Das grösste Kunsthappening der Schweiz

Philipp Probst /  Angst, Wut, Verzweiflung: Die Katastrophe von Schweizerhalle erzeugte vor 25 Jahren ein historisch einmaliges Kunsthappening.

In Basel wird gerne zur Feder und zum Pinsel gegriffen. Wochenlang wird gedichtet und gemalt. An drei Tagen werden die Werke dann präsentiert. Danach werden sie zerstört oder verschwinden im Keller. All diese Kunstwerke auf Laternen, Zeedeln oder als Schnitzelbank live vorgespielt, macht die Basler Fasnacht zum Kunsthappening. Belebt von meist unbekannten Künstlern, Talenten und Laien.
Eine Katastrophe wurde zum Kunstereignis
Zu einem noch eindrücklicheren Kunsthappening kam es in der Nacht vom 7. auf den 8. November 1986. Für Jelena Stefanovic passierte damals sogar ein «historisches Ereignis». Sie hat für ihre Lizentiatsarbeit die Plakataktion der Basler Kunstschaffenden als Reaktion auf die Brandkatastrophe von Schweizerhalle eine Woche zuvor untersucht und analysiert. Die Historikerin kommt zum Schluss: «Die Plakate sind ein Zeugnis vom damals herrschenden Gegensatz, der einerseits aus Behörden bestand, die immer noch auf die Eigenverantwortung der Chemie schwörten und darum auch die Plakate durch die Polizei sofort wieder abhängen liessen, und den Menschen andererseits, die nicht einsehen konnten, dass man nach dieser Katastrophe einfach wieder zum Alltag zurückkehren konnte.»
Plakate wurde einfach vernichtet
Wie viele Plakate in jener Nacht vor 25 Jahren in der Stadt aufgehängt wurden, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Gemäss Augenzeugen sollen es Hunderte gewesen sein. Die meisten wurden offenbar so schnell wieder abgerissen, dass letztlich nur ein paar Dutzend Kunstwerke fotografiert werden konnten und der Nachwelt überliefert sind. Diese hat Historikerin Jelena Stefanovic unter die Lupe genommen.
Die Farbe Rot war dominierend
Auffallend dabei ist, dass die meisten Künstler ihre Pinsel in den roten Farbtopf tauchten. Doch das Rot wurde von den Malern nicht bloss dazu benutzt, um aufzufallen. Viel mehr stand es für den durch das Markierungsmittel, das mit dem Gift in den Rhein geflossen war, rotgefärbten Fluss. Das Hauptmotiv der Künstler waren Fische. Gefolgt von Menschen. Sie schreien. Sie sind, wie die Fische, teilweise auch als Skelette dargestellt. Oft wurden auch Gasmasken gemalt. «Diese Plakate deuten auf den Alltag hin, der auf die Menschheit zuzukommen droht, wenn sie die Chemie weiter gewähren lässt», fasst Historikerin Stefanovic zusammen. Schliesslich lebte die Basler Bevölkerung über Jahrzehnte mit dem Gestank der Chemie.
Fässer standen als Symbol der Seveso-Katastrophe
Natürlich wurden auch viele Fässer gemalt und gezeichnet. Fässer symbolisierten in Basel schon vor dem Brand in Schweizerhalle die Gefahren der Chemie. Fässer standen für den viel schlimmeren Chemieunfall in einer Fabrik, die zum Roche-Konzern gehörte, im italienischen Seveso von 1976. Die Entsorgungsreste dieses Unfalls wurden in Fässern zwischengelagert, verschwanden, tauchten plötzlich wieder auf und wurden schliesslich in Basel verbrannt.
»Mami, unser Fisch kann rückenschwimmen!»
Auch die Texter lebten ihre Wut aus. «Je röter desto töter», dichtete jemand. Oder: «Mami, Mami! Unser Fisch kann Rückenschwumm». Ein anderer Künstler schrieb: «Willst du auch rückenschwimmen?» Ebenso rhetorisch fragte ein anderer: «Wie bitte? Fischlein ertragen rote Farbe nicht?» Dazu gab es auch direkte Angriffe auf die Verantwortlichen der Chemiefirmen: «Wir haben alle im Griff. Die Fische und die Bevölkerung.»
Basel war nahe am Totentanz
All die Plakate drückten Angst, Wut und vor allem den Tod aus. Der Tod ist in Basel kein Tabuthema. An der Fasnacht wird er alle Jahre wieder thematisiert. Manchmal sogar zelebriert. Aber vor allem ist der Tod zu Basel der Totentanz. Ein begrünter Platz zwischen Universitätsspital, Drogenabgabestelle, Predigerkirche und Schifflände. Eine kleine Wiese. Heute nennt sich der Ort im Tram- und Busjargon «Haltestelle Universitätsspital». Aber in Wahrheit ist es immer noch der «Dootetanz». Denn hier hatte um 1440 ein unbekannter Künstler beim damaligen Dominikanerkloster einen Totentanz gemalt. Das Bild war etwa 2 Meter hoch und 60 Meter lang. Das Riesenwerk stellte eindrücklich aus, dass der Tod jeden Menschen plötzlich heimsuchen kann. Das Bild wurde mehrfach restauriert, vergammelte, und wurde schliesslich abgebrochen. Fragmente davon sind heute im Historischen Museum Basel zu besichtigen.
»Schweizerhalle» ist nach wie vor präsent
Glücklicherweise war die Brandkatastrophe von Schweizerhalle für die Menschen kein Totentanz. Nichts mehr erinnert an das Nahtod-Erlebnis einer gesamten Region. Auch die Kulturschaffenden haben schnell vergessen. Nur die «Markttische» der Künstlerin Bettina Eichin im Kreuzgang des Basler Münsters erinnern daran. Sonst sucht man vergebens nach Mahnmalen.
Auch die Schriftsteller finden kaum mehr Worte. Oder sie verstecken sie. Dies glaubt zumindest Felix Werner, Leiter der internationalen Büchermesse BuchBasel: «Es sind nicht Werke über das Erlebnis selber oder darauf aufbauende Fiktionen, die deutlich machen, dass die Erinnerung an ‚Schweizerhalle‘ nach wie vor präsent sind», sagt Werner. «Es sind viel eher fast schon beiläufige Hinweise darauf.» Als Beispiel nennt er das Buch «Hunkeler und die Augen des Oedipus» von Hansjörg Schneider.
Felix Werner ist auch überzeugt, «dass diese Erfahrungen bei den meisten Menschen, die ‚Schweizerhalle‘ bewusst erlebt haben, zu einer nachhaltigen Sensibilisierung gegenüber Umweltthemen geführt haben.»
Düstere Fasnachts – der Tod dominierte
Die Katastrophe war natürlich auch an der Fasnacht 1987 ein grosses Thema. Erst wurde sogar darüber debattiert, ob die Fasnacht abzusagen sei. Doch die Fasnacht war schon immer ein Ventil für die Bevölkerung. So auch damals. Für Auswärtige hatte die Fasnacht 1987 nichts mit den viel gepriesenen «Drey scheenschte Dääg» zu tun, sondern mit dem Totentanz. Der Journalist Heinz Eckert, damals Basler Neuzuzüger, schrieb später über seine erste Fasnacht am Rheinknie in der «Basler Zeitung»: «Ich traute meinen Augen kaum, als ich die unzähligen schwarzen Gestalten sah, die vielen Totenköpfe und die Särge, die herumgetragen wurden. So hatte ich mir als Innerschweizer, mit der katholischen Fasnacht vertraut, die drei schönsten Tage in Basel wahrlich nicht vorgestellt.»

Fasnachtskunst war Katastrophenkunst.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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