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Flüchtlinge – an der Grenze Deutschlands oder an der Grenze Europas? © EPRS

Im Alleingang ist das Flüchtlingsproblem nicht zu lösen

Kai Ehlers /  Europa first oder Deutschland first? Eine Mauer um Deutschland oder eine Mauer um Europa? Anmerkungen zu einer Scheinalternative.

Red. Der Streit Merkel/Seehofer in Deutschland wurde in allen Medien – auch in der Schweiz – intensiv und ‹mediengerecht› gezeigt und besprochen. Der deutsche Publizist Kai Ehlers sieht diesen innenpolitischen Streit zwischen CDU und CSU aus einer anderen Perspektive – global und langfristig. Das Problem der Flüchtlingsströme muss endlich an den Wurzeln des Problems angegangen werden. Grenzbefestigungen – ob um Deutschland oder auch um ganz Europa – taugen wenig. Ein Gastkommentar.

Europa retten? Deutschland retten? Vor wem? Es scheint, dass die in den zurückliegenden Jahren allgegenwärtige ‹russische Bedrohung› in Deutschland und Europa zurzeit von einem Problem in den Hintergrund gedrängt wird, von dem in staatstragenden Kreisen offenbar noch mehr als von der ‹russischen Gefahr› befürchtet wird, dass es die Einheit Europas, zumindest die Regierungsfähigkeit der Grossen Koalition Deutschlands, sprengen könnte.
Geredet wird grob von «Asyltourismus», der von Deutschland «gesteuert» werden müsse, so Markus Söder, Ministerpräsident Bayerns im Chor mit Heimatminister Horst Seehofer und der CSU. Etwas gemässigter spricht die Generalsekretärin der CDU, Annegret Kram-Karrenbauer von ‹Migranten›, die von Europa, speziell von Deutschland, wie von einem Magneten angezogen würden und gegen die Europa seine Aussengrenzen schützen müsse. Die AfD darf sich erfolgreich fühlen. Von Seiten der SPD und der übrigen politischen Szene wird der Schaukampf zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer verhalten beobachtet.

Alternativen werden aufgebaut, wie mit den Asylsuchenden in Europa umzugehen sei, getragen von der Bundeskanzlerin Merkel einerseits, die für eine ’solidarische› Lösung wirbt, soll heissen, für eine Lösung, die von allen Mitgliedsstaaten der EU gemeinsam getragen wird. Eine solche Lösung würde bedeuten, dass schon an den Aussengrenzen der EU entschieden würde, wer in den Binnenraum der EU, also nach Deutschland hineingelassen werden soll und wer nicht und was mit denen geschehen soll, die aufgehalten werden. Demgegenüber steht Horst Seehofer, hinter ihm Markus Söder, beide getrieben von der Sorge, dass die AfD sie mit ihrer Kritik an der ‹Willkommenskultur› bei den bevorstehenden Bayerischen Landtagswahlen aus ihrer langjährigen Mehrheitsposition im Bayerischen Landtag verdrängen könnte.

Unter diesem Druck verlangt die CSU, dass Asylsuchende, die von den europäischen Randstaaten nach Deutschland ‹durchgewunken› worden seien und in Zukunft ‹durchgewunken› werden könnten, an den deutschen Grenzen ohne Prüfung der Asylanträge abgewiesen und zurück in die Ankunftsländer geschickt werden.
Das hiesse, entweder würde die Last der Entscheidungen den Randstaaten der EU aufgebürdet, was sie aus unterschiedlichen Gründen nicht zu tragen bereit sind, oder Deutschland verliesse den Konsens der EU, was bei den übrigen Mitgliedern der EU den Eindruck hinterliesse, als ob der Schutz des nationalen deutschen Interesses gegen die Einheit Europas stünde. Die konkrete Lebenssituation der Menschen spielt bei alledem keine Rolle mehr.

In dieser Polarität ist das Problem der Asylsuchenden nicht zu lösen, schon gar nicht in einer den Werten der Europäischen Union entsprechenden Weise, selbst wenn Deutschland bereit wäre, sich an den Kosten für Asylprüfungsverfahren, für Unterbringung u.ä. in den Grenzländern zu beteiligen. Und sicher auch nicht durch den jetzt ausgehandelten «Kompromiss», «Transitgrenzen» an den innereuropäischen deutschen Grenzen oder demnächst Auffanglager vor den Grenzen der EU einrichten zu wollen.

Als Solidargemeinschaft, die sich humanitären Werten verpflichtet sieht, steht die EU vor ihrem Bankrott. Der einzige zur Zeit erkennbare Ausweg liegt in der Aushandlung bilateraler Verträge zwischen den einzelnen Mitgliedern der EU, insbesondere Deutschlands, in denen die besonderen Bedingungen der jeweiligen Länder, die Anlaufstellen von Flüchtlingen waren und absehbar auch in Zukunft sein werden, berücksichtigt würden. Eine solche Regelung könnte sogar die Ahnung einer zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union als lockere Gemeinschaft selbstbestimmter Staaten aufkommen lassen.

Festungsbau EU? Oder Festungsbau Deutschland?

Langfristig ist die Frage der Zuwanderung durch ‹Migranten› und Flüchtlinge in der Tat weder mit Einreisesperren noch mit Abschiebungen aus dem Weg zu schaffen – gleichgültig auch, ob diese Massnahmen an den europäischen Aussengrenzen oder an nationalen Grenzen erfolgen, solange die Europäische Union einem starren Einstimmigkeitszwang folgt.

Zwar ist die Position Angela Merkels ‹offener›, ’solidarischer›, ‹demokratischer›, soweit es die politischen Beziehungen innerhalb der EU angeht, als die Positionen Horst Seehofers und seines Lagers. Merkels Haltung mag von manchem sogar als ‹kleineres Übel› gegenüber dem Rückfall in das nationale Denken Seehofers verstanden werden. Bei genauerem Blick in die Struktur der Vorschläge wird aber doch erkennbar, dass sie beide, Merkel wie auch Seehofer, demselben Denkmuster folgen, vom Schutz des deutschen Nationalstaates zum Schutz europäischen Superstaates nur um eine Ebene ins Allgemeinere verschoben: In Seehofers Position geht es um die Abschottung des deutschen Nationalstaats, in Merkels Argumentation um die Abschottung der Europäischen Union, deren Repräsentanten angesichts der allgemeinen Verwerfungen der bestehenden Völkerordnung soeben dabei sind, die Union zum übernationalen Einheitsstaat entwickeln zu wollen.
Etwas gröber gesagt liegt der Unterschied zwischen den Positionen Horst Seehofers und Angela Merkels allein in der Dimension: Festung Deutschland oder Festung Europa, die – so oder so – gegen den Ansturm der Flüchtlinge und der generellen weltweiten Migration aufgebaut werden sollen.

Europa wird sich aber, in welcher Formation auch immer – und daran muss hier wohl doch erinnert werden – wie die übrigen ‹entwickelten Länder› der ‹westlichen› Welt darauf einstellen müssen, in Zukunft Einwanderungsland für die Teile des Globus zu sein, deren Entwicklungsdynamik immer mehr Menschen hervorbringt, die als an den Rand der Gesellschaften gedrängte ‹Überflüssige› nach Möglichkeiten der Verwirklichung ihres Lebens suchen. Tendenziell wird das zweifellos auch zu einer Nivellierung des Wohlstandsgefälles zwischen dem Norden und dem Süden führen. Die demographischen Daten über das dynamische Bevölkerungswachstum im Süden und die «Schrumpfung» im Norden lassen keine andere Erwartung zu. Diese Tatsachen sind ja schon lange kein Geheimnis mehr.

Öffnen statt schliessen

Was angesichts dieser Entwicklung gebraucht wird, ist nicht die Festigung der überholten Ideologie des Nationalstaats, weder als deutscher, noch als europäischer Superstaat, sondern die Öffnung und Transformation der Europäischen Union in Richtung einer europäischen Föderation. Sie könnte den Völkern und Kulturgemeinschaften Europas die Möglichkeit geben, sich ihrer Eigenheiten und ihrer Kräfte entsprechend in gegenseitiger Förderung selbst zu entscheiden und diesen Impuls zugleich an die sich heute herausbildende neue Völkerordnung weitergeben, statt sich zum Superstaat zu verhärten.

Darüber hinaus ist ganz sicher nicht ein europäischer Magnetismus die Hauptursache für die Migration, sondern die Tatsache, dass die Länder der ehemaligen Kolonien aufgrund der nach wie vor anhaltenden, wenn auch verdeckten imperialen Abhängigkeiten, in denen diese Länder von den ‹entwickelten Staaten› noch immer gehalten werden, nicht in der Lage sind, eine Infrastruktur aufzubauen, die es ihren Bevölkerungen erlaubt, ein ökonomisch und politisch abgesichertes Leben zu führen. Da ist Hilfe beim Aufbau lokaler Wirtschaften zu leisten, die den Menschen ein Bleiben vor Ort ermöglichen. Die Rede ist, um nicht missverstanden zu werden, von aktiver Hilfe zur Selbsthilfe, die an den gewachsenen Bedingungen vor Ort anknüpft, aufgelaufene Schulden abbaut und keine neuen Kreditabhängigkeiten herstellt.

Alleingänge können das Problem nicht lösen

Zum Dritten ist das Problem der Migration ganz sicher weder im Alleingang Deutschlands, noch im Alleingang Europas und auch nicht im Alleingang des ‹Westens› zu lösen, sondern nur in Kooperation mit den Völkern und Staaten der Weltgemeinschaft, die sich dafür engagieren, die globalen Kriegsherde zu löschen, aus denen die Flüchtlingsströme hervorgehen. Das erfordert allem voran eine Kooperation Deutschlands und Europas mit Russland und China, soweit diese Länder der Botschaft des «Amerika first» entgegenwirken. Es erfordert selbstverständlich auch ein Zusammenwirken mit den USA, sofern diese ihrerseits von ihrer Politik des fortwährenden Zündelns Abstand nehmen sollten.

Werden diese Aspekte nicht in die Suche nach Lösungen zur weltweiten Migrationsbewegung einbezogen, müssen alle Wege zur «Steuerung» der Migration national gebundene Scheinalternativen nach dem Motto ‹Deutschland oder Europa first› bleiben. Oder aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Ursachen der Flüchtlingsprobleme bewusst verschleiert werden.
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Siehe dazu:

Die Fluchtgründe Krieg, Verfolgung und Ausbeutung haben die reichen Staaten mit verursacht. Es ist Zeit, in den Spiegel zu schauen.

Patrick Chappatte in «Le Temps»

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Kai Ehlers ist ein deutscher Publizist. Er hat eine eigene Website.

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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5 Meinungen

  • am 11.07.2018 um 16:04 Uhr
    Permalink

    "Als Solidargemeinschaft, die sich humanitären Werten verpflichtet sieht, steht die EU vor ihrem Bankrott."

    Es gibt 3 Werte in der EU und besonders in Deutschland
    1. Profit
    2. Kostenfaktoren, wobei nicht zwischen Vieh und Mensch unterschieden wird
    3. Störfaktoren, die beseitigt werden müssen

    Nach Punkt 3, ist Erdogan jetzt unser Feind, da er bei der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit mitmachen will.
    https://nex24.news/2016/11/shanghai-pakt-tuerkei-uebernimmt-bereits-2017-vorsitz-des-energieclubs/

    Aber das übelste Regime der Welt Saudi Arabien sind unsere Freunde !
    https://www.youtube.com/watch?v=N4midUrYgSc&t=220s

    "Bundesregierung baut Zaun gegen Flüchtlinge rund um Saudi Arabien und entsendet Deutsche Polizisten"

    Was die Fluchtursachen betrifft, da fällt mir EPA ein !

    https://www.attac.de/kampagnen/handelsabkommen/hintergrund/epas/

    "Bisherige Handelsliberalisierungen in afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten (AKP-Staaten) vergrößerten die Armut immens, die EPAs werden diesen Trend fortsetzen. Ein Großteil der Bevölkerung in diesen Ländern lebt von der Landwirtschaft. Schon jetzt entledigt sich die EU in den AKPs ihrer landwirtschaftlichen Überproduktion und zerstört damit die lokalen Märkte. Werden die Importzölle weiter gesenkt, verlieren Millionen gänzlich ihre Lebensgrundlage. Auch die wenigen Industriebetriebe und das Kleingewerbe werden einer vernichtenden Konkurrenz ausgesetzt. Ausländische Investoren werden kaum Auflagen erhalten. «

  • am 12.07.2018 um 12:52 Uhr
    Permalink

    # Dieter Gabriel
    Danke! brillant, mein Blutdruck steigt. Umgesetzter Volkswille? Müssen wir Bürger uns das in «Demokratien» wirklich bieten lassen? Genug der Information, aber eklatanter Mangel an Handlung und Engagement, was tun, weiterkonsumieren und profitieren?

  • am 12.07.2018 um 13:16 Uhr
    Permalink

    Natürlich müssen wir versuchen, die Probleme an der Wurzel anzupacken! Nur scheint es mir reichlich naiv und auch ziemlich überheblich, zu glauben, dass man in wenigen Jahren schon durchschlagenden Erfolg verbuchen könne.

    Seit Jahrzehnten wird Entwicklungshilfe betrieben, mit durchzogenem Erfolg. Man sollte versuchen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Wunder darf man nicht erwarten.

    Eher wichtiger als Entwicklungshilfe wäre, schädliche Aktivitäten internationaler Konzerne einzudämmen, da gehe ich mit Ehlers einig. Auch diese Idee ist nicht ganz neu. Auch hier waren die Erfolge bisher bescheiden. Kämpfen wir weiter, aber ohne zu glauben, wir hätten den Sieg schon in der Tasche.

    In meinen Augen hat es etwas sehr Paternalistisches, die Schuld zu 100% den Multis zuzuschieben. Damit wird ja unterstellt, dass man von den Bewohnern des betreffenden Landes sowieso nichts erwarten könne. Die Geschichte zeigt aber etwas anderes. Es gibt sehr wohl Beispiele von Ländern, die wesentliche Fortschritte erzielen konnten, ohne dass sie von aussen vor den bösen Multis geschützt wurden. Bei Korruption sind eben nicht nur Konzerne, sondern auch einheimische Eliten beteiligt.

    Das «Anpacken der Probleme an der Wurzel» wirkt so langsam, dass es Migrationspolitik in keiner Weise ersetzt. Die Abwanderung der unternehmungsfreudigsten Bevölkerungsteile hilft armen Ländern nicht, eher das Gegenteil ist der Fall.

  • am 13.07.2018 um 17:15 Uhr
    Permalink

    @Herr Schenk
    Demokratie heisst dem Volk gewidmet, davon kann zumindest in Deutschland, lange nicht mehr die Rede sein.
    Eher wohl Plutokratie, also dem Geld gewidmet.

    Der Vater des deutschen Wirtschaftswunders Ludwig Erhard sagte, «die Wirtschaft muss dem Menschen dienen. Wenn die Menschen nur noch Mittel zum zweck sind, dann ist die Demokratie am Ende !"

    siehe auch den hervorragenden Vortrag von Professor Mausfeld
    "Warum schweigen die Lämmer"

    https://www.youtube.com/watch?v=ScqPOdcDYQM&t=529s

    Sehr gut und ein Muß, ist auch das Interview mit KenFM
    https://www.youtube.com/watch?v=OwRNpeWj5Cs

    und
    Prof. Rainer Mausfeld: Wie werden Meinung und Demokratie gesteuert?

    https://www.youtube.com/watch?v=-hItt4cE0Pk

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