Kommentar
kontertext: Eurovision-Song-Contest – mit und ohne Politik
«Der ESC ist kein Musikwettbewerb, sondern eine Politshow!» Das hörten wir in Russland, vor allem als das Land zusammen mit Belarus aus dem Wettbewerb des Jahres 2022 ausgeschlossen wurde. Mehr noch: Die Eurovision sei ohne Russland degeneriert, hiess es.
Nun wäre es töricht, die politische Komponente des Wettbewerbs zu leugnen. Wir erinnern uns schliesslich an die Debatten um den Sieg der Ukraine im Jahre 2022 und an die zahlreichen Aufregungen um die Teilnahme Israels. Aber wir sollten den Einfluss der Politik auch nicht überbewerten. Es gibt beliebte und unbeliebte Länder, und oft wird diese Beliebtheit durch die politische Situation bestimmt.
Auch das Niveau des Wettbewerbs wird seit langem immer und immer wieder beklagt. 1982 weigerte sich Frankreich, an solcher «Mittelmässigkeit» und derartigem «Unsinn» teilzunehmen. Fünfzehn Jahre später sprach Italien dem Wettbewerb jegliche musikalische Autorität ab. Proklamiert wurde der ESC einst als Symbol für kulturelle Einheit und Vielfalt. Ob er diesen Anspruch dieses Jahr einlösen kann, wird sich weisen.
Gesang als Sport
Über mangelnde Vielfalt kann man sich allerdings nicht beklagen. Im Laufe der Jahre hat sich das Verständnis von «Pop» so sehr erweitert, dass wir bei der diesjährigen Ausgabe des ESC neben klassischen Chansons und Volksliedern auch Folklore, Electronica, Rock, Glam-Pop, Disco-Pop, Indie und Pop-Opern hören werden. Das Publikum wird sich auf keinen Fall langweilen, und jeder wird etwas finden, das ihm gefällt, oder etwas Neues entdecken.
Als Musikwettbewerb hat der ESC das Problem, dass die Bewertungskriterien unklar und umstritten sind. Was gilt als Leistung? Die Stimme und Präsenz der Sängerin oder des Sängers? Die Melodiosität der Komposition? Die Aussagekraft des Textes? Die Wirksamkeit der ganzen Show samt Bewegungen, special effects etc? Oder reduziert sich die Bewertung ganz einfach auf das subjektive Gefühl: «Gefällt mir» oder «gefällt mir nicht»?
Gegründet wurde der ESC einst als Songwettbewerb für ein breites Publikum. Seither aber ist der Gesang mehr und mehr zur Nebensache geworden, heute steht die Show im Zentrum und gehorcht den olympischen Kriterien «schneller, lauter, stärker!»
Assoziationen zum Sport stellen sich nicht zufällig ein. Für viele Länder geht es hier nicht um den Sieg, sondern um die Teilnahme. So glamourös der Wettbewerb auch daherkommt, sie zeigt, dass die Europäische Union eben keine Gemeinschaft gleichberechtigter Partner ist, sondern ein komplexes Gebilde mit Schwergewichten und solchen, die am Rande stehen. Sogar Akteure, die gar nicht Mitglieder der Europäischen Union sind, können als Teilnehmer auftreten und rücken gelegentlich in den Vordergrund oder führen am unteren Ende der Tabelle ein Dasein im Schatten, je nach ihrer Popularität auf der globalisierten Beliebtheits-Skala.
Klischees und authentische Momente
Neben versteckten senden die Euro-Barden auch offene Botschaften an ihr Publikum, in Gestalt ihrer Songtexte. Wovon singen die Stars der Eurovision 2025? Zehn bis fünfzehn Songtexte leben von zwei oder drei Zeilen wie «You’re my hallucination», «Getting lost in your eyes» oder «I wanna run with you». Keine dieser Klagen über verlorene Liebe ist in irgendeiner Weise neu, aufrichtig oder originell. Ein einziges Lied allerdings dringt authentisch ins Ohr: «How Much Time Do We Have Left» des slowenischen Sängers Klemen. Diese traurige Ballade basiert auf einer authentischen Episode aus dem Leben des Sängers. Seine Frau war schwer krank und niemand hatte Hoffnung auf ihre Genesung, aber das Leben besiegte schliesslich den Tod.
Es ist wohl kein Zufall, dass ein Lied, das eine persönliche Erfahrung gestaltet, emotional ankommt, denn Menschen werden eben von authentischen Geschichten berührt und nicht von abstrakten Überlegungen. Deswegen sticht auch aus der endlosen Reihe von Liedern mit dem Thema «It’s bad now, but someday it will be better» der Beitrag «New Day Will Rise» der Israelin Yuval Raphael heraus. Sie selbst erlitt bei dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 Schrapnellwunden und entkam wie durch ein Wunder dem Tod. Sie singt ihre Hymne der Hoffnung mit authentischer Dringlichkeit. Hinzu kommt der ausserordentlich grosse Ton-Umfang ihrer Stimme. Nach vorläufigen Einschätzungen gehört Raphael zu den Favoritinnen des Wettbewerbs. Darüber hinaus ist die Sängerin ein Role-Model. Sie verkörpert einen Trend des diesjährigen Eurovision-Song-Contest: die starke, unbeugsame Frau.
Die begrenzte Stärke der Frauen
Zu diesem Frauentyp gehören auch Melody aus Spanien mit «Esa diva», die davon erzählt, wie die Kunst es der Heldin ermöglicht, mutig und selbständig zu sein, Laura Thorn aus Luxemburg, die behauptet, dass frau nie wieder eine Puppe sein wird («La poupée monte le son»), und Miriana Conte aus Malta, die verspricht, nicht aufzugeben und sich im Leben nicht fremdbestimmen zu lassen, die aber ausgerechnet hier gezwungen wurde, den Titel ihres Liedes «Kant» (maltesisch: «Singen») zu ändern, weil er den Vertretern eines britischen Senders unanständig erschien. Eine andere «starke Frau» – Erika Vikman aus Finnland – liess man hingegen gewähren, trotz ihres pornografischen Kostüms und des Liedes «Ich komme», das in Text und Bewegungsablauf nichts anderes ist als die Inszenierung einer sexuellen Erregung.
Themen der Zeit
Ein weiterer Trend ist das Suchen nach Identität. Voller Humor besingen die fröhlichen Isländer VÆB mit ihrem Lied «RÓA» die Identitätssuche. Ironisch nähert sich dem Thema der Italiener Lucio Corsi, der «cool sein wollte» («Volevo essere un duro»), aber dann doch einfach Lucio blieb.

Die französische Sängerin Louane verbindet in «Maman» die Suche nach sich selbst mit einem anderen wichtigen Thema: dem Kontakt mit früheren Generationen. Auch ihr Lied ist autobiographisch. Ihre Mutter starb, als Louane Teenager war und ihre Filmkarriere gerade begann. In ihrer damaligen Verwirrung und Orientierungslosigkeit schrieb sie einen Liedtext, in dem sie gegenüber ihrer toten Mutter bekannte, dass sie keine Ahnung habe, wie ihr Leben weitergehen könnte. Louanes neuer ESC-Song ist die Fortsetzung des Gesprächs mit ihrer Mutter. Heute aber spricht sie mit ihrer Mutter als eine Frau, die sich und ihre Liebe gefunden hat, eine Frau, die selbst Mutter ist.
Bezeichnenderweise führen auch andere Künstler Gespräche mit ihren Müttern, darunter Claude aus den Niederlanden, Klavdia aus Griechenland und der Leadsänger der portugiesischen Band «Napa». Die letzten beiden unterhalten sich mit ihren Müttern über das Thema Exil, ob es nun lange zurückliegt oder gerade aktuell ist. Neben der Auswanderung werden in den Eurovisionsliedern auch andere Probleme unserer Zeit thematisiert: Klimawandel, Korruption und Intoleranz. So sehr sich die Eurovision als ein Ort ausserhalb der Politik positioniert hat, so wenig lässt sich die populäre Musik – und lassen sich die Frauen – in einen Elfenbeinturm sperren. Mit unterschiedlichem Mass an Authentizität singen Interpreten und Interpretinnen doch über das, was in der Welt und mit ihnen selbst geschieht. Wie sehr sie damit das Publikum erreichen, werden wir am 17. Mai erleben.
Aus dem Russischen von Elvira Hauschild Horlacher, Redaktion Felix Schneider.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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