Das fantastische Palaver der Pflanzen verstehen
Einmal mehr bestätigt sich am Locarno Filmfestival, dass die von Filmjournalist*innen kuratierte Dokumentarfilmreihe «Semaine de la critique» qualitativ und punkto Relevanz zu den sichersten Werten im ganzen vielfältigen Programm gehört. Wie im letzten Jahr mit Simon Baumanns phänomenalem Film «Wir Erben» sticht auch jetzt ein aussergewöhnliches Schweizer Produkt heraus, das diesen Sonntag vor gegen 900 Personen seine Weltpremiere erlebte: «Flying Scents – of Plants and People» von Antshi von Moos.
Der jungen Absolventin der Zürcher Hochschule der Künste gelingt in ihrem erstaunlichen Diplomfilm die Verbindung von drei ganz unterschiedlichen – und doch eng miteinander verknüpften – Perspektiven auf das Zusammenwirken von Mensch und Pflanzenwelt. Man schaut nach diesem Film völlig anders auf diese komplex vernetzten Organismen.
Die Insektenforscherin
Da ist das Forschungsteam der ETH-Professorin Consuelo De Moraes, das der pflanzeneigenen chemischen Substanz auf der Spur ist, die sie zum Blühen bringen. Wenn etwa Hummeln oder Raupen die Pflanzen verletzen, beschleunigt das offenbar den Prozess des Blühens. Das eröffnet ungeahnte Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung der ganzen Blütenwelt. Und die Forschenden tüfteln im Labor und in der freien Natur an Versuchen, die das Rätsel lösen könnten. Man stehe wohl kurz vor dem Durchbruch, meint die Professorin.

Die Pflanzenflüstererin
Dass Pflanzen und Insekten – sowie die Pflanzen untereinander – auf vielfältige Weise miteinander kommunizieren, beschäftigt die Basler Biologin Florianne Koechlin schon lange, und sie hat dazu eine ganze Reihe von Büchern veröffentlicht. Pflanzen sind für sie mehr als blosse Objekte zum Gebrauch. Sie sind als vernetzte Subjekte eingebettet in ein reiches Beziehungsgeflecht, das auch uns Menschen umfasst. Dadurch stellt sich auch die Frage nach unserer Verantwortung ihnen gegenüber neu. Pflanzen sind biologisch betrachtet unsere Vorfahren, genau wie die Tiere, sagt Koechlin. Sie führen ein aktives Sozialleben, sie warnen sich gegenseitig mit Duftstoffen, locken gezielt Nützlinge an, koordinieren oft sogar ihr Verhalten.

Das Öko-Künstlerpaar
Das Künstlerpaar Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger wiederum legt ganz praktisch Hand an in seinem grossen Garten, wo es wunderlich wuchernde Wurzelwerke blosslegt. Auch nachts sind sie im Garten aktiv, weil da alles nochmals ganz anders riecht und summt und kreucht und fleucht. Ihr vielfältiges Kunstschaffen dreht sich um Natur und Künstlichkeit, um Fruchtbarkeit, Werden und Vergehen. Und um ungewöhnliche Schönheit. Aber sie misstrauen zutiefst jeder ökonomischen Verwertungslogik. Ihre Kunstwerke sind oft zauberhaft filigrane, raumfüllende Installationen, in denen sich Natürliches und Künstliches liebevoll anarchisch paart.

Was diese drei unterschiedlichen Perspektiven im Innersten verbindet, ist neben dem Fokus auf die Pflanze das leidenschaftliche Beobachten der Natur. Dieser Hunger, mehr und tiefer zu verstehen, was in diesen komplexen Systemen wirklich abläuft, wie alles mit allem zusammenhängt. Dabei bringt Florianne Koechlin auch die politische Dimension mit ins Spiel. Die letzten zehn Jahre, sagt sie, seien ein verlorenes Jahrzehnt gewesen. Die Dinge liefen in die falsche Richtung: Noch schwerere Maschinen, die die Böden zerstören, noch mehr Monokulturen, die das ganze Ökosystem verdorren lassen.
Und doch geht man erstaunlich positiv gestimmt aus diesem Film. Weil er die Schönheit feiert. Weil er neugierig macht. Weil er ganz genau hinschaut, wo wir noch so unendlich viel nicht wissen.
Film ist Teamwork. Zwanzig Beteiligte, von Regie und Kamera über Schnitt und Sound bis hin zur Produktion, stellen sich nach der Projektion in Locarno der Diskussion mit dem Publikum. Und gut 80 Prozent bleiben dafür gebannt sitzen. Diese Neugier des Publikums ist auch eine der zentralen Qualitäten dieses Festivals.
Dieser Film gehört in jede Bibliothek, in jede Schule, in jedes Kino. Weil er so gar nicht belehrend ist. Sondern verschiedene Sicht- und Herangehensweisen nebeneinander bestehen lässt. Denn alle wissen: Wir wissen noch viel zu wenig über dieses komplexe und hochspannende Zusammenspiel von Mensch und Natur.
Im kommenden Frühjahr kommt der Film, wie der Verleih mitteilt, in die Schweizer Kinos.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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