Interessenkonflikte.HMS

Interessenkonflikte zwischen Prüfern und Geprüften © HMS

Skandalöse Interessenkonflikte beim Testen von Arzneimitteln

Urs P. Gasche /  Experimente an Babys. Tests mit Erwachsenen ohne Zustimmung. Das war 1966. Heute geht es auch um Versuche mit Ozempic und Wegovy.

Mit dem Wirkstoff Semaglutid von Ozempic und Wegovy machte Novo Nordisk im Jahr 2024 einen Umsatz von sagenhaften 25 Milliarden Dollar. Etwa zwei Drittel dieses Umsatzes erzielte der dänische Pharmakonzern in den USA. Für die Aktionäre ein lukratives Geschäft: Der Aktienkurs von Novo Nordisk lag Ende 2024 beim Fünffachen des Kurses von Anfang 2022.

Doch der Appetit kommt mit dem Essen. Novo Nordisk bemühte sich um noch mehr Anwendungsmöglichkeiten des gleichen Wirkstoffs, namentlich bei Leber-, Nieren- und Herzkreislauferkrankungen. 

Bevor Arzneimittel an Menschen getestet werden, müssen Prüfgremien nach ethischen Prinzipien bestätigen, dass die Sicherheit der Testteilnehmenden gewährleistet ist. In den USA sind dafür die sogenannten Institutional Review Boards (IRBs) zuständig. Als IRB hatte Novo Nordisk die private Prüfungsfirma WCG bezahlt und beauftragt.

Es war Vorsicht geboten. Denn bei Tierversuchen hatten Laborratten Tumore entwickelt. Doch WCG gab für Tests an Menschen grünes Licht.

Unterdessen ist Semaglutid in den USA auch für entzündliche Fettlebererkrankung und für Nierenerkrankungen zugelassen. In Europa steht ein Entscheid noch aus.


Finanzinvestoren gleichzeitig an Ethikgremium und Pharmakonzern beteiligt

In einer aufwändigen Recherche hat die «New York Times» anfangs Oktober gravierende Interessenkonflikte gerade am Beispiel von Novo Nordisk und WCG aufgedeckt. 

Grosse Medien in der Schweiz und in Deutschland haben bisher nicht darüber informiert.

Novo Nordisk hat WCG häufig mit Prüfungen beauftragt, ob geplante Tests mit Patientinnen und Patienten ethisch zu verantworten seien. Auf der eigenen Webseite rühmt sich WCG als «vertrauenswürdiger Partner für 94 Prozent aller in den letzten fünf Jahren von der (US-Arzneimittelbehörde) FDA zugelassenen Therapeutika».

Die aufgedeckten Interessenkonflikte sind eklatant: 

  1. Die Prüfungsfirma WCG verdient auch an anderen Aufträgen von Novo Nordisk. Der Pharmakonzern beauftragte WCG beispielsweise, Vorgaben für Studien mit Patienten zu erstellen und die Testpatientinnen und -patienten gleich selber zu rekrutieren. Laut «New York Times» macht WCG bereits grössere Umsätze mit Aufträgen von Pharmafirmen (für das Durchführen von Studien) als mit der eigentlichen ethischen Überwachung.
    Für die «New York Times» handelt es sich um «einen klaren Rollenkonflikt».
  2. Die Verfilzung zwischen Novo Nordisk und WCG geht noch viel weiter: Die Muttergesellschaft von Novo Nordisk, Novo Holdings, ist an der Muttergesellschaft von WCG finanziell beteiligt.

«Es gibt nicht mehr viele Vorsichtsmassnahmen, um Menschen genügend zu schützen, die an Forschungsprojekten teilnehmen», erklärte Jill A. Fisher, Professorin am Center for Bioethics der University of North Carolina. Fisher und andere Expertinnen und Experten kritisieren gravierende Interessenkonflikte von Ethik-Unternehmen. Diese Verfilzungen seien in den USA heute eher die Regel als die Ausnahme. 

Tatsächlich gehören neben gewinnorientierten Investoren wie Arsenal Capital Partners und Leonard Green & Partners auch die Novo Holdings selber zu den Besitzerinnen von WCG. Die Muttergesellschaft des Pharmakonzerns Novo Nordisk besitzt laut «New York Times» etwa 28 Prozent der WCG-Aktien sowie einen Grossteil der WCG-Stimmrechte.

Zwei Vertreter von Novo Nordisk nahmen Einsitz im Verwaltungsrat des Unternehmens WCG. Im Gegenzug wurde der frühere Geschäftsführer der WCG ein gut bezahltes Beiratsmitglied von Novo Nordisk.

Die anderen Aktionäre von WCG, Arsenal Capital Partners und Leonard Green & Partners, sind ebenfalls an vielen Pharmafirmen, Pharma-Dienstleistern und Pharma-Zulieferern finanziell beteiligt.

Bei der Kontrolle von Teststudien an Patientinnen und Patienten sind Interessenkonflikte programmiert.

Seit sich Novo Holding und die genannten Private-Equity-Firmen im Jahr 2019 an WCG beteiligten, erhielt WCG von Novo Nodisk bis Ende 2024 den Auftrag zum Konzipieren von mindestens 46 Studien. «Dieser dramatische Anstieg deutet auf eine systematische Bevorzugung hin», kommentierte die «New York Times».

Ähnliche Interessenkonflikte gibt es bei der grössten Konkurrentin von WCG, nämlich der Firma Advarra. Im Juni 2022 übernahmen die Investment- und Private-Equity-Unternehmen Blackstone und CPP Investments die Aktienmehrheit von Advarra. Seither beschränkt sich Advarra nicht mehr nur auf ethische Beurteilungen von Teststudien, sondern beteiligt sich ebenfalls am Konzipieren und Durchführen solcher Tests.

Advarra und WCG prüfen zusammen den Grossteil aller klinischen Studien in den USA.

Über 2800 Klagen gegen Novo Nordisk

Ozempic Spritze
Ozempic-Spritze gegen Diabetes und Übergewicht: Sammelklage wegen seltener schwerer Nebenwirkungen

Novo Nordisk, Herstellerin des Diabetes-Medikaments Ozempic und der Abnehmspritze Wegovy (beide mit dem Wirkstoff Semaglutid) sieht sich mit über 2800 Klagen konfrontiert, Patientinnen und Patienten werfen dem Konzern vor, sie über mögliche seltene, aber schwere Nebenwirkungen von Semaglutid unzureichend aufgeklärt zu haben. Die Klagenden leiden unter Darmlähmungen und anderen Magen-Darm-Problemen, Gallenblasenschäden, Blutgerinseln oder Sehverlusten. Als Ursache vermuten sie Semaglutid. Laufend melden sich weitere vermutliche Opfer für eine Sammelklage.


Möglichst rasch einen Markt erobern

Um neue Arzneimittel rasch verkaufen oder bereits auf dem Markt befindliche für neue Indikationen einsetzen zu können, wollen Pharmakonzerne schnelle Testresultate. Häufig winkt ein Milliardengeschäft.

Geschwindigkeit sei denn auch der Grund, weshalb Pharmaunternehmen zunehmend auf kommerzielle Ethikkommissionen zurückgreifen, schreibt die «New York Times». Anstatt einen Monat oder länger auf die Bewertung einer Universität oder einer staatlichen Kommission zu warten, könne eine kommerzielle Ethikkommission innerhalb einer Woche eine Entscheidung treffen. Seit grosse gewinnorientierte Investoren bei diesen kommerziellen Ethikkommissionen eingestiegen sind, habe sich der zeitliche Druck noch verstärkt.

«Diese kommerziellen Überprüfer stellen sehr, sehr selten Fragen», sagte Lisa Shea, ehemalige Managerin bei einem Unternehmen, das Forschungsunterstützung für Pharma- und Medizinproduktehersteller anbietet.

Shea erklärte, sie habe in der Industrie an fast 100 Studien mitgearbeitet. «Die Protokolle (für die Tests an Patienten) sind nicht einwandfrei geschrieben, selbst wenn es sich um das endgültige Protokoll handelt.»

Das Gleiche gelte für die Einverständniserklärungen der Testpersonen – ein wesentlicher Bestandteil des Studienprotokolls. Drei Forscher hatten bereits 2017 im «New England Journal of Medicine» festgestellt: «Die Protokolle scheinen allzu oft eher darauf ausgelegt zu sein, die rechtlichen Interessen der Sponsoren zu schützen.»

Welche Folgen eine von Advarra in kurzer Zeit genehmigte Studie mit Personen, die haben, zeigte eine Untersuchung der «New York Times» im Jahr 2024. Unter den freiwilligen Studienteilnehmenden befanden sich 274 Personen mit einem genetisch bedingt höheren Risiko für Alzheimer. Nach Einnahme des Alzheimer-Medikaments BAN2401 erlitten diese vermehrt Hirnblutungen. Doch das Studienprotokoll der Testreihe sah vor, dass die Patienten die Testergebnisse nicht erfahren durften. Zwei dieser Freiwilligen starben. Mehr als 100 weitere erlitten Hirnblutungen oder HIrnschwellungen.

Advarra meinte in einer Stellungnahme, auch Ethikkommissionen ausserhalb der USA hätten das Testprotokoll genehmigt.

Novo Nordisk wollte zu den konkreten Vorwürfen der «New York Times» nicht Stellung nehmen.

Ethikkommissionen in der Schweiz und in Deutschland

In der Schweiz prüfen und bewilligen kantonale und regionale Ethikkommissionen alle Forschungsprojekte am Menschen, darunter klinische Versuche mit Arzneimitteln. Sie sind den jeweiligen Gesundheits- bzw. Sozialdepartementen der Kantone administrativ und fachlich unterstellt. Sie müssen die Vorgaben des Bundesgesetzes über die Forschung am Menschen (HFG) anwenden.

In Deutschland sind es die Ethik-Kommissionen, die meistens an Universitäten, Ärztekammern oder bei Landesbehörden angesiedelt sind. Für besonders komplexe oder dringliche Prüfungsverfahren gibt es seit 2025 auch eine bundesweite spezialisierte Ethik-Kommission beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Die Ethik-Kommissionen koordinieren sich im «Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen» (AKEK). Hier ist die Gesetzesgrundlage.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Pillen

Die Politik der Pharmakonzerne

Sie gehören zu den mächtigsten Konzernen der Welt und haben einen grossen Einfluss auf die Gesundheitspolitik.

Laufen_ElizabethTable4Five

Öffentliche Gesundheit

Ob wir gesund bleiben, hängt auch von Bewegungsmöglichkeiten, Arbeitsplatz, Umwelt und Vorsorge ab.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...