Kommentar

Der Spieler: Das Quiz-Spiel, das keines ist

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Dauerbrenner und moderner Klassiker: «Anno Domini» wartet mit einer Bern-Ausgabe auf. Endlich, sagen die vielen Fans.

Auf den ersten Blick machte es den Anschein, als ob der Fata Morgana Verlag die sprichwörtliche bernische Langsamkeit hätte beweisen müssen, als er 1998 «Anno Domini» auf den Markt brachte. Quasi ein Nachzügler und We-Too-Produkt, mit dem die Schweizer auch noch auf der Erfolgswelle mitschwimmen wollten, die «Trivial Pursuit» rund fünfzehn Jahre zuvor ausgelöst hatte.

Trotz seines hohen Preises hatte «Trivial Pursuit» reissenden Absatz gefunden. Sein Geheimnis war eine geniale Mischung von Witz und Wissen, die weit entfernt war von der reinen Abfragerei früherer Quizspiele. «Trivial Pursuit», erster Repräsentant der neuen Gattung der Quiz- und Kommunikationsspiele, setzte sowohl qualitativ als auch quantitativ einen neuen Trend. Partyspiele, wie sie auch bezeichnet werden, erfreuen sich bis heute grösster Beliebtheit, gerade auch bei vielen so genannten Wenig- oder Gelegenheitsspielern. Neben dem Bahnbrecher «Trivial Pursuit», das heute bei Hasbro erscheint, entwickelte sich ab 1990 «Activity» (Piatnik) zur zweiten tragenden Säule der Partyspiele. Zwei Jahre zuvor schon hatte die Jury «Spiel des Jahres» Klaus Teubers Deduktions- und Knetspiel «Barbarossa und die Rätselmeister» mit dem Titel «Spiel des Jahres» ausgezeichnet und auf diese Weise der noch jungen Gattung gleichsam die höheren Weihen verliehen.

Urs Hostettler und seine Leute von Fata Morgana als blosse Mitläufer im erfolgversprechenden Trend? Der zweite Blick belehrt uns eines Besseren. Und zwar in doppelter Hinsicht:

Witz und Ironie
Erstens hatte der heute 65-jährige Hostettler seit Beginn der 1980-er Jahre eine ganze Reihe von Spielen veröffentlicht, die sich der Gattung der Party- und Kommunikationsspiele zuordnen lassen. Hostettler mag, wie er unlängst in einem Interview mit dem «Journal B» sagte, Spiele nicht, die nach den bekannten Mustern funktionieren und so «ein vereinfachtes Abbild von Wirtschaft und Handel» vermitteln und «ebenso systemkonform wie konservativ» sind. Spiele, «bei denen man nur darauf wartet, bis der andere einen Fehler macht, den man dann ausnützen kann», schätzt er ebenfalls nicht, wie er mir einmal gestand. Wenn Hostettler auf das in seinen Augen «gute» Spiel zu sprechen kommt, hebt er immer dessen kommunikativen Aspekt hervor. «Wenn man mit anderen Leuten zusammen ist, ist Spielen eine gute Sache. Man lernt sich kennen. Dafür eignen sich aber Spiele, bei denen es nicht bloss um Strategie und Gewinn geht. Es braucht Witz und Ironie,» sagt er im «Journal B»-Interview. Wer je einmal «Schicksack» (1983), das «Wahlspiel» (1983), «Kreml» (1986) oder «Der wahre Walter» (1991) gespielt hat, hat auf Anhieb gespürt, wie bei allen Spielen die Mitspielenden mit ihrem Charakter und der Art und Weise, wie sie sich in das Spiel einbringen, im Zentrum stehen, und nicht Material oder das Abarbeiten einer Spielanleitung. Ich spreche in diesem Zusammenhang gerne von Hostettler-Groove, ein wenig schräg, aussergewöhnlich, immer voller Witz und Ironie. Ganz besonders gilt dies auch für «Ein solches Ding» (1989), «Wie ich die Welt sehe» (2004) und eben «Anno Domini» (1998).

Innovative Spielidee
Zweitens ist Hostettler mit «Anno Domini» nicht einfach auf einen Trend aufgesprungen, sondern wartet mit einer innovativen Spielidee auf, die seither in verschiedenen Abwandlungen weiter verwendet worden ist. Das Spielprinzip ist sehr einfach, was auch die Beliebtheit von «Anno Domini» erklärt: In jeder Verpackung stecken 340 Karten. Auf der Vorderseite wird ein historisches Ereignis genannt, auf der Rückseite das Jahr, in dem dieses Ereignis eingetreten ist. Alle Mitspielenden erhalten 9 Karten, die sie mit der Ereignisseite nach oben vor sich ablegen. Mit dem Rest der Karten wird in der Mitte ein Stapel gebildet. Die Startspielerin oder der Startspieler nehmen nun eine Karte vom Stapel, lesen das entsprechende Ereignis vor und beginnen mit dieser die «Kette unseliger Ereignisse», wie es in der Spielanleitung heisst. Der nächste Spieler wählt aus seinen Karten eine aus und platziert sie nun ober- oder unterhalb der Startkarte. Oberhalb bedeutet, dass man davon ausgeht, dass dieses Ereignis chronologisch später als das Startereignis stattgefunden hat. Wenn man meint, das abzulegende Ereignis habe sich früher ereignet, ordnet man seine Karte unterhalb ein. Die Kartenkette bildet also den Zeitstrahl, auf dem die Ereignisse eingeordnet werden müssen. Natürlich kann niemand alles wissen, also schätzt man. Auch das funktioniert, solange niemand glaubt, die Kette enthalte einen Irrtum. In diesem Fall werden alle Kärtchen in der Kette umgedreht. Ist der zeitliche Ablauf korrekt, wird der Zweifler bestraft und muss zwei zusätzliche Karten vom Stapel zu sich nehmen. Weist die Kette der Ereignisse eine Unstimmigkeit, kommt an die Kasse, wer die letzte Ereigniskarte gelegt hat. Drei neue Karten müssen er oder sie nehmen, und damit reduzieren sich die Gewinnchancen: Sieger ist nämlich, wer als erster oder erste seine Karten abgelegt hat.

Diese technische Beschreibung des Spielablaufs wird dem Charakter von «Anno Domini» aber nicht gerecht. Denn das Spiel lebt nicht zuletzt von der unglaublichen Kreativität, dem Witz und der Lust am Spielerischen, mit dem Urs Hostettler seine Recherchen betrieben und die Ereignisse zusammengestellt hat. Nicht nur in der jüngsten Bern-Ausgabe, sondern in allen 26 Sets, die bisher zu den verschiedensten Themen erschienen sind und die insgesamt 9000 Ereignisse umfassen. Das Spektrum reicht von «Kunst», «Natur», «Deutschland», «Fussball» und «Sex & Crime» über «Gesundheit», «Ernährung» und «Erfindungen» bis hin zu «Kirche und Staat» und «Spiel des Jahres».

Einmalige Leistung
Seit ich damals (2004) als Mitglied der Jury mitgeholfen habe, Unterlagen und Materialien bereitzustellen sowie Fakten zu recherchieren, habe ich wahnsinnig Respekt vor der Leistung Hostettlers. Sie ist schlicht einmalig. Unglaublich, welche Ereignisse da auf den Karten auftauchen. Nur ein paar Beispiele aus der jüngsten Berner Ausgabe: So heisst es auf der Karte 10576: «Das erste Gurtenfestival ist ein voller Erfolg … bloss stehen die Musiker am Samstagabend auf der Hauptbühne im Dunklen. Niemand hat an das Licht gedacht.» Oder Karte 10591: «Der Luftschiffer Rossi macht von der Stadt aus eine Luftreise. Nach 2 Stunden kommt er gemütlich zurück.» Und schliesslich Karte 10522: «Werbung für das amtliche Kirchenblatt wird in Berner Trams und Bussen verboten.» Nun ordnen Sie mal richtig … Das Schöne an «Anno Domini» ist auch, dass es ausbaubar ist. Die Karten der verschiedenen Sets lassen sich problemlos zu einem «Wild Mix» mischen. So die Karte 4121 aus der Serie «Flops»: «Mattel lanciert eine Puppe für grössere Mädchen, der die Brüste wachsen, wenn man ihren Arm dreht. Das Modell findet nicht den erhofften Anklang» mit der Karte 1902 aus dem Set «Natur»: «Die französische Firma Sema bietet kugelsichere Westen für Jagdhunde an.» Auch hier wieder: Wie lautet die korrekte Reihenfolge?

Ich habe bei vielen Quizspielen schon oft erlebt, dass viele Menschen Angst haben, sich zu blamieren, falls sie etwas nicht wissen. Solche Spiele sind selektiv und bewirken genau das Gegenteil von dem, was Spiele eigentlich sollten: Verbinden. Bei «Anno Domini» kommen solche Ängste schon gar nicht auf. Hier muss sich niemand exponieren, weil nicht exaktes Wissen gefragt ist, sondern eine Einschätzung, eine Zuordnung. Gesunder Menschenverstand genügt, Bluffen ist dabei nicht verboten, manchmal sogar sehr nützlich: Man legt seine Karte demonstrativ selbstbewusst ab und erweckt so den Anschein, man wisse ganz genau, wie das entsprechende Ereignis chronologisch einzuordnen sei. Mögliche Zweifler lassen sich auf diese Art und Weise beeindrucken. Oder auch nicht. Man sieht: «Anno Domini» ist ein Super-Spiel.
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Anno Domini: Quiz-, Schätz- und Bluffspiel von Urs Hostettler für 2 bis 8 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. 27 verschiedene Themen. Verlage Fata Morgana und Abacus. Fr. 18.-


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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