Sperberauge
Alain Berset schwadroniert. Simone Hulliger kapituliert.
Die Ausgangslage für das «Tagesgespräch» auf «Radio SRF» zwischen der Radio-Moderatorin Simone Hulliger und dem aus Strassburg zugeschalteten Alain Berset war vielversprechend. Der Alt-Bundesrat ist aktuell der Generalsekretär des Europarats, der sich für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzt – mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Gastgeberin Hulliger steuerte gleich zu Beginn des Interviews auf eine aktuell hoch brisante Frage zu: Übertreibt der Europäische Gerichtshof in seinen Urteilen die Auslegung der Menschenrechte? Geht er zu weit? Interpretiert er die Menschenrechte der Menschenrechtskonvention zu extensiv? Immerhin haben neun europäische Staaten in einem offenen Brief geschrieben, der Gerichtshof schränke den Spielraum der Länder in der Migrationspolitik zu stark ein, zum Beispiel bei der Ausschaffung von kriminellen Ausländern.
So weit, so interessant, sogar mit einem konkreten Beispiel aus dem Migrationsbereich. Leider hatte Berset überhaupt keine Lust, sich auf diese konkrete Frage einzulassen und flüchtete sich sofort auf die abstrakte, formale Ebene. Es handle sich um eine politische Frage, ergo sei diese auf der politischen Eben zu behandeln. Selbstverständlich sei man bereit, im Rahmen des Europarates über politische Themen zu diskutieren. Ja, Migration gehöre dazu, aber am richtigen Ort. Es gehe nicht an, Druck auf den Gerichtshof, auf die Justiz zu machen.
Moderatorin Hulliger nahm einen neuen Anlauf, zitierte Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht. Dieser stelle fest, dass der Europäische Gerichtshof die Schutzansprüche für Migrantinnen und Migrannten über die letzten 30 Jahre sukzessive ausgeweitet habe.
Auch jetzt mochte sich Alain Berset nicht auf diese Aussage einlassen. Lieber sprach er über die Statistik der Entscheide, erwähnte Grossbritannien. Nur ein einziger Migrationsentscheid der britischen Gerichte sei vom Europäischen Gerichtshof korrigiert worden. Ja, welcher denn? War das vielleicht eine der barocken Auslegungen der Menschenrechte durch den Gerichtshof, die den Kritikern des Gerichts sauer aufstiess? Der konkrete Sachverhalt blieb offen. Auch die Interviewerin hakte nicht nach. Aber sie nahm einen neuen Anlauf.
Sogar eine ehemalige Richterin des Europäischen Gerichtshofs habe in der «Süddeutschen Zeitung» beklagt, dass der Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung vom Gerichtshof sehr weit ausgelegt werde, wenn es darum gehe kriminelle Ausländer auszuschaffen. Dadurch würden auch Schwerverbrecher vor Abschiebung bewahrt.
Auch auf diesen konkreten Vorwurf mochte sich Berset nicht einlassen. Aber wenn es konkrete Probleme gebe, dann bitte damit auf die politische Ebene, zum Europarat. Seine Rolle sei, die Justiz vor Druckversuchen zu schützen.
Viele Minuten später im «Tagesgespräch» nimmt Simone Hulliger einen letzten Anlauf und bringt die Schweiz ins Spiel. Im Mai habe der Nationalrat einen Vorstoss gutgeheissen, der verlange, dass der Bundesrat den Gerichtshof an seine Kernaufgabe erinnere. Der Gerichtshof solle nicht mit einer ausufernden Auslegung der Grundrechte den legitimen Ermessensspielraum der Staaten einschränken. Es ging da auch um das Urteil der Klima-Seniorinnen.
Und ja, Sie erraten, was jetzt kommt. Alain Berset mag sich auch auf das letzte Aufbäumen seiner Gesprächspartnerin nicht einlassen. Mit der allgemeinen Bemerkung – «es ist gesund, dass wir diesen Dialog haben, das Ganze lebt, bewegt und veränderst sich» – wechselt er gleich wieder zu seinem einzigen Fall aus Grossbritannien zurück. Eigentlich die letzte Chance für Hulliger, endlich zu fragen, um was es denn in diesem Urteil gegangen sei. Leider Fehlanzeige. Dafür reichte die Kraft der Interviewerin offensichtlich nicht mehr.
Stattdessen fragte sie Berset, ob er sich über die Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg für seine Leistung als Gesundheitsminister in der Covid-Pandemie freue. Eine rhetorische Frage, weil die Antwort schon durch die Frage selbst erledigt ist.
Das «Tagesgespräch», dieses wunderbare Interview-Gefäss zur Mittagszeit, war eine Riesenchance, die Bedeutung der Menschenrechtskonvention zu erklären und für die Verteidigung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zu werben. Die Konvention ist übrigens vor 75 Jahren am 4. November 1950 in Rom von den Mitgliedstaaten unterzeichnet worden.
Warum hat der gegenwärtige Generalsekretär des Europarates diese Chance dermassen verschenkt? Wir wissen es nicht. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte Alain Berset einmal mehr keine Lust, sich dieser Frage zu stellen.
Das «Tagesgespräch» vom 7. November 2025 in voller Länge (26:30 Minuten).
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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