BildungsbeilageIntegration1

Wenn die Integration gelingen soll, muss die Schule sich bewegen. © Neue Zürcher Zeitung

Schule & Gesellschaft scheitern an der Integration

Jürgmeier /  «Die im Ansatz gute Idee der … Integration scheitert in der Praxis», NZZ. Wer scheitert wirklich? Die Integration oder die Schule?

Die Strategie ist beliebt – Visionen, zum Beispiel die (schulische) Integration, werden durch den Fleischwolf kaum veränderter Realitäten gequetscht, dann, derart zerhackt, zu Illusionen erklärt. So im Bildungs-Bund der NZZ am Sonntag vom 20. März 2016. Der Aufmacher «Schiffbruch einer schönen Idee» demontiert das Integrationsprojekt gleich gründlich. Da hilft es auch nichts mehr, dass Katharina Bracher auf Seite 6 die Südtiroler «Schule für alle» – in Italien wurden die Sonderschulen vor dreissig Jahren abgeschafft – feiert: «Ihre Schulabgänger gehören zu den besten Europas.» Das (Vor-)Urteil ihres Kollegen René Donzé ist gefällt. Der erklärt die «im Ansatz gute Idee der möglichst umfassenden Integration» schon auf Seite 3 für «in der Praxis» gescheitert.

Wenn nur die SchülerInnen nicht wären …

Seine Argumentation verrät – er denkt die Integration von der Institution, nicht von den lebenden Individuen her. «Das System Schule», schreibt er, «wird je länger, je stärker belastet, weil es möglichst alle Kinder integrieren muss.» Wo das Kind als «Belastung» erscheint, da rechnet die Institution offensichtlich nicht mit denen, für die sie gedacht ist. Die Schule würde aus dieser Perspektive besser funktionieren, wenn die Kinder nicht wären. Und wenn Donzé das «Credo der Gleichmacherei» bröckeln sieht, dann unterstellt er, Integration meine Anpassung an etwas Vorgegebenes, an die Institution Schule & ihre (Leistungs-)Normen.

Aber eine Schule, die alle über denselben Anforderungs- und Bewertungsleisten schlägt – weil ihr vordringlichstes Ziel nicht die Bildung aller, sondern die (Vor-)Selektion lernender Menschen für den Arbeitsmarkt ist –, macht zwingend einen (grossen) Teil der SchülerInnen zu «Defizitwesen». «Der Wahn, dass jedes Kind einem bestimmten Idealbild entsprechen müsse, führt zu immer mehr Massnahmen … Was nicht ins Idealbild passt, muss therapiert werden und dafür braucht es ein pathologisches Etikett …» Kritisiert der Leiter des Heilpädagogischen Instituts an der Universität Freiburg Gérard Bless in der NZZ am Sonntag, aber halt erst auf Seite 11 der genannten Bildungsbeilage. An der «Integration» der «Leistungsschwachen» & «Verhaltensauffälligen» mittels vielfältigster Förderprogramme & Sondermassnahmen muss die Schule, wie sie ist, scheitern, denn sie ist nicht wirklich für alle gedacht & gebaut, vielleicht sogar für die wenigsten.

Jedem Kind eine eigene Schule

Wenn die Integration gelingen, die Schule tatsächlich eine «Schule für alle» werden soll, müssen nicht nur die betroffenen Individuen, sondern vor allem auch die Institution Schule & ihre Angehörigen sich bewegen. Sonst verkommt Integration zur Unterwerfung der einen durch die anderen, des Individuums durch die Institution. Wenn die Schule zu einem Ort der Integration und des Lernens werden will, muss sie mit jeder neuen Schülerin und jedem neuen Schüler eine andere werden.

Das heisst u.a., Selektion – die in einem äusserst ambivalenten Verhältnis zu Integration steht – durch Bildungsvielfalt ersetzen. «Vergleiche nie ein Kind mit dem anderen, sondern nur jedes mit ihm selbst.» Auch das stand in der Neuen Zürcher Zeitung. Am 7. Juni 2010. Zitiert in «Noten statt Smiley» von Sabine Windlin. Geschrieben von Johann Heinrich Pestalozzi Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Begründer der Schweizer Volksschule – als Schule für alle gedacht – wusste offensichtlich bereits, dass kompetitive Bewertungskontexte Lernen nicht wirklich zu fördern vermögen. Schlimmer noch: Noten vernichten reale Lernleistungen, weil im Vergleich mit anderen immer die einen ab-, die anderen aufgewertet werden. Das führt beispielsweise zu der beklemmenden Bemerkung eines Schülers, er habe nichts gelernt, er habe immer noch eine Drei. Selbstverständlich hat (auch) dieser Schüler in einem Jahr eine ganze Menge gelernt. Allerdings: «In einer Klasse, in der das Niveau hoch ist», macht Winfried Kronig im Interview mit Sabine Windlin klar, «lernt ein Kind tendenziell mehr, bekommt dafür aber trotzdem die schlechteren Noten» (NZZ, 7.6.2010). Individuelle & kompetenzorientierte Beurteilungen beziehungsweise Portfolios demgegenüber beschränken sich darauf, SchülerInnen (und anderen) zu bestätigen, was sie (individuell) können beziehungsweise gelernt haben, statt ihnen ihre «Defizite», gemessen an einer generellen Leistungsnorm, um die Ohren zu schlagen.

Wertschätzung von Vielfalt – damit Integration doch noch gelingt

Vor allem anderen bedeutet Integration – jedem Kind eine eigene Schule. «Jedes Kind hat Anspruch auf seinen eigenen schulischen Fahrplan», schreibt Katharina Bracher in der NZZ am Sonntag vom 20.3.2016 über die Bozener Grundschule Johann Wolfgang von Goethe. Integration gelingt erst, wenn das System Schule sich diversifiziert, flexibler und vielfältiger wird, das heisst, sich auf die individuellen Voraussetzungen & Hoffnungen der SchülerInnen ausrichtet, sie zu Subjekten ihres eigenen Lernens & Lehrplans werden lässt. (Selbstorganisation & Selbstbestimmung der SchülerInnen würden auch die Lehrpersonen entlasten.) «Das Unterrichtsmodell, wonach alle Schüler zur gleichen Zeit das Gleiche machen, sei von der Forschung überholt», zitiert Katharina Bracher Franz Lemayr von der Fachstelle für Inklusion im Deutschen Bildungsressort Bozen-Südtirol. «Die Heterogenität ist dem herkömmlichen Unterrichtsmodell weit überlegen.» Das gilt nicht nur für die «schwachen», sondern für alle Lernenden. Die Individualisierung – die gerne als Fördermassnahme propagiert wird – müsste zur allgemeinen Grundlage der Schule werden, damit endlich alle von «unserer Schule» reden können.

Was für die Schule gilt, trifft auch für die Gesellschaft als Ganzes zu – es ist nicht der Integrationsgedanke, der an Wirklichkeiten scheitert, sondern vorgegebene Realitäten scheitern an der Utopie der Integration. Weil sie der Heterogenität der Individuen mit einer Monokultur von Bewertung & Entwertung entgegentritt, statt die Vielfalt von Kompetenzen & Tätigkeiten gleichermassen wertzuschätzen, auch ökonomisch. Wenn soziale Realitäten sich veränderten, könnte die vorschnell für gescheitert erklärte Integration doch noch gelingen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Jürgmeier war u.a. während vieler Jahre Lehrer/Leiter Allgemeinbildung an einer Berufsfachschule.

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Eine Meinung zu

  • am 27.03.2016 um 16:53 Uhr
    Permalink

    es geht nicht darum, für alle schülerinnen und schüler die richtige schule zu finden, sondern darum, wie die schule gestaltet werden muss, damit alle dort zur schule gehen können.
    so wie es meistenorts praktiziert wird, kann es tatsächlich nicht klappen, was jedoch kein beweis ist für das, was donzé in der nzz schreibt.
    in diesem sinne schätze ich mich glücklich, an einer oberstufe des kantons zürich zu arbeiten, die genau das credo des obigen artikels befolgt. unsere inkludierten schülerinnen und schüler (lernbehinderte, geistig behinderte, verhaltensproblematische…) möchten auf jeden fall um keinen preis mehr zurück in die sonderschule.
    untersuchungen zeigen wiederholt, dass schwache schülerinnen und schüler in einem normalen umfeld schulisch bessere lernfortschritte machen. worauf besonders geachtet werden muss ist, dass ein positives selbstwertgefühl erhalten bleibt.

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