Jara

Die Linke Jeannette Jara gewinnt die erste Runde der Präsidentenwahl in Chile, gilt in der Stichwahl aber nicht als Favoritin © SRF

Chiles Rechte bereitet sich auf eine Rückkehr an die Macht vor

Romeo Rey /  Die politische Stimmung in Chile hat sich gedreht. Ein rechter Hardliner könnte nächster Präsident werden.

In Chile hat die linke Kandidatin Jeannette Jara die erste Runde der Präsidentschaftswahl am Sonntag zwar knapp gewonnen, aber ihr Konkurrent, der ultrarechte José Antonio Kast, geht laut Umfragen als Favorit in die Stichwahl am 14. Dezember, weil ihm Stimmen der unterlegenen Kandidaten aus dem rechten Lager zufallen dürften. Der deutschstämmige Kast wäre der erste Rechtsaussen-Präsident in Chile seit dem Ende der Herrschaft von Diktator Augusto Pinochet (1973-1990). Kast selbst macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für die Pinochet-Diktatur.

Schon vor der ersten Wahlrunde sah die Situation komfortabel aus für die Konservativen: Drei Bewerber des rechten Lagers würden zusammen genug Stimmen sammeln, damit der oder die Meistgewählte bei der Stichwahl gegen die Kommunistin Jara triumphieren würde. Doch der Ökonom Franco Parisi könnte diese Berechnung allenfalls über den Haufen werfen. Am Sonntag landete der Aussenseiter-Kandidat mit knapp 20 Prozent der Stimmen überraschend auf dem dritten Platz – vor dem «libertären» Johannes Kaiser und der konservativen Evelyn Matthei. Entscheidend ist nun, wie sich Parisis Wählerschaft bei der Stichwahl orientieren wird.

«Preussen Südamerikas»

Nun haben die Stimmberechtigten im Andenstaat vier Wochen Zeit, um ihr Votum allenfalls noch einmal zu überdenken. Der ebenfalls deutschstämmige Johannes Kaiser, ein politischer Neuling und Anhänger des argentinischen Präsidenten Javier Milei, hatte sich im Wahlkampf mit Kast überworfen und in aller Eile eine eigene Partei aus dem Boden gestampft. Er könnte seinen Sympathisanten eine Losung schmackhaft machen, die dem Favoriten Kast nicht genehm wäre.

Auch die fünftplatzierte Evelyn Matthei hat deutsche Vorfahren, so ergibt sich ein für Lateinamerika einzigartiges Bild, dass Kandidatinnen und Kandidaten deutscher Abstammung die allgemeinen Wahlen vom vergangenen Sonntag – und vor allem die bevorstehende Stichwahl um die Präsidentschaft der Nation – deutlich dominieren. Das dürfte Geschichtskundige nicht überraschen. Der langgestreckte Staat zwischen den Kordilleren der Anden und dem Pazifik gilt allenthalben als das «Preussen Südamerikas», eine Etikette, die vor rund hundert Jahren mit der Präsenz einer deutschen Militärmission im Land geprägt wurde. Diese hatte im Einverständnis mit den lokalen Behörden den Auftrag, die chilenischen Streitkräfte auf deutsche Disziplin und Schlagkraft zu trimmen.

Diese Instruktion fiel auf umso fruchtbareren Boden, als schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts Scharen von deutschen Einwanderern nach Chile strömten und sich im südlichen, landschaftlich reizvollen Landesteil niederliessen. Sie übten in jener «Pionierzeit» im Kampf um den Boden zunehmenden Druck auf die indigene Lokalbevölkerung der Mapuche aus, was sich später bitter rächen sollte. Unglücklicherweise liessen sich nicht nur die Landarmee, Marine und Luftwaffe vom preussischen Geist anstecken, sondern auch die Carabineros, die im Land für Ruhe und Ordnung sorgen sollen. In kaum einem anderen Land Lateinamerikas marschieren die Ordnungshüter mit Knüppel, Gummigeschossen und Wasserwerfern so entschlossen auf wie in Chile.

Gemischte Bilanz der Regierung Boric

Wenn die Wahlberechtigten in einem Monat entscheiden, wer das Land in den nächsten Jahren regieren soll, ist es unumgänglich, eine Bilanz der vergangenen vier Jahre unter der Führung des jungen Kommunisten Gabriel Boric zu ziehen. Unter seiner Präsidentschaft ist die Formulierung einer neuen Staatsverfassung kläglich gescheitert. Weder eine von linker Seite beeinflusste Version noch eine vom rechten Lager abgesegnete Vorlage erwiesen sich bei der Bevölkerung als mehrheitstauglich. Der Status quo begünstigt demzufolge nach wie vor das konservative Lager, denn das bestehende Grundgesetz atmet den Geist und Ungeist der Pinochet-Diktatur.

Wirtschaftlich gilt Chile weiterhin als Bollwerk des Liberalismus in Südamerika, aber in den letzten Jahren hat es an Dynamik eingebüsst. Noch immer ist das Land stark und einseitig vom Bergbau, insbesondere von Kupfer abhängig – und neuerdings auch von Lithium. In diesen Sektoren werden jedoch nur spärlich neue Arbeitsplätzen geschaffen.

Was Chiles Bevölkerung vor allem Sorgen bereitet, ist das stetig wachsende Gefühl von Unsicherheit, wie man es bisher nie gekannt hat. Die Delinquenz hat in den meisten Bereichen zugenommen und wird generell mit der Zunahme der Einwanderung aus allen möglichen Ländern erklärt. Daran vermochte die Regierung Boric kaum etwas zu ändern, wie eine Analyse im «IPG Journal» darlegt. Das ist Wasser auf die Mühlen der Rechten, und allein dadurch droht das Pendel in Richtung «Law and Order» auszuschlagen. Ausführlicher setzt sich die britische BBC in ihrer spanischsprachigen Redaktion mit den Schwächen und Verdiensten der scheidenden Regierung auseinander.

Um eine objektive Einschätzung der geleisteten Arbeit von Präsident Boric bemüht sich auch die «Deutsche Welle». Dort wird hervorgehoben, dass seine linksgerichtete Herrschaft – wie in den meisten anderen Fällen auf dem Subkontinent – jederzeit im Gegenwind einer konservativen Mehrheit im Parlament stand und daher immer wieder mühsam mit gemässigten Kräften der Opposition verhandeln musste. Als Ausnahme könnte gegenwärtig in dieser Hinsicht eigentlich nur Mexiko gelten, dessen sozialdemokratisch orientierte Regierung im Kongress genug Sitze innehat, um Sperrmanöver der Rechten zu brechen.

In diesem regionalen Kontext unternimmt die «taz» den Versuch einer Einschätzung der begrenzten Fortschritte und vielfachen Schwierigkeiten unter linksreformistischen Regierungen wie jener von Boric. So sei in den letzten 15 Jahren keines der strukturellen Probleme des Subkontinents behoben worden. Noch immer beherrsche eine auf Export erpichte, rohstofflastige und die Umwelt zerstörende Politik die Wirtschaft. Gleichzeitig werde die Gesellschaft fast aller Länder der Region durch Banden von Drogenhändlern unterwandert, deren wichtigste Waffe die Bestechung lokaler Beamter sei.

Inmitten dieser bedrohlichen Lage, für die «natürlich die Linke verantwortlich» sein soll, wolle nun US-Präsident Donald Trump Lateinamerika «zurückgewinnen» und im gleichen Zug China daran hindern, Hand auf die natürlichen Ressourcen des Erdteils zu legen. Solche Konzepte und Schachzüge würden auf eine Reaktivierung und Potenzierung der imperialen Ansprüche der USA hinauslaufen. Wie Präsident James Monroe seinen Landsleuten schon 1823 verheissen hatte: «Amerika den Amerikanern!»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger» und die «Frankfurter Rundschau».
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Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen. Auch Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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