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Erste öffentliche Debatte über die deutsche Hegemonialpolitik © angr/cc

Deutsche Führung oder multipolare Weltordnung (I)

Red. /  Die deutsche Zeitschrift «Internationale Politik» propagiert die Führungsmacht Deutschland. Aber es regt sich Kritik.

«In Führung gehen» lautet der Titelschwerpunkt der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift «Internationale Politik», des einflussreichsten deutschen Fachblattes auf dem Gebiet der Aussenpolitik. Als gleichsam «wichtigster Aktionär der Europäischen Union», als ihr «grösster Nutzniesser» und vor allem als «wirtschaftliches Machtzentrum» habe Deutschland «die Aufgabe, in Führung zu gehen», behauptet die Chefredakteurin der Fachzeitschrift in ihrem Editorial. «Wer aber vorangeht, hat auch Richtung zu weisen und andere vom eingeschlagenen Weg zu überzeugen», heisst es weiter mit Blick auf das europäische Hegemonialstreben der Bundesrepublik.

Das Blatt druckt eine Reihe von Vorschlägen für die Ausgestaltung der «deutschen Führung» ab. Zum ersten Male stösst das Berliner Establishment damit eine breitere öffentliche Debatte über die deutsche Hegemonialpolitik an, über die bislang offiziell geschwiegen wurde. Die «Internationale Politik» hat in Fachkreisen sowohl im In- wie auch im Ausland eine beträchtliche Reichweite und sucht ihr Publikum auch darüber hinaus zu erweitern: Seit einigen Jahren ist sie nicht mehr nur im persönlichen Abonnement, sondern auch im öffentlichen Zeitschriftenhandel erhältlich (Mindestauflage: 6.000 Exemplare).

Deutschlands weltpolitische Mission

Neben Plädoyers, die Bundesrepublik solle sich in aller Welt vor allem für den Freihandel und für die «Menschenrechte» stark machen, ragt ein Beitrag aus den Schwerpunktartikeln heraus, der «Deutschlands weltpolitische Mission» in einer Erneuerung des transatlantischen Bündnisses sieht. Wie der Autor Ulrich Speck behauptet, habe die Bundesrepublik ihre «besten Jahrzehnte» im Rahmen «einer von den USA garantierten liberalen Weltordnung» durchlebt.

Jetzt hingegen sei diese Ordnung bedroht: «China, das neue Epizentrum der Weltökonomie», könne in absehbarer Zukunft «die Regeln der liberalen Weltordnung und die Art und Weise ihrer Durchsetzung in Frage stellen». Zudem sei «ein schrittweises Zurückziehen oder Zurückweichen amerikanischer Macht» zu beobachten, urteilt Speck im Hinblick auf die angekündigte US-Fokussierung auf Ostasien. Greife die Bundesrepublik nicht entschlossen ein, dann seien zwei unterschiedliche Szenarien denkbar; beide seien wenig verheissungsvoll.

Chaos und Terror

Im schlimmsten Fall, erklärt Speck, könne «der Rückzug amerikanischer Ordnungsmacht» ein machtpolitisches «Vakuum» verursachen. «Überall dort, wo Amerikas übermächtige Präsenz derzeit jeden Gedanken an Machtkonkurrenz im Keim erstickt», könnten «lokale und regionale Akteure» in Aktion treten und sich gegenseitig befehden. Sei keiner von ihnen «stark genug, sich durchzusetzen und territoriale Herrschaft auf Dauer zu etablieren», stünden der jeweiligen Weltregion «Chaos und Anarchie» bevor – ganz wie in Somalia. Die Zukunft werde in diesem Fall «von der Rückkehr einer historisch und zivilisatorisch für weitgehend überlebt gehaltenen Gewaltkultur geprägt» sein – von «Terror», von «Bürgerkrieg» und vom «sicheren Ende der globalen Wirtschaft».

Weltkrieg denkbar

Als zweites Schreckensszenario skizziert Speck eine Zukunft mit mehreren Weltmächten – eine «multipolare Ordnung». «Eine Balance of Power, bei der mehrere Machtpole Ordnung stiften und um die Vorherrschaft konkurrieren», dürfe man sich «keineswegs als dauerhaft friedlich oder stabil vorstellen – und schon gar nicht als fair». Vielmehr sei mit hartem Streit um «Interessensphären» zu rechnen – wie in «Europa vor dem Ersten Weltkrieg». «Der Ausbruch eines grossen Krieges wird wieder denkbar, zumindest Stellvertreterkriege sind zu erwarten», heisst es in dem Beitrag: Es stehe, sollte sich eine «multipolare Weltordnung» herausbilden, nichts anderes als «eine darwinistische Konkurrenz der Starken» bevor, in der «die Schwachen zu Spielbällen würden». Tatsächlich ist ein Zustand, in dem die schwächeren Staaten zu Spielbällen der grossen Mächte geworden sind, in der überkommenen, vom Westen dominierten Weltordnung längst erreicht.

Die EU als Hebel

Um die westliche Hegemonie zu erhalten, schlägt Speck einen «Ausbau der transatlantischen Partnerschaft» vor. Die «Renaissance des Westens» solle jedoch «ein gleichberechtigtes Bündnis» hervorbringen: Hätten bisher die USA klar dominiert, müsse nun Deutschland stärker berücksichtigt werden. Grundlage sei die EU, die Berlin ohnehin nutzen solle, um «deutsche(n) aussenpolitische(n) Strategien» zu neuer Schlagkraft zu verhelfen; Brüssel sei ein «Hebel» zur Durchsetzung deutschen Machtstrebens.

Wie es weiter heisst, sei auf dieser Grundlage «ein neu konzipiertes Format für den EU-US-Gipfel» denkbar: Wenn sich zweimal jährlich Präsident sowie Aussenminister der USA «mit den Spitzen der EU und den sechs führenden Regierungschefs der EU (Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Polen) sowie ihren Aussenministern träfen (…), dann sässen alle wichtigen Akteure am Tisch.» Den übrigen 21 EU-Mitgliedern gesteht Speck nur eine rotierende Vertretung von jeweils zwei Staaten pro Treffen zu. Ergänzend plädiert er dafür, ein «Generalsekretariat für die transatlantische Koordination in der Aussenpolitik» einzurichten; es solle «zum Gravitationszentrum für die transatlantische Zusammenarbeit» werden und die Dominanz des Westens in der Welt sichern.

Nicht unumstritten

Das Plädoyer für eine «Renaissance des Westens» ist im Berliner Establishment nicht unumstritten. Hochrangige Regierungsberater, unter ihnen zum Beispiel ein Mitherausgeber der «Internationalen Politik», treten für die «multipolare Weltordnung» ein, die der aktuelle Beitrag entschieden ablehnt. Auch in ihren Konzeptionen kommt aber eine zentrale Rolle der EU zu, für die die neue «Internationale Politik» entschlossen «deutsche Führung» fordert. Lediglich ein einzelner Beitrag im aktuellen Schwerpunktheft übt dezidiert Kritik an der aktuellen Berliner Hegemonialpolitik in puncto Lösung der Eurokrise. german-foreign-policy.com heute Donnerstag darüber.

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Dieser Artikel ist auf der Plattform «German-Foreign-Policy.com» erschienen.


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