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«Ich war kein Held in der Schule» © Der Spiegel

Die Schule macht keine Männer

Jürgmeier /  «Ein Schulsystem wie gemacht für Mädchen», titelt der «Tagesanzeiger». Sind Buben benachteiligt oder bewegen sie sich zu wenig?

Jm. «Bei der Matur überflügeln die Frauen die Männer», titelt der «Tagesanzeiger» am 24. Oktober 2017. Die neusten Zahlen bestätigen den Trend der letzten Jahre: 43.6 Prozent der Mädchen machen an einem Gymnasium, einer Berufs- oder einer Fachschule einen Mittelschulabschluss. Aber nur 33.1 Prozent der Knaben. Und schon beginnt die alte Diskussion: Werden die Knaben in der Schule von heute benachteiligt? «Ein Schulsystem wie gemacht für Mädchen. Junge Frauen profitieren von Reformen an Gymnasien und neuen Unterrichtsformen.» Schreibt der «Tagi». Oder waren die Buben immer schon dümmer, und die frühere Benachteiligung von Mädchen hat das nur verdeckt?

«Mädchen sind erfolgreicher in der Schule… In der Arbeitswelt dominieren aber weiterhin die Männer…» Konstatiert Judith Wittwer, Mitglied der Chefredaktion, in ihrem Kommentar. Und fordert mit Geschlechterblick: «In der Schule dürfen nicht nur Fleiss und Fehlerlosigkeit zählen. Die heranwachsenden Frauen sollen auch darin bestärkt werden, mutige Schritte fernab gängiger Rollenmodelle zu wagen… Nachsitzen müssen aber auch die Frauen selbst: Sie zaudern immer noch zu oft, sind Opfer ihres Perfektionismus und alter Rollenbilder.»

Fazit: Mädchen und Frauen müssen sich (noch stärker) bewegen statt in alten Weiblichkeiten zu verharren. Die Schule soll den «unterschiedlichen Voraussetzungen von Mädchen und Knaben» wieder vermehrt Rechnung tragen, die stärkere Gewichtung sprachlicher Kompetenzen und neue didaktische Arrangements – mehr Gruppenarbeiten, weniger Frontalunterricht – machen der ehemalige SP-Nationalrat Rudolf Strahm beziehungsweise die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm für das schlechtere Abschneiden der Knaben verantwortlich. Nur die Jungs und die Männer selbst – die dürfen bleiben, wie sie sind. Aber sind es nicht gerade stereotype Männlichkeitskonzepte, die Buben in der Schule scheitern lassen und das von Judith Wittwer beklagte Kürzertreten der Frauen bei der Familiengründung mit-verursachen?

«Befreiung auf das Weibliche hin ist die Voraussetzung für schulischen Erfolg» – das ist eine Kern-These des Essays «Die Schule macht keine Männer», das wir aus aktuellem Anlass noch einmal online stellen.

Schule macht keine Männer_1. Teil:
Mädchen sind die besseren SchülerInnen als Buben. Selbst in Ländern, in denen Frauen weniger Rechte haben als Männer.

Die Schule scheint ein Frauenort zu werden oder ist es schon geworden. Männliche Lehrpersonen in Primarschulen sind heute selten. Mädchen haben die besseren Schulnoten, wenn auch nicht in allen Fächern. Mehr weibliche als männliche Jugendliche schliessen Maturitätsschulen ab, und Frauen machen faktisch ebenso viele Hochschulabschlüsse (Universitäten und Fachhochschulen) wie Männer. Umgekehrt sind rund drei Viertel der SchülerInnen, die Klein- oder Sonderklassen bevölkern, Buben. Das ist nicht nur in der Schweiz so. «In 70 Prozent der Länder weltweit liefern Mädchen in der Schule bessere Leistungen ab als Buben», schreibt der Tages-Anzeiger am 23. Januar 2015 aufgrund einer Studie, welche die Schulleistungen von 1.5 Millionen Jugendlichen aus der ganzen Welt untersuchte. «Der gute Schüler ist heute ein Mädchen», bringt es der Verfasser des Standardwerks «Babyjahre» Remo Largo im Magazin vom 12. Januar 2008 auf den Punkt.

Buben werden benachteiligt oder waren immer schon dümmer
Er folgert aus diesen Fakten: «Die Mädchen werden systematisch bevorzugt, die Buben hingegen diskriminiert.» Aber es gibt in der heutigen Schule gegen Buben keine vergleichbaren strukturellen Barrieren wie früher gegen Mädchen, die während zusätzlicher Mathematikstunden der Knaben Handarbeitsunterricht hatten. Oder steht bei den Buben heute Fussball im Stundenplan, während die Mädchen ihre Rechen- und Lesekünste verbessern?

Und vor allem hat die bereits erwähnte Untersuchung von PsychologInnen der Universitäten Glasgow und Missouri gemäss Tages-Anzeiger ergeben, dass Mädchen «auch in Staaten, in denen die Rechte der Frauen stark eingeschränkt sind» besser abschneiden als Buben. Das scheint die These der Zürcher Regierungsrätin und Bildungsdirektorin Regine Aeppli zu stützen. Sie erklärt in einem Club des Schweizer Fernsehens: «Der gute Schüler war immer schon ein Mädchen, aber früher hat man die Mädchen nicht ermuntert.» Im Klartext: Buben waren immer schon dümmer, aber teilweise hat die soziale Benachteiligung des weiblichen Geschlechts das während Jahrhunderten verdeckt. In vielen Ländern sind Mädchen sogar trotz Benachteiligung schulisch erfolgreicher als Knaben. «Es besteht», fasst der Tages-Anzeiger das Fazit der ForscherInnen zusammen, «kein direkter Zusammenhang zwischen den Unterschieden bei den Schulleistungen und der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung.»

Wer keine neue (genetisch bedingte) geistige Überlegenheit – diesmal der Frauen über die Männer – postulieren will, muss die Erklärung für schulische Defizite von Buben in Geschlechterkonzepten suchen, die mehr oder weniger schulischen Erfolg versprechen. Auch weil es die Hoffnung auf Veränderbarkeit, auf die Einlösung der Gleichheitsutopie erhält.

Das «Konzept Frau» ist schulisch erfolgreicher als das «Konzept Mann»
Remo Largo stellt die These auf, nicht die Kompetenz, sondern das Verhalten lasse Schüler schlechter abschneiden als Schülerinnen. «Aber es darf nicht sein», fährt er fort, «dass die heutige Pädagogik Buben ausgrenzt, weil sie nicht so pflegeleicht sind wie Mädchen.» Dieses Stereotyp (Brave Mädchen – Störende Buben) enthält eine jener gegenderten Doppelbotschaften, die vermutlich mitverantwortlich für das Verhalten von Knaben und männlichen Jugendlichen sind. Wer die Anforderungen der Schule erfüllt, ist «pflegeleicht», und die Pflegeleichten, so die Geschlechterzuschreibung, sind die Mädchen. Buben aber, so die Aussage im Subtext, sind anders; spannender, sagen Lehrpersonen häufig, fast bewundernd, während sie sich gleichzeitig über die ewigen Störenfriede beklagen. So gerät der Knabe im Spannungsfeld der Anforderungen von Schule einerseits sowie des «Konzepts Mann» andrerseits in ein unlösbares Dilemma – entweder gute Schülerin oder Mann. Beides zusammen scheint nicht zu gehen.

Der brave Schüler wird ebenso übersehen wie die störende Schülerin
Nicht alle Buben und Mädchen entsprechen dem Geschlechterkonzept, aber der brave Schüler wird tendenziell ebenso übersehen wie die störende Schülerin. Zwei Berufslernende von mir, weiblich und männlich, hatten sich geprügelt. Gespräche mit ihnen und ZeugInnen ergeben kein wirklich eindeutiges Bild. Sicher ist – beide haben zugelangt, und vermutlich ging die erste körperliche Attacke von der Schülerin aus. Im Rahmen von zwei getrennten Gesprächen mit den beiden und ihren Lehrbetrieben verlange ich im Namen der Schule, sie müssten eine Gewaltberatung besuchen, um sich in Konflikten künftig anders verhalten zu können. Der Berufsbildner der Schülerin kann oder will sich nicht vorstellen, dass seine Lernende gewalttätig geworden ist, der Betrieb übernimmt ganz selbstverständlich die Kosten ihrer Gewaltberatung. Beim männlichen Jugendlichen verschärft der Betrieb den Druck, man prüfe die Auflösung des Lehrverhältnisses, die Gewaltberatung muss der Lernende selber bezahlen. So werden Geschlechterbilder im Kopf gegen äussere Wirklichkeiten aufrechterhalten.

In einer Berufsschulklasse von vier Schülerinnen und Schülern «stören» zwei der jungen Männer häufig; sie haben sich in der Schule angefreundet, freuen sich, wenn sie einander in einem Unterrichtsblock wieder treffen, tun sich dann meist mit unterrichtsfremden Aktivitäten hervor, und das teilweise lautstark. Ein Hintergrund ist, dass beide sehr tiefe Noten und Angst haben zu versagen. Ablenkungen und Unzuverlässigkeiten ermöglichen es ihnen, Druck und Angst zu verdrängen sowie sich im Falle des Scheiterns mit dem Satz «Wenn ich mehr gelernt hätte, hätte ich es sicher geschafft» zu trösten.

Die vier Schülerinnen ziehen sich grösstenteils in die Frauengruppe zurück, der dritte der männlichen Jugendlichen lässt sich ganz gerne von den ersten beiden mitreissen, der vierte ist häufig krank, und die Lehrpersonen beklagen sich immer wieder bei mir über die beiden «Nervensägen». Die Arbeit mit den Mädchen empfinden sie als angenehm, die beiden Jungs aber ziehen mit ihrem Verhalten einen grossen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf sich.

Was dabei untergeht:

• Dass eines der Mädchen mindestens so häufig am Handy hängt wie die beiden Jungs und auch nicht wirklich «pflegeleicht» ist.
• Dass die beiden Störer immer wieder durchaus unterrichtsbezogene Beiträge leisten, sich sehr für die Klasse engagieren und äusserst hilfsbereit gegenüber den Lehrpersonen sind.
• Dass die jungen Frauen, die zum Teil sehr passiv sind, sich hinter den beiden «Störern» verstecken und diese gerne für eigene Unzuverlässigkeiten verantwortlich machen.

Schule macht keine Männer
Es gibt Orte, die Männer machen. Fussballstadien beispielsweise. Der ehemalige französische Starspieler Zinedine Zidane musste in seinem letzten WM-Final 2006 in Berlin den Platz vorzeitig verlassen, nachdem er den Italiener Marco Materazzi mit einer Kopfattacke zu Boden geworfen hatte. Der Mix aus Fussball, Gewalt und tragischem Abgang machte ihn endgültig zum Mann und Helden, der mit genau diesem Kopfstoss mehrmals in Bronze gegossen wurde. Es gibt Orte, die Männer machen. Die Schule ist keiner von ihnen. «Ich war kein Held in der Schule.» Sagen erfolgreiche Männer nicht selten und grinsend. Sie wissen, sie wären es auch mit besseren Noten nicht geworden. Die Schule macht, so und so, keine Helden und Männer.

Ein Lehrerkollege erzählt mir, sein Bruder sei regelmässig verprügelt worden, weil er seinen Stolz auf Sechser in Zeugnis und Prüfungen gezeigt habe; er selbst habe immer tief gestapelt und sich so Haue erspart. Das heisst: Wenn Buben Männer werden wollen, dürfen sie in der Schule nicht erfolgreich sein. Das «Ich war kein Held in der Schule» ist auch ein Tribut an das «Konzept Mann». Der ehemalige Chefarzt des Zürcher Stadtspitals Triemli Oswald Oelz – der öffentlich eher als Höhenbergsteiger und Freund von Reinhold Messner bekannt geworden ist und auch schon mal mit erfrorenen Zehen posiert – macht, trotz schulischer und beruflicher Erfolge klar, was für einen Mann wirklich zählt: «Sich habilitieren», erklärt er mir 1996 in einem Gespräch für den Tages-Anzeiger, «das ist ja ganz nett, aber den Everest besteigen – das ist eine ganz andere Dimension!» Das ist männliche Initiation. «Zeigen», so Oelz, «dass man en Siebesiech isch, dass man alle Schwierigkeiten überwinden kann.»


Fussball macht Männer: Statue Zinedine Zidane und Marco Materazzi im Doha Stadium Plus Qatar (Pic by Mohan-flickr-cc)

Schule macht keine Männer_2. Teil:
Mann sein heisst, nicht Frau sein = Grundformel von Männlichkeit und eine Ursache der viel beklagten Schulschwächen von Knaben.

Lernen ist ganz grundsätzlich eine Kränkung. Lernen setzt das Eingeständnis voraus, (noch) nicht zu wissen, (noch) nicht zu können, und schon gar nicht alles. Lernen macht (auch) Angst, heisst, sich ins Ungewisse zu wagen, sich unbeholfen zu zeigen, die Kontrolle aufzugeben. Lernen macht (auch) hilfsbedürftig, bedeutet, bei der Erschliessung von Welten auf Unterstützung anderer angewiesen zu sein. Angst und Hilfsbedürftigkeit aber widersprechen dem «Konzept Mann».

Die tendenziell unterschiedlichen Reaktionen von Mädchen beziehungsweise Buben auf die Situation des Lernens müssen (auch) als Teil der Vergeschlechtlichung gesehen werden. Während Mädchen und Frauen sich mehrheitlich bemühen, bessere (Anpassungs-)Leistungen zu erbringen, begehren Buben tendenziell auf, versuchen, wie ein Mann, erlittene oder befürchtete Verletzungen durch Abwertung der Schule zu verdrängen und ungeschehen zu machen. Schule ist eh scheisse. Störendes und aggressives Verhalten kaschiert die dahinter liegende Not sowie die Angst vor dem Versagen. Leistungsschwäche, Disziplinprobleme und Gewalt sind häufig Versuche, Männlichkeit zurückzugewinnen, wo sie gefährdet ist.

Mann sein heisst, nicht Frau sein
Angst, Schwäche und Hilflosigkeit werden generell mit dem Prädikat «weiblich» in Verbindung gebracht. Die grösste Angst des Buben und Mannes ist es nach wie vor, als feminin zu gelten. Der Bub und Mann wird in Abgrenzung von «der Frau» konstituiert. Mann sein heisst, nicht Frau sein.

Während Mädchen, so Antje Schrupp, eine deutsche Journalistin und Philosophin, «kein Problem damit haben, sich mit männlichen Protagonisten zu identifizieren», hätten es Buben nie gelernt, Frauen als Vorbild zu sehen und zu akzeptieren. Sie würden Frauen immer als «Nicht-Ich», als das «Andere» wahrnehmen. Das hat auch damit zu tun, dass Frauen traditionellerweise zur Nicht-Bürgerin oder zum Kind entwertet wurden, dass sie lange im sozioökonomischen Abseits gelebt haben. Während die Befreiung «der Frau» auf das Männliche hin – wie sie in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat – mit höherem Status und mehr Macht lockt, drohen dem Mann und Helden, umgekehrt, bei der Befreiung auf das Weibliche hin der soziale und ökonomische Absturz sowie die Entwertung als «feiges Weib». Deshalb haben Männer, bisher, Geschlechtergrenzen nicht im gleichen Ausmass überschritten wie Frauen.

Wenn die Schule als öffentliche Bildungs- und Erziehungsinstitution, vergleichbar dem privaten Haus, zunehmend als weibliche Welt erscheint, müssen sich ihr Buben – in Erfüllung der Grundkonstruktion, nicht Frau sein – verweigern. Auch wenn Lehrerinnen für Buben aus den genannten Gründen keine geeigneten Identifikationsobjekte beziehungsweise Vorbilder sind, ist das nicht primär das Resultat der realen Verweiblichung des Lehrkörpers. Selbst Largo betont, die von ihm beklagte Diskriminierung der Buben habe «nichts mit dem Geschlecht der Lehrpersonen zu tun». Entscheidend ist die symbolische Verweiblichung der pädagogischen Tätigkeit beziehungsweise Institution selbst. Ähnliches gilt für den Bereich der Psychologie, den Allan Guggenbühl, selbst Psychologe, radikal weiblich konnotiert: «Der Knabe wird kastriert, wenn er sich ‹verpsychologisieren› lässt.» Schreibt er in «Männer – Mythen – Mächte». Kein Wunder, wenn sich richtige Buben und Männer gegen psychologische Hilfe und pädagogische Betreuung sträuben.

Im Film «Dangerous minds» schleudert ein Jugendlicher der Lehrerin, die ihm helfen will, entgegen: «Wie zum Teufel wollen Sie mich vor meinem Leben bewahren!» Und einer der erwähnten jugendlichen Störer verstummt in Beratungsgesprächen immer wieder. Scheinbar «verstockt» verweigert er es, darüber zu reden und nachzudenken, was ihm helfen könnte. «Das ist bei mir so.» Sagt er nur. Oder einmal gar: «Bei mir helfen nur Prügel.» In einem Gespräch mit dem Lehrbetrieb sehe ich die Trauer in seinem Gesicht, als wir auf einen Kern des Problems kommen – er traut sich nichts zu, schätzt sich selbst gering, kann Gelungenes nicht feiern, weil er nicht sieht, was er kann und ist. Ein störender Schüler auf dem langen Weg der Befreundung mit sich selbst. Er wird Hilfe noch manchmal «verhängen» oder zurückweisen, aus dem Gefühl heraus ihm sei nicht zu helfen, oder weil er glaubt, ein rechter Mann müsse das alleine schaffen.

Taten statt Worte
Das «Konzept Mann» wird – vermutlich auch als Reaktion auf den Eintritt der Frauen in die universitäre, insbesondere die geisteswissenschaftliche Welt – ins Theorie- und Intellektuellenfeindliche getrieben. Wo das Denken demokratisiert wird, studierte Frauen zur Normalität werden, verkommt die Akademisierung zur Diffamierungsformel. Da funktioniert die Konstituierung männlicher Grandiosität qua geistiger Überlegenheit nicht mehr. Da kann die Grundformel «Mann sein heisst, nicht Frau sein» nur noch durch Entwertung einstiger Männerterritorien eingelöst werden.

«Der Mann» wird jetzt, da Frauen in Haus und Öffentlichkeit das Wort ergreifen (dürfen), nicht mehr als Mann des Wortes und der Theorie, sondern als Mann der Praxis und der Tat inszeniert. «Als Mann aus dem Volk und ‹Kleinunternehmer› traut ihm die Basis mehr zu, als wenn er im akademischen Elfenbeinturm sozialisiert worden wäre», schreibt die Neue Zürcher Zeitung am 11. März 2008 über einen eben zum Stadtratskandidaten gekürten SVP-Politiker. Welcher rechte Bub möchte da noch studieren?

Das Wort, das früher Männersache war, wird, Zug um Zug, feminisiert. In dem Moment, in dem das Gespräch unter Gleichen droht, werden Männer über das Schweigen rekonstruiert. So schreibt Kolumnistin Wäis Kiani in ihrem Buch «Stirb, Susi» das verstaubte Sprichwort «Ein Mann – ein Wort, eine Frau – ein Wörterbuch» so fort: «Ein Mann redet nicht viel. Er weiss, dass Worte nichts sind als Schall und Rauch…» Und dann treibt sie die Geschlechterpsychologie auf einen neuen Höhepunkt: «Ein Mann, der älter ist als fünfundzwanzig und ständig von sich erzählt, ist fast schon eine Frau.» Ein Kompliment ist das ganz offensichtlich nicht. Da bleibt dem armen Mann und Buben nur das «Taten statt Worte», auch wenn der damit verbundene Zwang zu handeln den Zwang zur Gewalt enthält.

Schon in Goethes Faust und Wagner ist die Abwertung von Theorie und Bücherwissen, die Verschiebung von der Wissens- zur Erfahrungswelt, vom Wort zur Tat angelegt:

«Geschrieben steht: ‹Im Anfang war das Wort!›
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen…»,

sinniert Faust in seinem Studierzimmer, bis ihm der Geist zu Hilfe kommt, jetzt

«auf einmal seh ich Rat
Und schreib getrost ‹Im Anfang war die Tat›!»

Das Primat des Handelns ist zum Kern aktueller Männlichkeiten geworden, die sich am Gegenbild der intellektuellen Frau (beziehungsweise braven Schülerin) aufrichten und sich der ökonomischen Logik unterwerfen, die das Denken als das Nutzlose, das Handeln als das Verwertbare erscheinen lässt.

Befreiung auf das Weibliche hin ist die Voraussetzung für schulischen Erfolg

Die Grundformel «Mann sein heisst, nicht Frau sein» ist massgeblich für das schulische Elend der Buben verantwortlich. Am Ende des Versuchs, sich durch Entwerten feminisierter Bereiche und Zurückziehen in frauenfreie Zonen eigene männliche Orte zu retten, stehen Männer und Buben mit dem Rücken zur Wand. Sogar in der Todeszone über 8000 Metern gilt nach Albert Fredrick Mummery, der vor oder nach der Besteigung des Everest abgestürzt ist: «Jeder Berg scheint drei Stadien durchzumachen – ein unmöglicher Berg, der schwierigste Berg der Alpen, an easy day for a Lady» (Reinhold Messner: On Top – Frauen ganz oben).

Wenn sich Männer und Buben (wieder) mehr Raum verschaffen sowie bessere Chancen auf schulischen Erfolg haben wollen, bleibt ihnen, ähnlich wie den Frauen, nur die Überschreitung der Geschlechtergrenzen, das heisst die Erweiterung des «Konzepts Mann» auf das traditionell Weibliche hin.

Für die Schule bedeutet das – die männlich und tapfer kaschierten Unsicherheiten sowie Nöte von Knaben erkennen, Buben ermutigen, Ängste zu zeigen, sich, trotz Angst, ins Unsichere zu wagen, Hilfe anzunehmen und zu reden. Das heisst, die Schule muss zu einer Schule werden, die Menschen macht und sie als vielfältige Individuen wahrnimmt statt sie der schwarzweissen Dualität von Mann oder Frau zu unterwerfen.

Das Problem unserer Schule – die im täglichen Kampf um Ruhe und Aufmerksamkeit viel Lebenszeit verschwendet, von Buben, Mädchen und Lehrpersonen – und die Aufgabe, wie Lernen ganz grundsätzlich möglich wird, sind damit nicht gelöst. Eine interessante, aber auch beklemmende Frage ist beispielsweise, weshalb Buben, die in der Schule als bequem und faul gelten, sich beim Fussballtraining, zum Beispiel, mit so viel Schweiss und Herzblut reinhängen, selbst wenn die wenigsten von ihnen mit Meistertiteln oder Cupsiegen belohnt werden. Dies, obwohl Erfolg als zentrale Motivationsspritze für Lernende gilt.

Eine Schule, in der wirklich gelernt und Lernen nicht nur inszeniert wird, wäre, für Buben und Mädchen, eine ganz andere Schule. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dieser Text basiert auf dem Referat «Taten statt Worte oder Die Schule macht keine Männer» (Pädagogische Hochschule Graubünden, 10. April 2014), dem Buch «‹Tatort›, Fussball und andere Gendereien» von Jürgmeier und Helen Hürlimann, erschienen im Interact- und Pestalozzianum-Verlag, Zürich und Luzern, 2008, und, neu, dem Buch «Lernen ist meine Sache» von Bach, Eigenmann, Kübler, Jürgmeier, erschienen im hep-Verlag, Bern, 2017.


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5 Meinungen

  • am 29.10.2017 um 12:49 Uhr
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    Endlich… lange habe ich auf dieses Thema gewartet.

    Wer erzieht die Mädchen und Buben? Mehrheitlich die Frauen…. die Väter sind ja nicht da, die müssen Arbeiten. Ich empfehle mal John Bowlby und seine universitär anerkannte Mutter-Kind Bindungstheorie zu studieren. Dann wird manchem einiges klarer. Die Kluft zwischen Frauen und Männern in unserer Gesellschaft, nicht immer, aber oft, wird abreagiert an den Buben. Die weibliche Solidarität bevorzugt in der Erziehung und im Persönlichkeitsaufbau die Mädchen. Ich habe das selber erleben können im klassischen Familienmodell mit 3 Kindern. Katholisch, der Vater war die Arbeitsdrohne, Mutter regierte mit gewaltiger Hand, und gelegentlich musste der Vater dann nach der Arbeit noch die Buben abschwarten mit dem Gürtel. Der Hass der Mütter auf die dominierende Männerwelt wurde abreagiert an den Buben. Raffiniert und geschickt, schlau und hinterhältig, in Ermangelung anderer Möglichkeiten. Ich erlebte die Extremsituation als Kind, welche sich auf die Leben aller drei Kinder auswirkte. Heute wäre diese Extremsituation undenkbar, dank Kesp und anderen Organisationen welche eingreifen würden. (Ich bin Jahrgang 1959) Doch meine Arbeit im Sozialbereich belehrte mich eines besseren. Der Geschlechterkonflikt existiert immer noch, je geringer der Bildungsstand und je grösser die Existenzangst, desto präsenter ist er. Und oft zahlen die Buben den Preis dafür. Fachbeitrag: https://www.rubikon.news/artikel/traumatisierte-gesellschaft

  • am 29.10.2017 um 14:14 Uhr
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    Was bei (der Intention nach) kulturvergleichenden Studien oft vergessen geht, ist dass gerade in Ländern, in denen Gleichberechtigung angeblich weit fortgeschritten sei, auch der Anteil von Immigranten und damit von fremdsprachigen Schülern oft sehr hoch ist. Damit sind teilweise auch kulturelle Unterschiede (z.B. in Erziehungsstil und überkommenen Rolenbildern) zu erwarten.
    Zumal wenn die empirischen Studien in grösseren Städten durchgeführt werden, kann das Ergebnis dadurch stark beeinflusst sein. (Gemäss https://www.stadt-zuerich.ch/content/…/Schulerfolg_Broschuere_ABR_korr.pdf soll der Anteil an fremdsprachigen SchülerInnnen in der Stadt Zürich bereits 2008 auf über 50 Prozent gestiegen sein.)

  • am 30.10.2017 um 09:04 Uhr
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    In diesem Text kommt nach meiner Ansicht etwas ganz Wichtiges zu kurz: Es ist das Verhalten der Führungskräfte im Klassenzimmer: Da spielt es nach meiner 40 jährigen Erfahrung keine Rolle ob da eine Frau oder ein Man als Lehrperson agiert. Diese Person muss in der Lerngruppe das Sagen haben, Respekt einfordern aber auch gegenüber allen Schülerinnen und Schülern zeigen. Nur dann kann es gelingen die mutlosen zu stärken und die Widerspenstigen einzubinden. Wer sich in welchem System auch immer als Erfolgloser erlebt, zieht sich entweder zurück oder beginnt einen Kampf, den er letztlich nur verlieren kann.

  • am 1.11.2017 um 12:45 Uhr
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    Die Analysen und Meinungen, die in diesem Beitrag herausgeschält wurden, sind meines Erachtens auch richtig, aber vermutlich gibt es noch mehr Ursachen. Dass Mädchen/Frauen ganz einfach gescheiter sind als Buben/Männer … vielleicht. Aber so einfach ist es wohl nicht.

    Vielleicht ist ein wichtiger Grund ganz einfach der: Die Mädchen sind früher reifer, v.a. was soziale Kompetenz angeht. Die Buben bleiben sozusagen auf der Strecke. Vielleicht würde nur schon eine Schule helfen, die niemanden zurücklässt. Es zeigt sich ja auch, Irrtum vorbehalten, dass diejenigen Schüler erfolgreicher sind, die später (älter) eingeschult werden. Wenn letzeres stimmt, liegt es sehr nahe, dass auch ersteres zutrifft. Die immer frühere Einschulung erschwert es den Buben zusätzlich. (Verschulung des Kindergartens, zwei Pflichtjahre im Kindergarten, Krippen). Was hier Abhilfe schaffen würde, getrennte Schulen oder differenziertere Einschulung, ist ziemlich offenkundig. Aber sind Politik und Eltern bereit dafür?

    Ein anderer wichtiger Grund dürfte sein: Die sprachlich und sozial geschickteren in der heutigen Schule sind zunehmend besser dran als die technisch und mathematisch begabteren.

    Wenn es so ist, dass die Buben weniger gut abschneiden, weil sie eher aufbegehren, dann wäre das tragisch, besonders in einer Zeit, wo Aufbegehren not täte. Aber so — ein weiterer Grund —, ist es wohl auch.

    Sicher ist immerhin das: Die Schulen werden dem Wesen und Ehrgeiz der Buben immer weniger gerecht.

  • am 7.11.2017 um 19:46 Uhr
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    Vielen Dank für diese vielen klugen Gedanken. Ich finde es sehr einleuchtend, wie sie darlegen, dass die Institution Schule in Konflikt mit Männlichkeit steht, selbst aber deren ProtagonistInnen diese Form der Männlichkeit honorieren und fördern. Ich fand ihre Perspektive, deutlich zu machen, wie einerseits männliche Sozialisation ein Zwang ist, der dem Schulerfolg entgegensteht, gleichzeitig aber eine lernen von Eigenschaften, die einem erst zum ‹rechten Kerl machen› ist, nachvollziehbar und treffend. Wohl sind es denn auch gerade diese Qualifikationen (Männlichkeit), die sie zu Führungsaufgaben qualifiziert (von wegen die am besten geeigneten), insofern geht es wohl auch um die Frage, welche Eigenschaften wir gesellschaftlich wertschätzen möchte. Interessant ist da ja auch, dass gegenwärtig immer mehr Männer selber formulieren, dass sie diese Formen der Männlichkeit als Zwang erleben und dass sie selber merken, dass diese Anforderungen ihnen in Aspekten, die ihnen wichtig wären, wie bspw. dem lernen, entgegenstehen. Insofern sind diese Verhältnisse ja gegenwärtig auch brüchig. Ich hab das Essay jedenfalls mit Vergnügen gelesen!

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