abfackeln

Bohrturm im Amazonasgebiet von Ecuador: Auf die Häuser und Felder in der Region regnet es Russ. © Silvia Fumagalli

Erdöl: Für die eine Seite Gift, für die andere Gold

Romano Paganini /  Wie Erdöl das Leben der Bäuerin Mariana im Amazonasgebiet Ecuadors und das der Reisefachfrau Beatrice aus Basel geprägt hat.

Prolog: Mariana muss sterben, damit Beatrice reisen kann

Wir sind soeben vom Treffen mit Mariana zurückgekehrt und dieser erste Satz, «Damit Beatrice reisen kann, muss Mariana sterben», den ich in meinen Notizblock schreibe, bringt mich ins Grübeln. Kann ich diese Geschichte wirklich so beginnen? Ich setze mich auf die Veranda unserer Unterkunft, umgeben von Palmen, Lianen und Vögeln. Kollege Alejandro hat sich inzwischen hingelegt, seine Kopfschmerzen sind zu stark geworden.
Mariana lebt etwas ausserhalb von Nueva Loja, am Eingang zum Amazonasgebiet, im Nordosten von Ecuador. Ihr Haus steht zurückgesetzt von der Hauptstrasse am Hang, nur etwa hundert Meter Luftlinie von einem Erdölbohrturm entfernt. Hier wird 24 Stunden am Tag Gas verbrannt. Und zwar seit 46 Jahren. Gleich dahinter steht eine Aufbereitungsanlage für Formationswasser, jenes Wasser, das mit dem Öl und Gas an die Oberfläche spritzt und hochgiftig ist.* Alejandro und ich haben die Gase heute eingeatmet. Beiden war es danach kotzübel. Die Kopfschmerzen des Fotografen halten nun schon seit Stunden an.
Als ich ein paar Tage später Beatrice über Skype davon erzähle, kann sie es nicht fassen. Die 68-jährige Baslerin gehört zu jener Generation, die mit dem Aufstieg des Erdöls gross geworden ist. Kein anderer Energieträger hat das Leben der Babyboomer derart geprägt wie das schwarze Gold. Damals, als sie noch jünger war, dachte sie nicht viel darüber nach. Ein halbes Leben lang verkaufte sie Reisen rund um die Welt und hat selber alle fünf Kontinente kennengelernt. Heute, in Zeiten des Klimawandels, kann sie deswegen manchmal nicht einschlafen. Daher rührt auch mein Grübeln. Beatrice ist meine Mutter.

* * *

Kapitel 1: Imprägniert mit dem Blut der Erde

Mariana zittert. Das kommt eigentlich nie vor, denn Angst gehört nicht zum Repertoire der vierfachen Mutter. Immerhin war sie es, die ihren Mann sechs Jahre zuvor überzeugt hat, in den Norden zu ziehen. Eine nicht enden wollende Trockenperiode hatte die Böden ihrer Heimat unfruchtbar gemacht: der Bankrott jeder Bauernfamilie. Und da die Regierung in Quito das Territorium im kaum bevölkerten Amazonasgebiet gegenüber Peru behaupten wollte – vor allem, um sich die dortigen Ressourcen zu sichern – und interessierten Siedlern deshalb Land in Aussicht stellte, packte Mariana kurzerhand die Koffer und fragte ihren Mann: «Kommst du mit?» Das war 1972 und Mariana voller Zuversicht.

Mariana, die Kämpferin: Seit bald fünfzig Jahren versucht sie den ecuadorianischen Regenwald gegen die Erdöl-Industrie zu verteidigen. Doch am Bohrturm vor ihrem Haus lodern die Flammen bis heute. Und zwar 24 Stunden am Tag. (Bild: Alejandro Ramírez Anderson)
Dicke, schwarze Rauchschwaden wabern an jenem Vormittag in den Himmel und rauben der Sonne ihre Strahlkraft. Über dem Haus von Mariana wird es dunkel und ihre Kinder, keines älter als zwölf Jahre, beginnen zu weinen. Die Familie flüchtet ins Innere des Zementblocks, verbarrikadiert Türen und Fenster, kauert sich auf den Boden. Sie umarmen sich, lauschen, zittern, warten. Wars das?, fragt sich Mariana und blickt ängstlich zum Strohdach. Ein einziger Funke würde reichen, um ihr ganzes Hab und Gut in Flammen zu stecken.
So weit kommt es nicht. Die Wolken hinter den Rauchschwaden bringen Regen und drücken den Russ zu Boden. Bäume und Pflanzen färben sich schwarz, genauso wie Sümpfe und Flüsse. Das schwarze Gold aus dem Bauch der Erde imprägniert den Regenwald und entzündet kurz darauf ein anderes Feuer. Jenes von Mariana.
Barfuss übers Erdöl
Es waren Mitarbeiter des US-Ölkonzerns Texaco, welche die Rauchwolken über ihrem Haus erzeugten. Anstatt die Industrieabfälle fachgerecht zu entsorgen, deponierten sie diese in Auffangbecken unter freiem Himmel und zündeten sie an. Das ist einfacher und vor allem günstiger. Die Praxis wurde im Amazonasgebiet gang und gäbe.
Texaco, der Erdölmulti mit Hauptsitz in New York, der sich für diese Praktiken später unter dem neuen Firmennamen Chevron (ab 2001) vor Gericht verantworten musste, tat seit seiner Ankunft 1964 so, als ob von der Industrie keine Gefahr ausgehen würde. Ohne Hemmungen liess er die schwarze Schlacke wie Jauche auf den frisch gerodeten Strassen um Nueva Loja ausbringen – auch auf jener, die den Weiler von Marianas Familie mit der Stadt verband und zum Schulweg der Kinder wurde. Sie kehrten regelmässig mit schwarzen Fusssohlen heim. Die Hitze weichte den Teer der Strasse auf und die zähe Masse klebte bei jedem Schritt ein bisschen mehr an den Sandalen der Schüler, bis ein Weiterkommen nur noch barfuss möglich war. Die Kinder wurden krank und litten zunehmend an Schmerzen in Beinen, Kopf, Hals und Ohren. Es tauchten Krankheiten auf, welche die Menschen der Region nicht kannten und deshalb auch nicht zu heilen verstanden.
Anfang der siebziger Jahre, als mit der Ankunft der neuen Siedler die ersten Bohrtürme in den Regenwald gepflanzt wurden und sich die Industrieabfälle in Boden und Wasser abzulagern begannen, wusste niemand genau, woher diese Krankheiten kamen. Information war genauso Mangelware wie Transparenz oder Schutz durch den ecuadorianischen Staat. Bisher hatten hier sechs indigene Nationen gelebt, weitgehend isoliert von der westlichen Industriegesellschaft. Doch im Amazonasgebiet galt fortan das Recht des Kapitals. Die Industrie verharmloste nicht nur, sondern pries das Erdöl sogar als Heilmittel an, etwa bei Rheuma. Also gingen einige Bewohnerinnen und Bewohner zu den Auffangbecken und rieben ihre Gelenke mit den dort gelagerten Abfällen ein. Gesundheitsversorgung war ein Fremdwort. Und die einzige Krankenstation weit und breit wurde von Texaco betrieben.
Der Magen wie ein Sieb
Das unbekannte Produkt, das mithilfe von Chemikalien aus den Tiefen der Erde geholt wurde, breitete sich aus wie eine Seuche und vergiftete schnell die wichtigste Lebensquelle: das Wasser. Dieses kam für Mariana und ihre Familie hauptsächlich aus dem Fluss Teteye, wo sich auch Jaguare und Pumas ernährten. Mariana und ihre Nachbarn wuschen dort Kleider und Körper, leerten das Wasser in Kochtöpfe und Flaschen und brachten es zu ihren Häusern.
Als die Erdölproduktion Fahrt aufnahm und die Tanklaster immer grösser und schneller wurden, verzogen sich die Raubtiere in den Wald. Die Menschen hingegen blieben, kochten das Wasser über dem Feuer ab und hofften so, die Chemikalien herausfiltern zu können. Dennoch roch es am Küchentisch von Mariana meistens nach Diesel. Selbst das Fleisch wurde ungeniessbar. Als sich Mariana deshalb bei der Stadtverwaltung von Nueva Loja und bei Texaco beschwerte, wurde sie abgewiesen. Sie habe schliesslich keine Beweise. Doch die hatte sie sehr wohl: Alle 60 Schweine, die die Familie damals hielt, verreckten innerhalb von drei Tagen, nachdem sie aus einem Auffangbecken der Industrie getrunken hatten. Als sie die Tiere aufschnitt, sah sie das verfaulte Fleisch. Die Mägen der Schweine glichen einem Sieb.

* * *

Kapitel 2: Per Flugzeug die Welt entdecken
Beatrice strahlt. Sie sitzt bei einem Glas Rotwein in einer Bar im Elsass und blickt in die Runde. Soeben hat sie zusammen mit Hans und ihren besten Freunden Doris und André beschlossen, auszuwandern. Sie wollen die Welt entdecken, bevor sie sich zur Familiengründung niederlassen. Auf ihrer Liste stehen Kanada, Südafrika und Australien. Ersteres erscheint ihnen zu kalt, das Letztere zu weit weg, und so entscheiden sie sich für Südafrika. Der Jumbo der Swissair bringt die abenteuerlustigen Basler von Zürich aus innert 15 Stunden ins 12’650 Kilometer entfernte Johannesburg. Erdöl sei Dank. Das war 1972 und Beatrice voller Zuversicht.

Erinnerungen an sechseinhalb Jahre Leben in Südafrika: In den 70er Jahren realisierte Beatrice erstmals, wie abhängig sie eigentlich vom Erdöl ist. (Bild: Piero Good)
Ihre Eltern waren es weniger. Sie hatten damit gerechnet, dass die älteste Tochter nach ihrem Auslandjahr in einer belgischen Klosterschule zurückkommt und mithilft, das neue Haus abzuzahlen. Der Vater krampfte als Oberkellner im Hotel «Drei Könige», die Mutter ging nach getanem Haushalt abends noch ins Restaurant «Brauner Mutz», um etwas dazuzuverdienen. Beatrice sah das. Doch sie sah auch, dass es ein guter Zeitpunkt war, ihre Koffer zu packen. Wann, wenn nicht jetzt?, fragte sie sich.
Die Umwelt war kein Thema
Sie heiratete Hans, zog mit ihm in eine möblierte Wohnung und begann zu sparen. Die Lehre als Reiseverkäuferin hatte sie hinter sich gelassen und organisierte nun Geschäftsreisen für den Chemiekonzern Ciba-Geigy (heute Novartis). Jobs gab es damals genügend und in der Schweiz lebte es sich relativ günstig. So günstig, dass sich Beatrice praktisch gleichzeitig wie ihr Vater – und noch vor der grossen Entscheidung im Elsass – ein Auto leisten konnte. Ein Döschwo war’s, grün und gebraucht. Mit seinen neun Pferdestärken brachte es «die Ente» auf rund sechzig Kilometer pro Stunde und verbrauchte auf hundert Kilometer höchstens acht Liter Benzin.
Gedanken zu Verbrauch und Umwelt machte sich Beatrice damals nicht. Die Umwelt war im Nachkriegseuropa kein Thema. Stattdessen feierte man den Aufschwung, pries die industrielle Landwirtschaft, den Plastik und die Kleider aus Polyester und genoss die neue (Auto-)Mobilität – Erdöl sei Dank. Woher der Rohstoff kam und wie er an die Tankstellen gelangte, spielte keine Rolle. Der Döschwo fuhr – das war die Hauptsache.
Erst im Jahr ihrer Auswanderung, als der Club of Rome in seinem Bericht «Die Grenzen des Wachstums» erstmals den «Peak of Oil» erwähnte, horchten einige in den Industrienationen auf. Allerdings wagten nur wenige daran zu denken, dass der wichtigste industrielle Energieträger der letzten Dekaden irgendwann aufgebraucht sein könnte.
Namibia, Brasilien, Hongkong
Beatrice und ihre Freunde hatten anderes im Kopf. Alle vier absolvierten in der Schweiz noch die Fahrprüfung, denn sie wussten: Ohne Auto kommst du in Südafrika nicht weit. Die weisse Führungsriege im schwarzen Land freute sich über die Neuzuziehenden aus Europa. Bewusst lockte sie internationale Firmen und ihre Mitarbeiter ans Kap, darunter auch Oerlikon-Bührle. Der Schweizer Rüstungskonzern lieferte Ende der sechziger Jahre Waffen nicht nur ans Apartheidregime, sondern auch ins Bürgerkriegsland Nigeria. Von dort kommt bis heute ein Grossteil des Erdöls für den Schweizer Markt.
Beatrice, mit drei Monatslöhnen ausgewandert, begann ihre Arbeit beim Reiseveranstalter Kuoni, wo sie 35 Jahre blieb. Sie verkaufte Reisen in die ganze Welt und fing auch selber an, sie zu entdecken: unsere Nachbarländer, die Tschechoslowakei, Portugal, Griechenland, Irland, Ungarn, Rumänien, Schottland, Zypern, die Türkei, die skandinavischen Länder, England, Israel, die USA, Kanada, viele Länder in Mittel- und Südamerika, Australien, Asien und den südlichen Teil von Afrika.
Wenn sie von Hotelketten nach Europa eingeladen wurde, richtete sie die Reise so ein, dass es für einen Abstecher nach Basel reichte. Was heute selbstverständlich ist, war damals ein Privileg. Ins Flugzeug stiegen vorwiegend Geschäftsmänner und vermögende Familien.
«Denver-Clan» und «Dallas»
Mitte der siebziger Jahre, während der Erdölkrise, konnte man auf einmal nur noch von Montag bis Freitag tanken. An den Wochenenden blieben die südafrikanischen Zapfsäulen geschlossen. Da wurde der jungen Frau erstmals bewusst, dass sie täglich einen Rohstoff konsumierte, von dem sie keine Ahnung hatte, woher er eigentlich stammt.
Sie wusste, dass er aus dem Boden kommt, doch wie – und dass am anderen Ende der Welt Mariana und ihre Familie ölverseuchtes Fleisch assen –, war weder ihr noch ihrer Generation bewusst. Woher auch? Der Blick hinter die Kulissen war – wie immer, wenn es um Rohstoffe geht – nicht erwünscht. Stattdessen flimmerten TV- Serien wie «Dallas» oder «Denver-Clan» über die Bildschirme, in denen die Protagonisten mit Formationswasser der Erdölindustrie bespritzt wurden und sich darüber freuten.

Die zweite Heimat Südafrika ist im Zuhause der pensionierten Reisefachfrau ebenso präsent wie das Erdöl: hier in Form von Plastikgefässen und dem Handy. (Bild: Piero Good)

* * *

Kapitel 3: Die Verschmutzung ausgelagert
Als die Erde in Titusville (Pennsylvania) zu rumoren beginnt, bringen sich die Mitarbeiter von Edwin Drake in Sicherheit. Sie befürchten, dass der Bohrturm explodiert, und verstecken sich hinter einem Hügel. Weder wissen sie, dass die schwarze Masse, die gerade aus dem Boden schiesst, das neue Gold sein wird, noch ahnen sie, dass ihr Arbeitgeber, ein ehemaliger Lokführer aus New York, als Entdecker des Erdöls in die Geschichte eingehen wird – immerhin in die US-amerikanische.
Das war 1859. In Venezuela soll die Schlacke bereits vor der Ankunft der Europäer entdeckt worden sein. In Bagdad hat man schon im 8. Jahrhundert nach Christus Strassen mit «alquitrán» geteert. Doch es sind die europäischen Auswanderer auf der anderen Seite des Atlantiks, welche die unterirdischen Wälder systematisch auszubeuten beginnen.
Die Welt schwimmt im Erdöl
Dabei war Erdöl Mitte des 19. Jahrhunderts nur als Zwischenlösung gedacht, um die Wälder zu schützen und den damaligen Holzmangel zu überbrücken. Aus einem Mangel entstand ein Zeitalter: das fossile. Erstmals in der Geschichte des Planeten beutete ein Lebewesen einen Energieträger aus, der nicht nachwächst. Es war weder ein Baum noch eine Pflanze, weder ein Tier noch ein Pilz. Es war ein Mineral. Und Mineralien brauchen Jahrmillionen, um sich zu bilden.
Man bohrte, als ob es kein Morgen gäbe. Es wurde Erdöl in Venezuela, Kanada, Schweden und der Ukraine entdeckt, genauso wie in Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, im Iran und im Irak. Die Alliierten sicherten sich noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs den Zugang zu wichtigen Lagerstätten im Nahen Osten.
Mariana befindet sich zu diesem Zeitpunkt im Bauch ihrer Mutter. Der Vater von Beatrice steht mit dem Gewehr im Anschlag in Riehen und sieht, wie auf der anderen Seite der Grenzen Bomben einschlagen und Flugzeuge abstürzen. Erdöl sei Dank.
Als der Krieg sechs Jahre später zu Ende geht, liegt Europa in Trümmern und die Erdölindustrie steht in den Startlöchern. Sie wird jene Welt gestalten, in der wir heute leben.
Endlagerung unter der Erde
Um den Prozess des Erdölabbaus und die damit verbundene Gefährdung der Natur besser zu verstehen, hören wir kurz einem Erdölingenieur zu, der an einer Privatuni in Quito unterrichtet:

    «Um das Öl aus der Erde zu holen, wird ein Loch gebohrt, in das Chemikalien eingelassen werden, unter anderem das krebserregende Benzol. Die Chemikalien sorgen dafür, dass das korrosive Formationswasser, das sich in der Regel zusammen mit dem Erdöl Hunderte, wenn nicht Tausende Meter tief in der Erde befindet und mit dem Gas für den nötigen Druck sorgt, die Geräte der Industrie nicht beschädigt.»
    «Einmal an der Oberfläche, wird das Wasser mit Hitze vom Erdöl getrennt und landet in einem Tank, der mittels Gas abgedichtet ist. Das Erdöl wird über eine Pipeline zur Raffinerie gepumpt, das Gas genutzt, verbrannt oder zurück in die Lagerstätte geleitet. Ähnliches geschieht mit dem Wasser: Entweder landet es wieder dort, wo es herkommt, sodass sich der Druck im Boden weiter erhöht und die letzten Erdölvorkommen des Bohrlochs ausgeschöpft werden. Oder aber die Maschinen pumpen es 1000 bis 1500 Meter unter den Boden, wo es in einer von Sand durchdrungenen Erdschicht zur Endlagerung eingespeist wird.»

Der perfekte Teufelskreis
So viel zur Theorie. Die Praxis im 20. Jahrhundert war eine andere und variierte je nach Mitteln, Weltregion und Interessen. In Ecuador wurde das hochgiftige Wasser über Jahrzehnte in die Sümpfe und Gewässer des Amazonasgebiets geleitet – auch in den Teteye, an dem Mariana und ihre Familie lebten. Das kümmerte in den siebziger und achtziger Jahren niemanden. Mariana organisierte sich zwar mit anderen Frauen, wurde bei den Ministerien in Quito vorstellig und beschwerte sich bei den Firmen. Doch die Bewohnerinnen und Bewohner rund um Nueva Loja waren zunehmend von der Industrie abhängig. Aus den Siedlern, die sich im Amazonasgebiet ein besseres Leben erhofft hatten, wurden billige Arbeitskräfte und kranke Menschen. Sie halfen bei der Rodung im Regenwald, beim Anlegen neuer Bohrtürme, bei der Wartung der Maschinen und finanzierten so die Arztbesuche ihrer Familien bei Texaco – der Teufelskreis war perfekt.

Giftige Rückstände der Ölindustrie im ecuadorianischen Regenwald. (Bild: Julien Tomba/Flickr/cc)
Davon bekommt man in Zentraleuropa kaum etwas mit. Hier wird das Erdöl nur raffiniert und dann an Endverbraucher wie Beatrice verkauft. Die Verschmutzungen finden anderswo statt, im Fall des in der Schweiz verbrauchten Erdöls in Algerien, Libyen, Nigeria, Aserbaidschan und Kasachstan.
Die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts wandelt sich im Lauf des 20. in eine Dienstleistungsgesellschaft. Ausbeutung, Produktion und Transport von Rohstoffen werden zwar finanziert und gesteuert, aber nicht verantwortet. Durch Süssstoffe, die dem Benzin beigemischt werden, bekommen die Autofahrenden nicht einmal mit, dass Erdöl eigentlich einen äusserst fiesen Geruch hat. Alles läuft wie am Schnürchen. Und während das schwarze Gold den Blauen Planeten überschwemmt, geht das Verständnis dafür, dass Industrialisierung immer auch Verschmutzung bedeutet, mehr und mehr verloren. Europa entwickelt sich zu einer Sauberkeitsinsel, zu einer einzigen grossen Gated Community nördlich von Afrika.
Mitverantwortlich am Ungleichgewicht
Seit 1945 ist die Kurve des Erdölverbrauchs steil nach oben geschossen. Die Industrie brachte es fertig, den Rohstoff so weit zu verfeinern, dass er aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken ist: Shampoo, Waschmittel, Seife, Haarspray, Zahnbürste, Autositze, Fussböden, Kübel, Folien, Matratzen, Kreditkarten, Computergehäuse, Farben, Verpackungen, Fensterrahmen, Vaseline, Pestizide – dies ist nur ein kleiner Auszug aus der Liste von Produkten, die Erdöl enthalten. Und eigentlich könnte man das Erdöl auch in einer anderen Liste führen: zusammen mit Alkohol, Kokain oder Heroin. Wir sind, teilweise unwissend, abhängig vom Erdöl, als ob es eine Droge wäre. Bei einem kalten Entzug würde unser Alltag innert kürzester Zeit zusammenbrechen.
So gesehen erscheint die Rhetorik von Trump und Konsorten, die weiterhin auf fossile Energieträger setzen, wie ein Selbstmordkommando nach dem Motto: «Bitte weiterschlafen, wir sind noch nicht fertig mit der Erde.» Der Klimawandel, der uns als Spezies zusammenrücken lassen müsste, sorgt stattdessen für ideologische Grabenkämpfe.
Wer sich informiert, weiss, wie viel Material wir in den vergangenen hundert Jahren aus dem Planeten gekratzt, gebohrt, gepumpt und über Emissionen in die Atmosphäre weiterverteilt haben. Und wer auch nur über ein Minimum an gesundem Menschenverstand verfügt, begreift, dass wir Menschen für das aktuelle Ungleichgewicht auf dem Planeten mitverantwortlich sind – egal ob wir das jetzt Klimawandel nennen oder nicht. Dies ist schliesslich nur ein Begriff, um dem Unfassbaren einen Namen zu geben.

* * *

Kapitel 4: Die Hilflosigkeit der Hoffenden
Mariana zieht Gummistiefel an, holt eine Machete aus dem Schrank und nimmt einen Hundewelpen auf den Arm. Wir gehen hinunter zur Kakaoplantage. Sie grenzt an einen zwei Meter hohen Drahtzaun, dahinter ist der fauchende Bohrturm. Wenn der Wind dreht, dringt der Geruch von verbranntem Gas bis in die Küchen der Nachbarschaft. Die Anlage gehörte lange Texaco, ehe sie Anfang der neunziger Jahre von der staatlichen Petroamazonas übernommen wurde. Eine Aufbereitung der Erde, wie sie einst versprochen wurde, hat bis heute nicht stattgefunden. Und es ist fraglich, ob das je geschehen wird. Erst kürzlich hat ein Schiedsgericht in Den Haag die in Ecuador verhängte Strafzahlung gegen Texaco/Chevron in Höhe von 9,5 Milliarden US-Dollar für unzulässig erklärt. 30’000 Ureinwohner Ecuadors hatten das Unternehmen auf Schadenersatz verklagt, weil über zwei Millionen Hektaren Land durch giftige Flüssigkeiten und Ölrückstände verseucht wurden. Der Konzern wies die Verantwortung für die Umweltschäden zurück.
Mariana ist eine der führenden Aktivistinnen in der Region. Sie hat die Geschichte mit den Rauchschwaden hundert, wenn nicht tausend Mal erzählt: vor nationalen und internationalen Journalisten, in Gerichten und vor Anwälten, an Podien und Seminaren, in Lateinamerika, den USA und in Europa. Und nun steht sie also wieder in ihrer Kakaoplantage, um zu zeigen, was niemand sehen wollte. Mit der Machete hackt sie eine verfaulte Frucht auf und hält sie in die Kamera. «Ein Drittel der Schoten», sagt sie, «können nicht verkauft werden.»

Verfaulter Kakao: Die Plantage von Marianas Familie steht in der Nähe eines Bohrlochs, wo seit 1972 Erdöl abgebaut wird. (Bild: Alejandro Ramírez Anderson)
«Wir wussten gar nicht wohin»
Mariana ist inzwischen 78 Jahre alt. Sie hat Dutzende Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder an den Krebs verloren: Magen, Lunge, Gebärmutter, Darm, Haut, Leber, Hirn, Knochen, Brust, Eierstöcke, Prostata, Blut. Die Krebsrate in der Region liegt 130 Mal höher als sonst im Land. Während Texaco täglich Tausende Liter Erdöl Richtung Norden verschiffte und den USA so eine Hauptrolle im Theater um die Weltmacht bescherte, starben im Amazonasgebiet ganze Familien weg. «Einst dachten wir ans Wegziehen», erinnert sich Mariana. «Doch wir wussten gar nicht wohin. Wir haben unser ganzes Vermögen in dieses Haus gesteckt.»
Heute fühlt sich die Witwe zuweilen müde und schwach. Sie hat Schmerzen im Kopf, in den Augen und im Magen. Dennoch will sie weiterhin Zeugin sein – auch weil sie eine der letzten ihrer Generation ist, die noch lebt. «Einfach ist das nicht», sagt sie und bricht ab. Ihre Tränen spiegeln fünfzig Jahre Leidensgeschichte. «Ich hoffe», beginnt sie von Neuem, «dass das Land, das ich einst besiedelt habe, irgendwann etwas für meine Nachfahren abwirft.»
Enkelin und Neffe übernehmen
Eine der Enkelinnen von Mariana wirkt heute als Freiwillige in derselben NGO wie die Grossmutter, ein Neffe organisiert die sogenannte Tóxic-Tour. Er zeigt Menschen aus aller Welt die veralteten Bohrtürme, das verschmutzte Sumpfgebiet und die Auffangbecken mit den Industrieabfällen. Auch Filmstars und Musiker wie Brad Pitt oder das Duo «Calle 13» waren schon hier, versuchten Öffentlichkeit zu erzeugen und spendeten Dutzende von Wassertanks mit Aktivkohlefiltern. Diese Tanks stehen auf den Dächern der Betroffenen und filtern das Regenwasser. Wasser aus dem Boden will hier niemand trinken.
«Niemand darf jetzt die Arme verschränken», fordert Mariana. Der Kampf müsse weitergehen: «Das einzige Erbe, das wir unseren Urenkeln überlassen können, ist eine etwas ausgeglichenere Umwelt.»

Auf einer «Tóxic-Tour» führt Marianas Neffe Donald Moncayo Menschen aus aller Welt an ölverschmutzte Orte im Regenwald. (Bild: Alejandro Ramírez Anderson)
«Weiss nicht, was machen»
Drei Tage später skype ich mit meiner Mutter. Sie hat die Läden im Zimmer heruntergelassen und eine Tasse kalten Hagebuttentee neben sich. Sie mag sie nicht, die Julihitze. «Man kann gar nicht mehr aus dem Haus, gerade wenn man älter wird.» Deshalb gehen sie und ihr Mann jeweils frühmorgens walken.
Beatrice hat sich nach der Rückkehr aus Südafrika Ende der siebziger Jahre am Greifensee niedergelassen und ist dort geblieben. Sie gründete eine Familie, sang im Kirchenchor, arbeitete Teilzeit bei Kuoni im Glattzentrum und flog mit uns im Sommer – dank ihrer Arbeit – nach Kreta, in die Türkei oder auf die Kanarischen Inseln. Als 1991 im Irak Krieg ums Erdöl ausbrach, war sie auf einer Studienreise in Südafrika.
Ich erzähle ihr von Mariana: von den Krankheiten und Fehlgeburten, den verendeten Tieren und vom Bohrturm, von den Drohungen und Bestechungsversuchen der Industrie, damit die Familie endlich aus Nueva Loja wegzieht.
Wir haben bei meinem letzten Besuch in der Schweiz vor zwei Jahren über die Hilflosigkeit diskutiert; über das Unvermögen, aktiv zu werden und die multiplen Krisen – trotz all unserer eigenen Widersprüche – irgendwie auf die Strasse zu tragen. Auf jene Strasse, die von billigen Arbeitskräften aus Portugal, Spanien und Albanien gebaut und unterhalten werden und auf denen 200 bis 300 PS starke SUV fahren, die zwischen 12 und 16 Liter Benzin verbrennen. «Ich finde es grauenhaft», sagte Beatrice einmal, «aber man weiss gar nicht mehr, was man machen soll. Es ist alles so komplex geworden.»
Ratlosigkeit und Ohnmacht
Ich spreche sie auf ihren jüngsten Urlaub in Südafrika an, auf die beiden Autos, die sie und ihr Mann noch bis vor wenigen Monaten hatten, auf die Produkte aus Übersee, das Sojalecithin, das Palmöl, die Bananen, die Mandeln, die Schokolade, den Kaffee, die Kleider aus Asien und die Schuhe aus Osteuropa – und merke: Meine Mama weiss das alles. Sie kauft seit Jahren biologisch und regional ein, verzichtet schon lange auf Erdbeeren im Winter und gönnt sich nur noch ganz selten eine Mango. Oft steht sie vor den Regalen im Supermarkt und ist überfordert von der grossen Auswahl. Die Konsumgesellschaft, die von der Generation meiner Mutter mitgestaltet wurde, hinterlässt Ratlosigkeit, ein Gefühl der Ohnmacht und einen arg gebeutelten Planeten.
Dann wird ihre Stimme hart, der Rhythmus schneller und die Empörung grösser: «Seit Fukushima ist die Umwelt in der Politik kein Thema mehr. Wir sind alle mit Trump, Erdogan und den Flüchtlingen beschäftigt. Doch was hilft uns das, wenn das Klima vor die Hunde geht?!»
Meine Mutter und ich führen diese Diskussion nicht zum ersten Mal und unsere Argumente wiederholen sich auch heute. Doch sie erwähnt zum Schluss einen Punkt, der mir bleibt: «Ich kenne Menschen in meinem Umfeld, die nicht oder wenig fliegen, kein Auto haben, wenig Fleisch essen und dennoch wahnsinnige Egoisten sind. Sie pflatschen in ihrer eigenen kleinen Welt herum, motzen über alles und jeden und sind überhaupt nicht zufrieden mit ihrem Leben.»
Ein paar Wochen später überfliege ich das Transkript vom Juli noch einmal und frage mich: Meinte sie mich?

* * *

Epilog: Damit Beatrice reisen kann, muss Mariana sterben
So drastisch, wie die Geschichte begonnen hat, wird sie nicht enden. Nach dem Gespräch mit den beiden Frauen, den Recherchen vor Ort und dem Treffen mit Ärzten, Anwälten und Ingenieuren der Erdölindustrie kann ich gar nicht sagen, ob der Satz wirklich berechtigt ist. Stattdessen gebe ich bei Google den Begriff «Widerspruch» ein und stosse auf ein Zitat des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900):
«Notwendige Widersprüche im Denken, um leben zu können.»
Also doch: zuschauen, wie sich das Klima wandelt und die Zahl der Autos weiter zunimmt, wie Ozeane im Plastik ertrinken und Supermarktketten ihre Produkte doppelt verpacken, wie Menschen wegen des Klimawandels flüchten und in den Städten vor sich hinsiechen, wie Krieg um Erdöl und andere Rohstoffe geführt wird und die Vertriebenen im Meer ertrinken, wie die Menschen in Schwellenländern so leben wollen wie in Europa und die in Europa Angst haben, dies bald nicht mehr zu können, wie ich in den Flieger steige und Biogemüse konsumiere.
Jetzt bloss nicht – wie Nietzsche – die Nerven verlieren. Es gibt ja auch Transition Towns mit ihrer eigenen Währung und Repair-Cafés mit ihrer Haltung. Es gibt Bäuerinnen und Bauern, die Verträge mit ihren Kunden abschliessen, sodass beide Seiten als Menschen näher zusammenrücken. Es gibt Urban-Gardening-Projekte, wo Grün Grau verdrängt und frischen Wind in die Städte bringt. Es gibt das gemeinsame Wohnen von Jung und Alt, das Verständnis zwischen den Generationen schafft. Es gibt Lehmhausbauer, Trockenklo-Konstrukteure, Foodsharing-Gemeinschaften, Degrowth-Bewegungen, stille Anarchisten. Und es gibt die Schweigenden irgendwo draussen auf dem Land, die den Umweltschutz nicht predigen, sondern leben. Sie alle brauchen wenig oder gar kein Erdöl und bieten den Nachfahren von Mariana und Beatrice eine Perspektive.
Wie heisst es so schön: Es gibt Generationen, die eine Zivilisation erhalten, und andere, die eine aufbauen.

* Trotz mehrmaligen Nachhakens bei der staatlichen Firma Petroamazonas, die für die Anlage neben dem Haus von Mariana zuständig ist, haben wir keine Antworten auf unsere Fragen erhalten.
—-
Dieser Beitrag erschien zuerst auf mutantia.ch und im Magazin von Greenpeace Schweiz.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor lebt in Lateinamerika und betreibt von dort aus unter anderem die Website mutantia.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Konzerne_UggBoyUggGirl

Die Macht von Konzernen und Milliardären

Wenn Milliarden-Unternehmen und Milliardäre Nationalstaaten aushebeln und demokratische Rechte zur Makulatur machen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.