Gerichtshof hat allerdings in den Jahren 2013 und 2018 die Möglichkeit, Unternehmen vor US-Gerichten nach diesem Gesetz wegen Menschenrechtsverletzungen im Ausland in Anspruch zu nehmen, erheblich eingeschränkt. Ob ausgerechnet ein Land von der Grösse der Schweiz hier fast im Alleingang in die Bresche springen soll, ist mehr als fraglich.

Für post-sowjetische Länder entwickelt
Vorliegend geht es indes um etwas anderes. Das sogenannte Rahmenabkommen, dessen institutionellen Regeln der Bundesrat zugestimmt hat, enthält nämlich ebenfalls eine Bestimmung, welche einem Gericht extraterritoriale Befugnisse einräumt: dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Da das «Schiedsgericht» in praktisch jedem einigermassen bedeutenden Fall den EuGH um ein verbindliches Urteil ersuchen müsste, würde dieser eine Art Verfassungsgericht der Schweiz. Und da die Schweiz nicht der EU angehört, wäre der EuGH insoweit genau so ein extraterritoriales Gericht wie es die Schweizer Gerichte im Fall einer Annahme der Konzerninitiative wären. Dass dabei andere Regelverletzungen betroffen sind als im Fall der Konzerninitiative, ändert daran nichts. Der in Rede stehende Mechanismus ist von der EU für die post-sowjetischen Staaten Ukraine, Georgien, Moldawien und Armenien entwickelt worden. Diese Staaten beziehen in erheblichen Masse Finanzhilfe von der EU und sie sollen auf diese Weise an die Ideen von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft herangeführt werden. Das «Ukraine-Modell» soll auch in nordafrikanischen Staaten des südlichen Mittelmeers exportiert werden. Hier macht sich, um mit den Worten von Frau Keller-Sutter zu sprechen, durchaus eine «koloniale Sichtweise» bemerkbar. Länder wie Marokko, Tunesien oder Ägypten sind ehemalige Kolonien bzw. Protektorate heutiger EU-Staaten. Im Zusammenhang mit den extraterritorialen Gerichten der westlichen imperialistischen Mächte in China in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist denn auch von «Kolonialisierung ohne Kolonie» die Rede.

Die Frage stellt sich, wie sich der Bundesrat im einen Fall dezidiert gegen Extraterritorialität wenden kann und im anderen ebenso dezidiert dafür ist. Mit dem Gebot der Konsistenz von Politik ist das jedenfalls nicht vereinbar.


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4 Meinungen

  • am 29.10.2020 um 12:16 Uhr
    Permalink

    "Sein indirekter Gegenvorschlag sieht eine Berichterstattungspflicht für die Unternehmen vor, ohne Ausweitung ihrer Haftung».
    LOL. Was hat das mit «Verantwortung» zu tun?
    Das wäre ja derselbe Persilschein, den bei uns schon die Banken zur genüge missbrauchen, wenn sie Gelder von Kriminellen an Hedgefonds weiterleiten, Insidertrading oder Aktienrückkäufe tätigen.
    Wir hätten gerne das wort «Verantwortung» gestrichen.
    Das sage ich doch auch gerne, wenn dann wieder mal von der «Eigenverantwortung» gefaselt wird. Der Bundesrat schob ja auch die Verantwortung für Covid-19-Massnahmen den Kantonen zu.
    Soll ich ihnen sagen was ich nach treu und Glauben sagen könnte?
    "Der Bundesrat hat gar nichts gesagt, Hinter der Maske kann ich nicht sehen, was er sagt, und eine Tonspur kann jedes «Medien outlet» drüberlegen. So. ich habe nach «gewissenhafter Analyse» eine Behauptung gemacht. Ist nicht widerlegbar, aber unwahrscheinlich. Und: wenn der BR Masken überall im «Öffentlichen Raum» verlangt, dann darf er ausser zuhause nirgends mehr ohne gesehen werden.
    Konsistenz darf höchstens von seinem Widerstand gegen Volksbegehren erwartet werden. Wirtschaftsinteressen kommen in der Hierarchie von «weiter oben».

  • am 29.10.2020 um 15:41 Uhr
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    Man kann der Konzernverantwortungs-Initiative schon eine «koloniale Sichtweise» Unterstellen. Dann trifft das aber auch für sämtliche Entwicklungshilfe zu. Oder wäre je einer auf die Idee gekommen, einem Land, welches man als ebenbürtig betrachtet, Entwicklungshilfe zukommen zu lassen? Ebenso gäbe es ohne «koloniale Sichtweise» kaum noch Berechtigung für ein Asylwesen. Man räumt ja denjenigen Asyl ein, die in ihrem Heimatland ungerechtfertigterweise verfolgt werden. Das impliziert aber, dass das Rechtswesen in diesem Land unseren Anforderungen bei weitem nicht genügen kann.

    Die Konzernverantwortungs-Initiative würde auch nicht das Mass an Extraterritorialität bedeuten, wie es eine Unterstellung der Schweiz unter den EuGH mit sich bringen würde. Denn sie würde ja nur Unternehmen mit Sitz in der Schweiz betreffen. In rein ausländische Angelegenheiten würde sie nicht eingreifen. Und sie dürfte sich auch nicht mit Details befassen, wie dies der EuGH wohl tun würde, sondern sie müsste für Aktivitäten reserviert sein, die in der Schweiz weit ausserhalb der Legalität stehen.

  • am 30.10.2020 um 09:39 Uhr
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    Ein Bundesverfassungsgericht wäre schon eine feine Sache gewesen. Wollte man aber von seiten des Bundesverwaltungsgerichts nicht. So viele neue Jobs um den «Unangemessenen Aufwand» zu betreiben ruinieren doch die Staatsfinanzen. Zudem beschäftigen die sich dann auch noch mit Bürger/Menschenrechten, statt mit deren Vermögen/Pflichten.Da springt doch nichts dabei raus.(wer den Sarkasmus nicht findet, braucht eine Sehhilfe.)

  • am 2.11.2020 um 14:15 Uhr
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    @Heierli: Sehr adäquate Vergleiche. Tolle Replik auf die Verlautbarungen von Keller-Sutter.

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