Kommentar

Politik nimmt zivile Opfer nur nach Terror ernst

Urs P. Gasche © Peter Mosimann

Urs P. Gasche /  Wenn Terroristen töten, rotieren die Regierungen. Doch bei andern unschuldig Getöteten und Verletzten bleiben sie passiv.

Terroranschläge in Berlin, Nizza, Brüssel, Paris und an andern Orten Europas haben

  • im Jahr 2015 etwa 150 Todesopfer gefordert
  • im Jahr 2016 etwa 200 Todesopfer.

Die Mörder haben es auf Frauen, Männer und Kinder abgesehen, die sich zufällig an einem bekannten Ort aufhalten. Sie wollen Aufmerksamkeit erhaschen, Angst verbreiten und westliche Demokratien erschüttern.
Dabei helfen ihnen Medien und Politiker, die sich nach jedem Anschlag an Empörung überbieten. Das schafft den Nährboden, um die Bevölkerung immer flächendeckender, intensiver und mit noch mehr Aufwand zu überwachen – auf Kosten individueller und kollektiver Freiheiten.

«Krieg gegen den Terror» provoziert Terror

Gewiss, ein Polizei- und Überwachungsstaat kann einzelne Anschläge verhindern. Doch fehlgeleitete Mörder und Frustrierte, die einen selbst gewählten Tod, falls nicht mit Jungfrauen, dann wenigstens mit grossem Aufsehen und internationalen Schlagzeilen versüssen wollen, werden weiterhin willkürlich töten. Schon gar nichts ändern daran kann der «Patriot Act», das US-Notstandsgesetz, und die «Kriege gegen den Terror».
Der nach 9/11 (fast 3000 Todesopfer) seit 15 Jahren geführte «Einsatz» der Nato in Afghanistan forderte bis heute unter der Zivilbevölkerung rund 200’000 Todesopfer.
Der Irak wurde 2003 von den USA militärisch erobert und seither kontrolliert. Bis heute beklagt dieses Land mehrere Hunderttausend zivile, unschuldige Opfer. Die Regierung führt keine glaubhafte Statistik.

Diese fürchterlichen Kriege haben die Zahl fanatischer und fundamentalistischer Mörder und Frustrierter deutlich erhöht. Erfahrungen mit Gewalt erhöhen bei den Betroffenen die Wahrscheinlichkeit, selber gewalttätig zu werden. Das Risiko mörderischer Attacken in Europa ist grösser statt kleiner geworden.

Im Verkehr nehmen wir unschuldig Getötete und Verletzte in Kauf

Beim verbrecherischen Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt kamen 12 nichtsahnende und unschuldige Besucher auf einen Schlag ums Leben. Fast fünfzig weitere wurden verletzt.
Auf Deutschlands Strassen wurden 2016 etwa 3500 Menschen bei Unfällen getötet und fast 400’000 leicht oder schwer verletzt. Viele davon waren korrekt, ohne jegliches Fehlverhalten unterwegs. Die Opfer erwischt es ebenso zufällig wie die Opfer der Terror-Mörder.
Die grosse Zahl dieser im Strassenverkehr unschuldig Getöteten und Verletzten könnte man durch einfache Massnahmen drastisch reduzieren: Auf Autobahnen eine Geschwindigkeitsbeschränkung einführen, auf Überlandstrassen die Geschwindigkeitsbeschränkung verschärfen, Verkehrssünder systematisch erfassen und Wiederholungstäter strenger bestrafen, technische Verbesserungen an Autos usw.
Doch nach der jährlichen Veröffentlichung der Verkehrstodeszahlen überbieten sich Politiker und Medien – anders als nach Terroranschlägen – nicht mit Forderungen nach strengeren Gesetzen. Der Gesetzgeber und die Mehrheit der Bevölkerung nehmen ein paar hundert mehr Unfalltote und ein paar Zehntausend mehr Verkehrsverletzte in Kauf. Die freie Fahrt auf Autobahnen sowie das Behandeln vieler Verkehrsdelikte als Kavaliersdelikte ist ihnen wichtiger.

Von «Krieg gegen Verkehrsunfälle» will niemand etwas wissen.

Vermeidbare unschuldige Opfer von Feinststaub und in Spitälern

Vermeidbare Fehler in Spitälern, oder das Bodenozon und der Feinstaub PM10 und der Feinststaub PM2.5, bedeuten in Deutschland und in der Schweiz jedes Jahr für Tausende den Tod. Noch viele mehr werden gesundheitlich verletzt. Auch hier wäre, wie im Strassenverkehr, die Zahl der Opfer mit bewährten Massnahmen erheblich zu reduzieren.

Doch von «Krieg gegen vermeidbare Spitalfehler» oder «Krieg gegen den Feinststaub» will niemand etwas wissen. Nur noch die abgasärmsten Autos zu bewilligen, Ozongrenzwerte durchzusetzen, oder in Spitälern eine Pflicht zur Fehlermeldung für das ganze Personal einzuführen: So weit möchten die Politiker nicht gehen.

Passiv hier – umtriebig dort

Um die Zahl von Terroranschlägen zu verringern, ist es ohne Zweifel sinnvoll, wenn die Polizei- und Überwachungsorgane national und international besser zusammenarbeiten. Aber mit dem Abschaffen individueller und kollektiver Freiheiten sowie mit einer totalen Überwachung zu reagieren, wie sie Edward Snowden aufdeckte, ist unverhältnismässig und für den Rechtsstaat gefährlich.

Politik und Gesellschaft dürfen der Frage nicht ausweichen, warum sie so umtriebig und leichtfertig Rechte und Freiheiten einschränken, wenn es um Terroropfer geht. Und warum sie so passiv und zurückhaltend bleiben, wenn beispielsweise der Strassenverkehr, vermeidbare Fehler in Spitälern oder der Feinststaub eine ungleich grössere Zahl an unschuldig Getöteten und Verletzten fordern.

Eine Gesellschaft muss entscheiden, mit welchen Risiken sie bereit ist zu leben, damit ihre Bürgerinnen und Bürger von möglichst grossen Freiheiten profitieren und ihre Rechte ausüben können. Das Risiko von Terroranschlägen rechtfertigt weder einen Polizei- und Überwachungsstaat, noch den «Patriot Act» noch «Kriege gegen den Terror».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Eine Meinung zu

  • am 29.12.2016 um 15:39 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrter Herr Gasche.

    Ich danke Ihnen, für Ihren Denkanstoss.

    Eigentlich haben Sie ganz recht, mit Ihren Schilderungen.
    Die von Ihnen geschilderten Lösungsansätze aber erachte ich bestenfalls als Kosmetik.
    Die Ursache für dieses entartete Menschengebaren ist hauptsächlich die (demokratisch ergaunerte) rasante Verblödung unserer zivilisierten Profit-Optimierungs-Gesellschaft.

    Demokratisch erzwungene Verordnungen bewirken ja eben genau diese diktatorischen Missstände.
    Nur eine nachhaltig entblödete Gesellschaft hat die Möglichkeit, friedlich miteinander umzugehen.

    Fragt sich nur, ob das wohl zu schaffen ist???

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