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Den Staat im Griff: Ökonomie über Philosophie – Kupferstich aus Amthors «Project der Oeconomic» © -

Die Vierte Gewalt

Tom Wohlfarth /  Joseph Vogl beschreibt die parademokratische Macht der Finanzökonomie über einen nur noch scheinbar souveränen Staat.

Red. Tom Wohlfarth ist Kulturwissenschaftler und Philosoph. Er macht sich für das denkzentrum|demokratie Gedanken über Demokratie und Ökonomie und bloggt auf freitag.de. 2015 erschien sein Buch «Genie in der Kunst des Lebens».

In den vergangenen Wochen und Monaten ist angesichts vielfacher anderer Krisen die Finanz- und Eurokrise ein wenig in den Hintergrund der medialen Aufmerksamkeitsökonomie gerückt. Zeit also, wieder einmal daran zu erinnern, dass etwa Griechenland weiterhin fern von Genesung ist, der Druck der «Institutionen» auf die Regierung unvermindert. Spätestens seit den griechischen Wahlen im Januar 2015, die das Linksbündnis Syriza gewann, wurden die Vorgänge dort auch als Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Kapital wahrgenommen. Eine düstere Geschichte von deren langem mal mehr, mal weniger spannungsreichen Verhältnis seit Beginn der Neuzeit hat Anfang vergangenen Jahres als passende Begleitlektüre der Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl vorgelegt. Zeit, sich auch sie noch einmal vorzunehmen.
Vogls Buch «Der Souveränitätseffekt» hält der liberalistischen Doktrin einer Trennung von Staat und Markt, Politik und Ökonomie entgegen, dass wir uns nicht erst seit den 1970er oder spätestens den 1990er Jahren in einer ‹postdemokratischen› Epoche befinden, in der diese Unterscheidung nicht mehr trägt. Vielmehr habe es sie im Grunde nie gegeben. Das moderne Staatswesen sei von Anfang an durch «Indifferenzzonen»einer wechselseitigen Durchdringung von Politik und Finanzen gekennzeichnet, seine Demokratisierung etwa seit der Glorious Revolution in England habe gar von selbst ein «Souveränitätsvakuum» erzeugt, das Markt und Kapital bereitwillig ausfüllten.
Politische Ökonomie
Die moderne Ökonomie war schon zum Zeitpunkt ihrer Entstehung «politische Ökonomie», Inbegriff einer Regierungskunst, die weniger die theoretisch begründete Legitimität des Souveräns, sondern vielmehr die praktische Organisation eines Gemeinwesens und seine Wohlstandsvermehrung betraf. Als solche ist sie immer schon ein Teil des politischen Systems. Rousseaus Unterscheidung von «politischer Ökonomie» bzw. «Regierung» und «Souveränität» entspricht derjenigen von Exekutive und Legislative.
Diese Unterscheidung wird allerdings auf verschiedene Weise unterwandert und ausgesetzt. Auf dem Feld der politischen Ökonomie kommt es zu systemischen Interferenzen zwischen öffentlicher Verwaltung und privater Finanzwirtschaft sowie in deren Konsequenz zu einer Verschiebung von Souveränität. Vogl analysiert das anhand dreier Bereiche staatlicher Gewalt: dem Fiskus, dem Münzwesen und dem öffentlichen Kredit. An ihnen zeigt sich sowohl ein beständiges Changieren zwischen öffentlichen und privaten Interessen als auch eine dominante Durchmischung politischer und ökonomischer Theorie mit theologischen Residuen. (Hier ergeben sich übrigens viele Berührungen, vor allem aber Ergänzungen, mit einem fast gleichzeitig erschienenen Buch, Christoph Türckes «Philosophie des Geldes», die sich allerdings vornehmlich auf die theologischen Aspekte konzentriert.)
Alle drei Sphären etablieren eine Art Enklave, die den Staat einerseits auf Dauer stellt und sein Fortbestehen garantiert, zugleich aber sein Souveränitätsgefüge untergräbt. Das Münzwesen etwa war zum einen Hoheitsrecht und Darstellungsort des Souveräns, die Erhebung des «Schlagschatzes», der seigniorage, eine wichtige staatliche Einnahmequelle. Andererseits aber wurde seine operative Umsetzung privatwirtschaftlich organisiert, wovon sowohl die privilegierten Produktionsstätten als auch – und vor allem – die Handelsbänker profitierten, die für den Umtausch zwischen verschiedenen Währungen und Hoheitsgebieten sorgten und mit dem Einbehalten der jeweiligen Seigniorage als Gebühr eine Art Privatisierung öffentlichen Geldes und damit «eine kapitalistische Form der Bereicherung» betrieben.
Seigniorale Macht
Kein Wunder, dass die Staaten irgendwann zu dauerhaften Schuldnern der privaten Finanzinstitute wurden – meist anlässlich eines Krieges – und zur Finanzierung des Schuldendienstes auch Steuererhebungen, die bisher vor allem als temporäre Sonderabgaben vorkamen, verstetigten. Die Ausnahme, etwa der «Notstand» eines Krieges, war zur Regel geworden. Vogl nennt das die «Geburt des neuzeitlichen Staates aus dem Geist des öffentlichen Kredits». Es war zugleich die Geburt des modernen Finanzkapitalismus aus den Bedingungen «seignioraler Macht», einem informellen Gefüge privat-öffentlicher Abhängigkeiten.
In diesem Gefüge entstanden alsbald auch die ersten Vorformen von Zentralbanken, deren wichtigste die Bank of England werden sollte. 1694 im Dauerkriegszustand kurz nach der Glorious Revolution von privaten Kaufleuten gegründet, um über die Ausgabe der ersten Banknoten die Schulden des Königs zu finanzieren, und schliesslich selbst auf Dauer gestellt, markiert sie für Vogl das Ausfüllen eines Machtvakuums nach der Bindung des Königs durch das Parlament: «In der wechselseitigen Begrenzung politischer Kräfte bleibt einzig der Kredit unbegrenzt, der selbst wiederum eine effiziente Bindung der Regierungsgewalten diktiert» und dadurch gewissermassen die vakant gewordene Position absoluter Souveränität einnimmt und seine Gläubiger in Form der Bank of England faktisch als «Vierte Gewalt» im Staat etabliert.

Joseph Vogl: «Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als ­Gläubiger letzter Instanz platziert.»
Diese Stellung festigt sie zudem in einem «flagranten Strukturwandel der Öffentlichkeit» durch die Ausweitung der Finanzmärkte auf eine wachsende «investierende Öffentlichkeit», die Schaffung eines kaufkräftigen Finanzpublikums, das bald die öffentliche Meinung beherrschen und dadurch auch politische Entscheidungen beeinflussen sollte. Schon ganz am Anfang bürgerlich-demokratischer Teilhabe ist diese für Vogl «also von einer elementaren Spannung gezeichnet: Den Vermittlungsprozessen im Repräsentativsystem ist eine unmittelbare Besetzung exekutiver Funktionen durch die entstehende ‹Finanzmarktöffentlichkeit› gegenübergetreten», die freilich keineswegs als repräsentativ für die Gesamtöffentlichkeit angesehen werden kann.
Ökonomischer Staat
Diese Entwicklung gipfelte schliesslich in der weitestgehenden Institutionalisierung seignioraler Machtformen in den heutigen Zentralbanken als «exzentrische» Bestandteile exekutiver Regierungsgewalt. Das amerikanische Federal Reserve System etwa wurde 1913 als eine Art Aktiengesellschaft privater Banken, als «öffentliche Einrichtung in privatem Besitz» gegründet, um das bestehende Banken- und Finanzsystem abzusichern. Als wichtigste Voraussetzung für diese Aufgabe von Zentralbanken gilt ihre vollständige Unabhängigkeit von Regierung und Parlament. Auf diese Weise befreit von der «Tyrannei der zufälligen Majorität», sind sie selbst als «Geschöpfe moderner Demokratisierungsprozesse» zugleich «proto»- und «parademokratische, isolierte Regierungsenklaven […] zum Erhalt kapitalistischer Finanzierungsstrukturen» im sogenannten «demokratischen Kapitalismus». Als Modellfall dieser Zentralbank-Autonomie gilt übrigens heute die Deutsche Bundesbank, nach deren Vorbild auch die Europäische Zentralbank konstruiert wurde, und aus deren Gesetzesentwurf Vogl zitiert: «Auf dem Gebiet des Geldes müssen Einschränkungen der Freiheit in Kauf genommen werden, damit die Währung gesund und die Wirtschaft frei bleibt.»
Im Fall der Bundesbank bzw. ihrer Vorgängerin, der Bank deutscher Länder, die 1948 gegründet wurde, noch bevor überhaupt ein neuer deutscher Staat existierte, sind also die «Souveränitätsreserven» ihrer Unabhängigkeit sogar noch der Souveränität des Staatswesens vorausgegangen, von dessen Regierung sie überhaupt erst unabhängig sein sollte. Diese bemerkenswerte «Präexistenz» war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sich der diskreditierte deutsche Staat nach der Demontage seiner politischen Apparate noch am ehesten und einfachsten auf der Grundlage eines gemeinsamen Wirtschaftsraums neu begründen zu lassen schien. «Die Wirtschaft erzeugt Legitimität für den Staat», der dadurch als «radikal ökonomischer Staat» erscheint, spitzt Vogl mit Michel Foucault zu.
Regierung letzter Instanz
Lässt sich für die EZB und die Eurozone nicht eine ähnliche Konstellation festhalten? Nur dass hier die Währungsunion eine weitergehende politische Einigung bisher ersetzen sollte – mit den bekannten Folgen. Denn hier kommen die Souveränitätseffekte transnational zum Tragen. Der Maastrichter Vertrag von 1992 verpflichtet die Mitgliedsstaaten, ihre nationale Gesetzgebung an die Statuten der EZB anzupassen. Seitdem ist die Unabhängigkeit der EZB und ihr «vorrangige[s] Ziel der Sicherung der Preisstabilität» auch im deutschen Grundgesetz festgeschrieben. Damit aber ist Vogl zufolge nicht nur die Geldpolitik als einziger Politikbereich der demokratischen Kontrolle als «dem Zugriff von Interessentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandatsträger» (so das Bundesverfassungsgericht) entzogen und folglich das Demokratieprinzip aufgehoben. «Die Befugnisse über Geld- und Währungspolitik umschreiben vielmehr eine souveräne Position, von der aus ökonomisches Regieren über Regierungen ausgeübt wird, mithin eine Regierung letzter Instanz.»
Darüberhinaus hat hier eine keineswegs unanfechtbare (neo)liberalistische Doktrin Verfassungsrang erhalten, nämlich dass das oberste Ziel der Geldpolitik Preisstabilität – und nicht etwa Vollbeschäftigung oder Verteilungsgerechtigkeit – zu sein habe. Darin aber sieht Vogl eine deutliche «Privilegierung von Separatinteressen», nämlich einen «wirksamen Schutz für kapitalstarke Minoritäten», eine Bevorzugung des «Finanzpublikums» vor dem «Wahlpublikum». Ersteres habe sich somit über Souveränitatseffekte in den Zentralbanken «Agenturen einer ‹Reichtumsverteidigungspolitik›» geschaffen, von denen sie sich im «‹Klassenkampf› des Finanzpublikums gegen den Rest der Bevölkerung» gut vertreten wissen können.
Freilich gibt es auch zwischen Zentralbanken und Finanzmärkten weiterhin zumindest scheinbare Konkurrenz. Und doch haben sie spätestens in der jüngsten Finanzkrise seit 2008 einmal wieder das seit Jahrhunderten eingeübte Ritual der Verstetigung des Ausnahmezustands – Vogl spricht auch von einem «Staatsstreich» – gemeinschaftlich aufgeführt und damit diesen geteilten Souveränitätseffekt weiter befestigt.
Delegitimierung der Neuzeit
So weit Joseph Vogl. Die schwer leugbare Eindringlichkeit seiner Darstellung haben übrigens selbst seine Kritiker gelobt. Für Alexander Camman lief sie in der «Zeit» dennoch im Endeffekt auf eine gefährliche «Delegitimierung der Neuzeit» hinaus, gegen die man sich wehren müsse. Das ist völlig richtig, aber dazu hilft es nicht, so zu tun, als sei etwa mit der europäischen Griechenland-Politik alles in bester demokratischer Ordnung, nur weil der Bundestag seinerzeit gerade mit nie dagewesener Mehrheit eine Verlängerung der Griechenland-Hilfen beschlossen hatte.
Es hilft aber auch nicht, nur die konsequente Aussichtslosigkeit von Vogls Essay zu bewundern. Werner Plumpe etwa dreht in der FAZ häufig zu Recht Vogls Perspektive um und betont die Rolle des Staates und seiner Machthaber an den genannten Entwicklungen, die sich letztlich eben nur durch ein Zusammenwirken beider Seiten, privat und öffentlich, etablieren konnten. Es muss also auch Auswege geben.
Monetative und Marktwahl
Bezüglich Vogls Rede von der seignioralen Macht als einer «Vierten Gewalt» etwa kommen einem sofort die gegenwärtigen Versuche in den Sinn, über eine Vollgeldreform die Zentralbanken tatsächlich zu einer offiziellen, demokratisch legitimierten Vierten Gewalt zu machen: einer «Monetative», wie in Deutschland etwa der gleichnamige Verein sie nennt. Ziel ist es, die Geldschöpfung wieder ganz in öffentliche Hand zu geben und die private Giralgeldschöpfung durch Kreditvergabe der Geschäftsbanken zu unterbinden. In Island etwa prüft die Regierung derzeit einen von ihr in Auftrag gegebenen Reformvorschlag dazu. Und in der Schweiz hat sich die Vollgeld-Initiative gar eine Volksabstimmung darüber erarbeitet. Die Voraussetzung für diese Option ist freilich eine sehr weitgehende direkte Demokratie. Aber auch für die lässt sich politisch kämpfen. Der Fall Island zeigt allerdings, dass es auch anders gehen könnte, wenn auch die Diskussion dort erst am Anfang zu stehen scheint. Aber sie findet statt. Und je mehr Menschen sich daran beteiligen, desto grösser ist ihre Aussicht auf Erfolg.


Dieser Artikel ist bei demokratiEvolution erschienen.

Hinweise zum Buch:

Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt, Diaphanes 2015, 320 S., CHF 32.50


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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Eine Meinung zu

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 10.04.2016 um 09:58 Uhr
    Permalink

    Vor Jahren habe ich in einem Vortrag die rhetorische Frage gestellt «Was ist der Unterschied zwischen der Zentralbank und einem Falschmünzer ?» Die Antwort ist evident: technisch gibt es keinen Unterschied. Beide geben «Zahlungsversprechen» gegen reale Werte und profitieren so de facto von einem Gratiskredit der ökonomischen Partner.
    Währungszonen profitieren von der (mehr oder weniger freiwilligen) Gutgläubigkeit der Handelspartner. Der IWF und die WB haben so in der ganzen Welt den US-Seignorage durchgesetzt und lokale Währungen systematisch auf Gratiskredite an die US abgestützt ("out-side» money).
    Die Möglichkeit der lokalen Geldschöpfung «ex-nihilo» besteht aber und die Geldschöpfung durch lokale staatliche Institutionen dürfte sozial am besten verträglichen sein. Aber auch die Geldschöpfung im Banksystem kann gerechtfertigt werden, da der Seignorage Profit der Banken einen Teil der Transaktionskosten der Kunden reduzieren kann. Abweichungen von der «guten Praxis» sind auch hier immer möglich. Das ist eine neuere Form der staatlich tolerierten Wegelagerei.
    Beim Falschmünzer ist der, der das Geld gegen gute Ware akzeptiert frei, das nicht zu tun. Auch die Geldscheine der SNB sind ja erst seit den 50er Jahren legales Zahlungsmittel in der Scheiz. Diese Freiheit hat also lange bestanden.
    Die EZB hat aber von der US gelernt und die Möglichkeiten perverser Geldpolitik voll ausgeschöpft. Inflation als «Steuerersatz» ist zum Ziel der EZB geworden.

    Wie steht es mit der SNB ?

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