Computerwissen soll die letzte Bündner Tageszeitung retten
Susanne Lebrument, Chefin der Bündner Mediengruppe Somedia mit über 700 Angestellten, sagt es früh und verblüffend ehrlich direkt in die Kamera: «Es war ein Missmanagement der Familie.» Lebrument meint die schwierige Zeit um 2017, als ihr Vater Hanspeter die Unternehmensführung abgeben musste und gleichzeitig für über 30 Millionen Franken einen neuen Unternehmenssitz am Churer Stadtrand bauen liess.
Lebrument erzählt davon in einem höchst sehenswerten Dokumentarfilm der Bündner Journalistinnen Paula Nay und Stefanie Hablützel, den die beiden für den rätoromanischen Arm der SRG produzierten. Er ist derzeit in rätoromanischer Fassung mit deutschen Untertiteln auf «Play SRF» zu sehen. Die deutsche Fassung wird nächsten Donnerstag, 13. November, im Rahmen von «SRF Dok» ausgestrahlt.
Immenser Aufwand und aussergewöhnlicher Zugang
Nay und Hablützel untersuchen im Film den Zustand der «Südostschweiz», der letzten Bündner Regionalzeitung, minutiös. Sie gehen aber auch einer grösseren Frage nach: Was geschieht, wenn der Druck, mit Journalismus Geld zu verdienen, immer grösser wird?
Die beiden betreiben dafür einen immensen Aufwand, und Lebrument beweist sehr viel Mut. Sie lässt die beiden Journalistinnen der Konkurrenz aussergewöhnlich nahe heran. Kamera und Mikrofon sind dabei, als Lebrument an der Generalversammlung des Bündner Hotellerieverbands Geld für einen Film zur Fasnacht sucht, sie sind an einer Verwaltungratsretraite im Raum, an internen Sitzungen, an Podiumsdiskussionen, Messen und Feiern, sie sind im Auto, als Lebrument plötzlich anhält, weil sie eine Idee für ihre Kolumne hat, sie sprechen mit Journalistinnen und Journalisten der Zeitung, besuchen Nikola Nording, die neue deutsche Chefredaktorin in ihrer neuen Wohnung und begleiten sie gar auf einer Gratwanderung auf den Piz Danis. Wie Lebrument erscheint sie nahbar, verletzlich, reflektiert, und aufrichtig bemüht.

Durch den aussergewöhnlichen Zugang lassen sich Nay und Hablützel aber nicht blenden, sondern schauen umso genauer hin. Dadurch gelingt es ihnen, die Krise des Lokaljournalismus im Bündnerland als überraschend einfache Geschichte einer Entfremdung mit ungewissem Ausgang zu erzählen.
Eine Digitalstrategie als Anwort
Am Anfang dieser Geschichte stehen Zahlen zur Entwicklung der letzten 15 Jahre: Auflagenrückgang um fast 40 Prozent, Werbeeinnahmenverlust um über 50 Prozent. Aber da ist auch die Feststellung Hanspeter Lebruments von 2008, dass Lokaljournalismus ein elementares Bedürfnis stillt, dass «todsicher Jeder lokale und regionale Information will.»
Dies dürfte auch heute noch so sein. Gemäss Somedia konsumieren mehr Menschen denn je Medien des Unternehmens. Sie dazu zu bringen, für Journalismus zu bezahlen, sei die grosse Herausforderung.
Somedia will sie mit einem besseren Digitalangebot meistern und mehr Online-Abos verkaufen, um so den Rückgang bei den Print-Einnahmen aufzufangen. Die Annahmen dahinter lauten überspitzt: 1. Die gedruckte Zeitung, deren Herstellung und Vertrieb auch noch viel kosten, ist das Problem. 2. Die Online-Abos verkaufen sich nicht, weil das Angebot im Netz noch schlechter ist als jenes der Zeitung. 3. Die Zukunft ist im Web. Daher gilt es zuallererst, ins Online-Angebot zu investieren. Und nicht etwa in die Zeitung oder deren Inhalt. Die «digitale Transformation» lässt sich der Verlag gemäss Lebrument jedes Jahr über eine Million Franken kosten.
Umstrittener Fokus auf Nutzerbedürfnisse
Doch der Film wirft die Frage auf, ob diese Strategie überhaupt im Sinn der Leserschaft ist. «Die Leute hängen wahnsinnig an der gedruckten Ausgabe», sagt Susanne Lebrument im Film. Dies zeigt auch ein Vergleich: Derzeit beträgt die Auflage der Zeitung etwa 21’000 Stück. Digitalabos verzeichnet die Südostschweiz um die 2000. Dies, obschon ein Zeitungsabo monatlich mehr als dreimal so viel kostet wie das günstigste Digitalabo mit allen Artikeln für 14.95 Franken.
Zudem wirkt sich der Fokus aufs Web offenbar negativ auf die Wahrnehmung der Zeitung aus. Vor bald zwei Jahren holte Lebrument aus Norddeutschland Joachim Braun nach Chur, um den Wandel voranzutreiben. Unter Braun gilt: online first.
Dies hat auch Auswirkungen auf den Inhalt. Denn nun wird besonders genau verfolgt, welche Geschichten auf der Website besonders gut gelesen werden. Zudem verlangt Braun eine besonders enge Orientierung an Nutzerbedürfnissen und damit, dass jeder Artikel nur ein definiertes Leserbedürfnis stillen soll. Das Resultat sind mehr kürzere Artikel zu einem Thema – und eine andere Verpackung.
Matthias Künzler ist Medienwissenschaftler an der Technischen Universität Berlin. Er erforscht seit Jahren den Schweizer Lokaljournalismus. Künzler sagt im Film: «Es ist ein Marketingansatz, hinter dem die Annahme steckt, dass die Leute ein Produkt kaufen, wenn es ihnen gefällt. Dies funktioniert vielleicht bei Nutella oder Smartphones. Im Medienbereich aber funktionert es nicht.»
Joachim Braun reagiert im Film pikiert auf diese Kritik. «Ich glaube, es gibt nur diesen Weg.» Es handle sich um Elfenbeinturmaussagen eines Journalistik-Professors, und er halte sie für akademisch und unprofessionell. Letztendlich bringe es nichts, wenn sie Artikel publizierten, die keinen interessierten.
Teure Strategie ist riskanter als dargestellt
Die Neuorientierung beim Inhalt stösst im Film aber auch in der Leserschaft auf Kritik. Es gebe zu viele Portraits, die Auseinandersetzung über Sachthemen gerate in den Hintergrund, bemängeln etwa Mitglieder des Kantonsparlaments und Kulturschaffende. An einer Podiumsdiskussion über lokalen Kulturjournalismus sagt eine Besucherin: «Ich will nicht abgeholt und in ein Geschichtchen eingelullt werden. Ich will vielleicht eine andere Perspektive oder provoziert werden.»
Der Film zeigt denn auch, wie riskant die stets als alternativlos bezeichnete Digitalisierungsstrategie ist. Sie kann auch ein Treiber für Abo-Verluste sein, indem sie das Kernprodukt radikal verändert. Die computergesteuerte, zahlengetriebene Auswertung des Publikumsgeschmacks auf der Website führt dazu, dass die Zeitung einen neuen, vermeintlichen Massengeschmack bedienen soll.
Dabei sind gerade jene Menschen, welche bereit sind, für die Zeitung zu bezahlen, offenbar gar keine DurchschnittsleserInnen. Sie interessieren sich vielmehr intensiv für bestimmte Themen wie lokale Politik, Kultur, eine bestimmte Region oder ein Sportteam. Und sind bereit, dafür ein ganzes Zeitungsabo zu bezahlen, wenn sie entsprechend beliefert werden. «Wenn Sie nur noch das bringen, was angeblich dem Publikum gefällt, dann verspielen Sie die Leserbindung», sagt der Publizist Roger de Weck.
Online gibt es weniger Geld zu holen
Mit der neuen Strategie will Somedia also im schlimmsten Fall eine Leserschaft erreichen, die gar nicht unbedingt bereit ist, für Journalismus zu bezahlen. Und riskiert gleichzeitig, eine besonders treue Leserschaft zu verprellen.
Auf diese Gefahr weist die US-Medienwissenschaftlerin Iris Chyi schon länger hin. Chyi ist der Ansicht, dass Verlage besser daran täten, in die – immer noch – profitablen Zeitungen und damit ihren unverwechselbaren Inhalt zu investieren, als in teure Digitalisierungsprojekte, welche gleichzeitig die redaktionelle Leistung schwächen.
Letztes Jahr sagte Chyi auch: «Die Tatsache, dass die meisten Zeitungen ihren Print-AbonnentInnen digitalen Zugang ohne zusätzliche Kosten offerieren, zeigt eine klare Absicht, Print-Abos in Digital-Abos umzuwandeln. Doch aufgrund des Preisunterschieds zwischen digitalem Zugang und gedruckter Zeitung riskieren sie grosse Einnahmeverluste, wenn sie sehr zahlungsbereite LeserInnen dazu ermutigen, vom Print-Abo aufs Digital-Abo umzusteigen.»
Warten auf die «Hockeykurve»
Joachim Braun gibt sich im Film unbeirrbar. Er sagt, er arbeite nun im dritten Medienhaus mit dem Auftrag, die digitale Transformation zu beschleunigen. «Es verhält sich wie eine Hockeykurve. Am Anfang sind die Fortschritte sehr wenig sichtbar, auch bei den Abo-Zahlen. Und irgendwann ist dann mal der Punkt erreicht, wo die Qualität so gut ist, dass die Leute wirklich darauf anspringen. Und dann steigen die Abo-Zahlen auch ganz ordentlich.»

Die Digital-Abo-Zahlen sind seit Brauns Antritt tatsächlich von knapp 400 auf knapp 2000 gestiegen. Doch von in einer «Hockeykurve» abgebildetem, exponentiellem Wachstum kann noch keine Rede sein. Dabei drängt die Zeit für Somedia. Braun beteuert zwar, «die Bedürfnisse der User» seien in Chur wie in Ostfriesland die gleichen. Doch ob er die Lage richtig einschätzt, muss sich erst noch weisen. Als Braun die Stelle Anfang 2023 antrat, formulierte er das Ziel, dass die «Südostschweiz» bis Ende 2025 8000 Digitalabos verkauft haben soll. Vier Monate vor Ablauf der Frist fehlen noch 6000.
Lebruments grosses Versprechen
Susanne Lebrument sagt, sie habe konkrete Angebote, um die Zeitung zu verkaufen. Gut möglich, dass sie damit die Familie Blocher, Besitzerin der Ems-Chemie in Domat/Ems, meint. Doch dann sagt sie in die Kamera: «So lange ich lebe, wird die Zeitung nicht verkauft.» Sie erachte es als moralische Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung der Region, Unabhängigkeit und Informationssicherheit zu bewahren.
Wer den Film gesehen hat, will dieses Versprechen der aufrichtig engagierten Verlegerin glauben.
Aber da sind eben auch noch all die Zahlen. Und vergangenes Missmanagement.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.








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