Kommentar

kontertext: Marktschreier

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsHeinrich Vogler. Geboren 1950 in Basel. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie der Politik. War Journalist ©

Heinrich Vogler /  Satiriker Andreas Thiel ist jetzt philosophischer Essayist. In der NZZ predigte er das Hohe Lied des Marktliberalismus.

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Der Mann mit dem kolossalen Irokesenkamm hat sich besonders als Islamkritiker, u.a. in der «Weltwoche», hervorgetan. Und er ist im Fernsehen, meist im Massanzug, als Spötter gegen links aufgefallen. Mit seinen spleenigen Merkmalen dient sich Andreas Thiel als mediale Empörungszielscheibe an. Seit kurzem ist das Bühnengeschäft dieses Künstlers aber ins Stocken geraten. Thiel hat einen Einbruch bei seinen Engagements hinnehmen müssen, was auch politische Gründe haben dürfte. Als offensichtlich glühender Anhänger der freien Marktwirtschaft nimmt es der Satiriker und Autor fügsam hin, dass die künstlerische Nachfrage nach ihm eingebrochen ist. Thiel ging nun in sich. Es mag wie ein Akt der Selbstvergewisserung erscheinen, dass der Satiriker gerade jetzt öffentlich sein marktwirtschaftliches Credo ablegt. «Wer hat Angst vor der Freiheit?», fragt er kokett und rhetorisch zum Auftakt seines Essays «Markt, Moral und Lebensglück» in der NZZ vom 16.9.16.

Liberale Erleuchtung

Der Autor ernennt sich selbst zum Freiheitshelden. Indem er sich der Freiheit an die Brust wirft. Er assortiert Versatzstücke aus der Mottenkiste des Marktliberalismus. Und gibt sich der gängigen reinen Lehre hin, wonach jeder ausschliesslich seines eigenen Glückes Schmied ist, als hätte es nie so etwas wie die Soziale Marktwirtschaft gegeben. Wäre er etwas näher zur Gegenwart vorgestossen, dann wäre dieses liberale Manifestchen wohl etwas komplexer geworden. Nun, Thiel raunt, dass Menschen im Kapitalismus sowohl glücklich als auch unglücklich würden, und behauptet dann: «Mehr ist in dieser Welt nicht drin.» Angenommen in einer kapitalistischen Gesellschaft lebten ausschliesslich unglückliche Menschen, dann gerät Thiels Befund («Alle weniger freien Systeme lassen nur eines zu: mehr Unglück.») in Schieflage.

Janusköpfige Freiheit

Andreas Thiel fokussiert seine Lobrede auf die Freiheit. Wie es sich für einen Liberalen ziemt. Nun geht an der Seite dieser Freiheit sehr oft «die Unfreiheit». «Der Zwang zum Guten» gebäre nur neue «Unfreiheit», will Thiel wissen. Wollte man die Freiheit einschränken, um das Gute zu fördern, dann erläge man «Zwangsphantasien», die sich heute gerne hinter Begriffen wie «Solidarität» oder «Prävention» verbärgen. Nein, so wohlfeil ist dieser Bär nicht zu erlegen. Nehmen wir die angebliche Freiheit von Minenarbeitern in der Dritten Welt, die bei ihrer Lohnarbeit wegen Gasaustritts untertags ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Diese Opfer des freiheitlichen Kapitalismus wären – Thiels Logik folgend – nur aus ideologischen Gründen ihrem Schicksal zu überlassen. Und zwar, weil sich die Verbesserung der Lage der Minenarbeiter als «Zwang zum Guten» d.h. als Verrat an der Freiheit erweist.

Ironiebremse

Der Satiriker gewährt sich grosszügig Auslauf in seiner Arena. So viel, dass man meinen könnte, es sei einiges ziemlich ironisch an seiner frohen Freiheits-Botschaft. Der Mensch, lehrt uns der Autor, kaufe Schokolade, «weil er sich von ihrem Genuss ein Glücksgefühl verspricht». Dies treibe den Konkurrenzkampf an, was wiederum die Qualität der Schokolade verbessere. Und vor allem könne man «auch zu viel Schokolade essen». Ob das nun schon eine besondere Form von Marktversagen ist? Was für Schokolade gilt, gilt erst recht im Allgemeinen. Denn, wer «mehr will, als er hat, wird (…) unzufrieden». So schafft man eine kuriose Unruhe im Stall der Bedürftigen. Konsumverzicht ist aber schlecht für das Geschäft, deshalb muss nachfrageseitig stets genügend Unglücksgefühl am Markt herrschen – darf man mit Thiel folgern. Der Liberalismuserklärer weist uns dann in die Schranken. Glück ist nämlich «erst einmal zufrieden sein mit dem, was man hat, bevor man glücklich werden kann». So so, Herr Pfarrer! Klingt irgendwie nach Konfuzius aus der Hausapotheke. Unter dem Titel «Moral» kommt dann der liebe Gott leibhaftig ins Spiel. Er stellt uns «alles, was glücklich macht, gratis zur Verfügung». Und was geschieht mit der glitzernden, verführerischen Warenwelt?

Metaphysik der Moral

Der Inbegriff von Moral ist nach Thiel der Buddhist, der gerne einen Jaguar hätte. Der ausserhalb der Welt Stehende geht aber in sich – und «verschenkt sein Fahrrad». Das macht glücklich. Versichert uns der Satiriker. Wenn das keine Moral ist: Die selbstgewählte mönchische Armut als Hort der Tugend. Ganz ohne Metaphysik kommt also diese Freiheitsode nicht aus. Widersprüche hin oder her: Trotzig hingeschmettert ist die Schlussfanfare des Denkers Thiel. Er beisst sich fest: Frei sei der Mensch nämlich «nur im Kapitalismus». Ist er das? Eher nicht. Freiheit ist nicht naturwüchsig und zwingend, auch nicht im Kapitalismus. Aber wie Freiheit bzw. Unfreiheit als Vektor im Konzern-Kapitalismus von heute aufscheinen kann, darüber breitet der Politphilosoph den Mantel des Schweigens.

Neoliberale Unfreiheit

Liberalismusvordenker Thiel lässt das Thema Chancenungleichheit auf neoliberalen Märkten rechts liegen. Besitz ist sehr ungleich verteilt. Grosskonzerne werden immer finanzstärker. Viele Staaten verharren in Armut. Freiheit droht allenthalben in ihr Gegenteil zu kippen. In der Tat könnten sich weltweit Massen vor solcher Freiheit fürchten. Die Freiheit im Kapitalismus der heutigen Märkte ist weder umfassend noch grenzenlos. Ganz abgesehen davon, ob genügend «Schokolade» für den Markt da ist oder ob man sich einen «Jaguar» leisten können soll, witzelt Thiel.
Auch die Digitalisierung und das Internet sind janusköpfig. Kein Wort darüber in Thiels Glückspredigt für Unentschlossene. Der sekundenschnelle digitale Informationsaustausch rund um den Globus führt einerseits zu einem Gewinn an sozialer Freiheit. Auf der Negativseite schlägt zu Buch, dass das Absaugen privater Daten im grössten Stil den gläsernen Nutzer seiner Privatsphäre beraubt. Das ist höchst illiberal.

Freiheit und Gerechtigkeit

Weil es im freien Markt ein akutes Verteilungsproblem gibt, ist seit der Mitte des letzten Jahrhunderts die Dimension der «Gerechtigkeit» in den Fokus der Liberalismusdiskussion gelangt. Fixpunkt ist der liberale Amerikaner John Rawls mit seiner «Theorie der Gerechtigkeit» von 1971. Rawls Idee einer «Gerechtigkeit als Fairness» soll zwar die sozial Schwachen stärken. Im Gegensatz zum Sozialismus ist diese Vorstellung von Gerechtigkeit aber nicht dazu da, Freiheitsrechte dem Abbau sozialer Differenzen unterzuordnen. Thiels rhetorische Frage: «Wer hat Angst vor der Freiheit?» des Marktes klingt dagegen wie ein Echo aus dem letzten Jahrhundert, als der Liberalismus laufen lernte. Nimmt der heutige freie Markt Züge von Unfreiheit an, dann fällt Thiels alleinseligmachender Kapitalismus von gestern definitiv durch die Maschen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Heinrich Vogler. Geboren 1950 in Basel. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie der Politik. War Journalist / Redaktor bei Radio DRS und SRF 2 Kultur. Arbeitete als Kultur- sowie jahrelang als Literaturredaktor. Bis zur Pensionierung Ende 2015. War freier Literaturkritiker für Berner Zeitung, Tages-Anzeiger und NZZ.

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2 Meinungen

  • am 29.09.2016 um 09:43 Uhr
    Permalink

    Das fatal Falsche am Kapitalismus und der thielschen Logik ist die Behauptung, dass alles was glücklich macht, gratis ist.

    Also wenn die WHO gestern meldete, dass 92% der Weltbevölkerung in Gebieten Leben mit Schadstoffbelastungen der Luft oberhalb von WHO-Grenzwerten, kann man davon ausgehen, dass ein grosser Teil vor allem städtischer Bevölkerung durch den Smog kaum noch Sonnenauf- oder Sonnenuntergänge geniessen kann.

    Der Kapitalismus geht davon aus, dass all die Leistungen der Natur gratis sind, aber das ist falsch. Luft scheint gratis zu sein, aber mit mehr als 7 Millionen Toten die jährlich an Folgen der Luftverschmutzung sterben, muss die Anzahl der Kranken um ein zigfaches Höher sein und Gesundheitskosten im Milliardenbereich verursachen.

    Aber eben, diese Kosten tauchen nicht in den Bilanzen der Verursacher auf und die Schlussfolgerung von Thiel „Aber das Elementare an der freien Marktwirtschaft ist auch nicht das Glück, sondern die Freiheit. Zufrieden oder unzufrieden werden kann der Mensch in jedem Wirtschaftssystem. Frei hingegen ist er nur im Kapitalismus.“ ein tragischer Fehlschluss.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 29.09.2016 um 11:22 Uhr
    Permalink

    Der Beitrag von Vogler ist etwas humorlos, hingegen ein satirisch-ironischer Volltreffer bei @Stephan Klee, wenn er vom «tragischen Fehlschluss» eines Satirikers schreibt. Natürlich ist es nicht leicht, über den Islam gute Satire zu schreiben, da ist der Stand in Sachen Katholizismus fortgeschrittener. Auch muss man zugeben, dass der Sozialismus besonders durch die tschechische Satire – schon 1968 – offenbar bisher witziger getroffen wurde als der neoliberale Kapitalismus. So oder so braucht es etwas Distanz, wenn man über solche Themen geistvoll schreiben will.

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