Gifttaucher

Ein Taucher erkundet eine Deponie mit versenkter Kriegsmunition © Arte

Giftiges Kriegs-Erbe: Chemiewaffen im Meer

Natalie Perren /  Auf dem Grund der Meere tickt eine Zeitbombe: Über eine Million Tonnen versenkte Chemiewaffen werden langsam undicht.

Einmal mehr deckt eine Arte-Reportage auf, was Militär und Regierungen jahrelang verheimlicht haben: Die Armeen der Weltmächte entsorgten zwischen 1917 und 1970 systematisch über eine Million Tonnen Chemiewaffen aus den Weltkriegen in allen Meeren der Erde. Jetzt rosten die Metallbehälter langsam durch und geben den hochgiftigen Inhalt frei. Senfgas, Phosgen, Tabun, Blausäure, Sarin – die tödlichen Kampfstoffe breiten sich über den Meeeresboden aus und bedrohen Fischer, Urlauber, Meerestiere und das gesamte Ökosystem.
Wie viele Giftgas-Bomben und -Granaten wo genau versenkt wurden, weiss bis heute niemand. Die Informationen wurden nie veröffentlicht. Das macht eine zielgerichtete Suche schwierig.
Bekannt ist: Nach dem zweiten Weltkrieg beschlossen die Siegermächte bei der Potsdamer Konferenz, die verbleibenden Chemiewaffenvorräte im Meer zu versenken – eine Lösung, die damals am einfachsten und sichersten schien. Dies geschah hauptsächlich in der Nord- und Ostsee, aber auch entlang der italienischen Adriaküste, im Golf von Genua und an der Côte d’Azur. Bis zu 300’000 Tonnen chemische Kampfstoffmunition und mehrere 100’000 Tonnen konventioneller Munition werden als gefährliches Erbe zweier Weltkriege am Grund der Ostsee vermutet.
Die Bombe tickt auch an den Küsten
Die Reportage von Nicolas Koutsikas, Eric Nadler und Bob Cohen zeigt auf, wie schwierig es ist, die gefährlichen Altlasten im Meer aufzuspüren und unschädlich zu machen. Aufzeichnungen in Archiven gibt es nur lückenhaft. Das Versenken der Waffen galt als militärische Geheimsache. In Grossbritannien und in den USA soll das Staatsgeheimnis erst im Jahr 2017 aufgehoben werden.
In Deutschland weiss man schon seit einiger Zeit, dass die Situation in der Nord- und Ostsee kritisch ist. Eine Arbeitsgruppe hat Archive durchforstet, Daten gebündelt und vor fünf Jahren in einem über 1000 Seiten starken Bericht öffentlich zugänglich gemacht.
Bekannte Versenkungsgebiete wurden fortlaufend auf Seekarten eingezeichnet. Doch es gibt ein grosses Problem: Taucher, die Kampfmittel räumen, finden Munition auch an Stellen, wo laut Karten eigentlich nichts liegen dürfte. Strömung und Grundschleppnetze haben die Munition auf dem Meeresboden verteilt. Eine andere Ursache ist das Vorgehen beim Versenken der Munition: Viele Schiffe fuhren nicht bis zur vorgegebenen Position, sondern kippten das gefährliche Gut schon vorher über Bord. «Die Kapitäne wollten die tödliche Fracht so schnell wie möglich loswerden», sagt Uwe Wichert, ehemaliger Marineoffizier und Experte der Arbeitsgruppe «Munitionsaltlasten im Meer». So ticken die chemischen Zeitbomben nicht nur in der Tiefe des Meeres, sondern auch direkt vor den Küsten angrenzender Länder.
Italiens Strände – eine Waffendeponie
Auch im Ferienland Italien liegen Giftwaffen unmittelbar vor Badestränden. Gianluca di Feo, Journalist der Zeitung «l’Espresso» hat jahrelang recherchiert, was mit dem Chemiewaffen-Arsenal aus dem zweiten Weltkrieg geschehen ist. Laut Schätzungen wurden unter Mussolinis Regime 12’500 bis 23’500 Tonnen chemische Kampfstoffe produziert. Dazu kommen Bestände, die von Nazi-Deutschland nach Norditalien und von den USA und Grossbritannien in den Süden des Landes gebracht wurden. Allein die USA bunkerten laut De Feo 200’000 chemische Bomben auf süditalienischen Flughäfen.
Aufnahmen mit Tauchrobotern und Sonargeräten zeigen: Grosse Mengen des mörderischen Stoffs liegen in nur 25 bis 30 Meter Tiefe auf dem Grund der Adria, an manchen Orten direkt vor der Küste. Doch dies ist kein Thema, das man öffentlich diskutiert – in Deutschland nicht und auch nicht in Italien. Bevölkerung und Lokalbehörden befürchten, Touristen könnten ausbleiben, wenn publik wird, welche Gefahr unter Wasser lauert.
Senfgasklumpen im Fischernetz
«Alle wissen von dem Problem, aber keiner spricht darüber», klagt der Fischer Vitantonio Tedesco. Vor fünf Jahren hat er am eigenen Leib erfahren, wie real die Gefahr ist. Als er vor der Hafenstadt Molfetta an der italienischen Adria seine Netze einholte, waren diese mit einer «seltsamen Substanz» verdreckt. Ein übler Geruch stach ihm in die Nase. Seine Augen brannten, er bekam kaum Luft, dann wurde er ohnmächtig. Auch seine Kollegen klagten fast täglich über Kopfschmerzen und Übelkeit, wenn sie vor Molfetta fischen. Dass dort überall auf dem Meeresgrund alte Giftgasbomben lagen, wusste die Bevölkerung nicht.
Erst eine Untersuchung brachte Klarheit: Tedescos Netz war mit einem chemischen Kampfstoff verschmutzt, möglicherweise mit Senfgas. Wenn das tödliche Gift aus den durchgerosteten Behältern dringt, bildet es im Wasser Klumpen, die bei Berührung schwere Hautschäden hervorrufen und Krebs auslösen können. Es kommt immer wieder vor, dass Fischer das gefährliche Gut in ihren Netzen an die Oberfläche holen. Viele werden dabei verletzt, einige starben sogar.
Gefährliche Bauarbeiten unter Wasser
Die Altlasten im Meer sind nicht nur für die Fischerei eine Bedrohung. Sie behindern auch immer wieder die Arbeiten an Infastrukturprojekten im Meer, etwa den Bau der deutsch-russischen Gaspipeline. Auch die geplanten Offshore-Windparks in der Nord- und Ostseee sind gefährdet. Bevor die Windräder ins Wasser gesetzt werden, müssen Taucher Quadratmeter für Quadratmeter nach Munition absuchen. Bei diesen «Aufräumarbeiten» werden die Taucher sehr oft fündig.
Experten weisen darauf hin, dass die Gefahr nicht allein von den chemischen Waffen ausgehe. In der Nord- und Ostsee wurden auch konventionelle Waffen versenkt, darunter schwere Geschütze, Bomben, Unterwasser-Minen und kistenweise Munition. Potentiell könnte eine Explosion eine Kettenreaktion auslösen, welche auf einen Schlag die Strände mit hochgiftigen Stoffen überschwemmen würde.
Wie gefährlich die giftigen Altlasten im Meer tatsächlich sind, lässt sich schwer sagen. Die meisten betroffenen Staaten haben Wissenschaftler beauftragt, Risikogebiete zu überwachen und das Ausmass der Bedrohung laufend zu analysieren. Bis jetzt zeigten Untersuchungen der Sedimente und der Fische noch keine alarmierenden Werte. Denn das Gift tritt sehr langsam und in geringen Mengen aus. Ob dies so bleibt, weiss jedoch niemand.
Ein gemeinsamer Aktionsplan ist gefragt
Theoretisch wäre es möglich, Chemiewaffen aus geringer Tiefe zu bergen. Doch Experten sind sich nicht einig, ob dies eine gute Lösung ist. Viele sind der Meinung, die Räumungsarbeiten seien zu gefährlich und zu aufwändig. Einig ist man sich hingegen, dass die betroffenen Länder einen gemeinsamen Aktionsplan brauchen. Einen Anfang macht das Projekt Chemsea, in dem elf Forschungszentren unter anderem aus Schweden, Finnland, Litauen und Deutschland zusammenarbeiten.
Japan ist schon einen Schritt weiter. Hier werden versenkte Chemiewaffen in Küstennähe systematisch unter Einsatz von Spitzentechnologie aus dem Meer geborgen und in einer riesigen gepanzerten Kammer vernichtet.
Die Arte-Reportage macht deutlich: Das Problem der militärischen Altlasten in den Meeren lässt sich nicht von heute auf morgen lösen. Ein erster Anfang wäre gemacht, wenn Militär und Regierungen für das angerichtete Desaster die Verantwortung übernähmen und Politik und Medien zum Thema nicht länger schweigen würden. «Es ist Zeit, mit der Geheimniskrämerei aufzuhören und die Fakten auf den Tisch zu legen» fordert der Journalist Gianluca di Feo, «sonst hinterlassen wir den nachkommenden Generationen ein entsetzliches Erbe.»

Die grossen Schweizer Medien haben über diese Arte-Recherche bis heute nicht informiert.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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