Kommentar

«Die Lohnkluft ist geschrumpft»: Wirklich?

Werner Vontobel © zvg

Werner Vontobel /  Schlagzeilen machte das Bundesamt für Statistik mit selektiven Daten zur Lohnentwicklung und stiftet mehr Verwirrung als Klarheit.

Eine Pressemitteilung des Bundesamtes für Statistik zur Lohnstrukturerhebung 2014 hat in der Schweiz hohe Wellen geschlagen, weil darin der Eindruck vermittelt wird, in der Schweiz habe sich der Trend zur Ungleichheit umgekehrt.
Die Schlagzeilen waren einhellig: «Die Lohnschere schliesst sich in der Schweiz», meldete die Berner Zeitung. «Die Lohnkluft ist geschrumpft», titelte die NZZ. Der Tages Anzeiger und der Bund meldeten, dass sich «die Lohnschere wieder ein wenig schliesst». Und der Bote der Urschweiz meinte: «Lohnentwicklung stimmt optimistisch.»
Damit hat das Bundesamt für Statistik geerntet, was es auf Seite 6 der Zusatzinformationen zur Pressemitteilung gesät hatte. Dort sieht man in dunkelroten Fettbuchstaben, dass sich die Nominallöhne zwischen 2008 und 2014 wie folgt entwickelt haben: + 3,6% für das oberste Zehntel, + 6,8% für die Mittelklasse und + 9,1% für die untersten 10 Prozent der Lohnskala. Für Begriffsstutzige steht darunter noch diese Legende: «Das Verhältnis P90/P10 sinkt in dieser Zeitspanne von 2,8 auf 2,6 = Der Abstand zwischen dem oberen und unteren Ende der Lohnpyramide hat sich zwischen 2008 und 2014 verkleinert.»
Leider gibt es in den Unterlagen keine Tabelle, mit deren Hilfe man diese Entwicklung zurückverfolgen könnte. In der Pressemittelung zur Lohnstrukturerhebung 2012 las man noch, dass sich die Lohnschere zwischen 2002 und 2012 stark geöffnet hat. In dieser Zeitspanne stieg der Lohn des obersten Zehntels um 22,5 Prozent, der des Median um 12,8 und der des untersten Zehntels bloss um 9,5% bzw. 2,3% nach Abzug der Teuerung. In der Erhebung von 2008 und 2010 wurde keine Verteilung nach Dezilen ausgewiesen.
Man ist also leider auf Detektivarbeit angewiesen, um zu erahnen, was im obersten Dezil passiert sein soll. Die neueste Pressemitteilung liefert dazu immerhin ein Indiz. Danach sollen die Gehälter des obersten Zehntels der Top-Manager 2014 gegen über 2008 um nicht weniger als 21.1% auf 18’939 Franken gesunken sein. Ein Vergleich mit der Lohnstrukturerhebung 2012 zeigt, dass praktisch der ganze Verlust in den letzten beiden Jahren stattgefunden haben müsste. Doch das ist wenig glaubwürdig. Nach dem Vergütungsbericht 2015 von Price Waterhouse sind nämlich die Gehälter der CEOs (der Vorstandsvorsitzenden) der 30 grössten kotierten Schweizer Unternehmen (SMI) zwischen 2012 und 2014 um rund 6% gestiegen, bei den 70 nächstgrössten Firmen stiegen die Bezüge des CEO im Schnitt gar um gut ein Drittel. Wenn die obersten Chefs ihre Gehaltserhöhung tatsächlich durch entsprechende Kürzungen bei den direkten Untergebenen finanziert haben sollten, dann hätte sich das wohl herumgesprochen.
Ein anderes Indiz findet sich, wenn man in den Unterlagen von 2012 stöbert. Damals wurde die Grenze zum obersten Dezil aller Arbeitseinkommen mit 11’512 Franken beziffert. Zwei Jahre danach waren es nur noch 10’935 Franken – ein Rückgang um immerhin 5%. Boris Zürcher, Direktor für Arbeit im SECO (dem Schweizer Wirtschaftsministerium) führt dies laut NZZ darauf zurück, dass sich die obersten Kader ihre Löhne und Boni im Zusammenhang mit dem starken Franken freiwillig gekürzt haben sollen. Allerdings hat der Franken erst im Januar 2015 aufgewertet. Seltsam mutet auch an, dass der Lohn des untersten Dezils seit 2012 um 7,5% gestiegen sein soll. Das steht allerdings nicht explizit in den neuen Unterlagen, sondern man muss es sich aus den alten zusammenreimen – und kann sich doch keinen Reim darauf machen. Gemäss demselben Bundesamt für Statistik sind in dieser Zeitspanne die Mindestlöhne in den Gesamtarbeitsverträgen nämlich bloß um knapp 1,5% angehoben worden.
Selbst die NZZ, die im Zweifelsfall die Lohn- und Einkommensunterschiede lieber klein redet, setzt ein kleines Fragezeichen hinter das Zahlwirrwarr aus dem Bundesamt für Statistik. «Das klingt fast zu idyllisch, um wahr zu sein», schreibt Hansueli Schöchli in seinem Kommentar unter dem Titel «eine Schwalbe macht noch keinen Sommer».
Vorläufig hält man sich deshalb besser an das, was die Professoren Robert Fluder, Oliver Hümbelin und Ben Jann im Jahrbuch 2015 des «Denknetz zur Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in der Schweiz» schreiben. Danach herrscht in der Schweiz seit Mitte der neunziger Jahre ein klarer Trend zu einer steigenden Ungleichheit der Einkommen. Interessant ist dabei insbesondere eine Auswertung von Steuerdaten im Kanton Bern. Danach sind die Löhne im untersten Zehntel zwischen 2002 bis 2012 real um etwa 5 bis 10 Prozent gesunken. Das steht im Widerspruch zu allen offiziellen (BfS) Statistiken, wonach in der Schweiz auch die Löhne der unteren Einkommensschichten real steigen. Die Erklärung dafür liegt vermutlich darin, dass in den BfS-Statistiken alle Lohneinkommen immer auf ein theoretisches Vollpensum hochgerechnet werden. In der Realität müssen sich aber gerade die unteren Einkommensschichten oft unfreiwillig mit einer Teilzeitstelle begnügen.
Auch die reiche Schweiz kann sich offenbar dem globalen Trend zur Ungleichheit nicht entziehen. Man möchte es gerne genauer wissen – und muss betrübt feststellen, dass das für diese Frage zuständige Bundesamt für Statistik Verwirrung stiftet statt sich um grösstmögliche Klarheit zu bemühen.

Dieser Beitrag erschien auf «flassbeck-economics».


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