Kommentar

London in Slowmotion

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsKeine. ©

Heinrich Vogler /  Flaneur Andreas Nentwich macht sich in London auf die Suche nach Architektur und Menschen. Dabei kommt er auch sich selbst näher.

Der Besucherblick verliert sich in den Höhen von Westminster Cathedral. Dort oben ist alles schwarz, «weihrauchgeschwängert.» In seinem Journal hält Flaneur Nentwich diesen Moment der Kunstbetrachtung später so fest:

«Die Kuppeln vergehen in Brikettschwärze, nie sind die falschen byzantinischen Mosaiken, die auch die St. Paul’s Cathedral so sehr verderben bis hierherauf gekrochen … Aber das Pariahafte … gefällt mir.»

Anziehung und Abstossung des emphatischen Betrachters zugleich halten sich meist die Waage. Nentwich folgt den Linien dieses Spannungsfelds in einer Reihe von Londoner Kirchen und in Sakralbauten im Umland, die kunstgeschichtlich zum so genannten Gothic Revival gezählt werden. Diese Architekturtradition, mittelalterlich-gotische Formen in der Gegenwart fort zu bauen und auszugestalten, beginnt in England schon im 18. Jahrhundert und reicht hinein bis ins letzte. Es ist die Verschmelzung von ursprünglich und kopiert. Man könnte es auch eine Form von Verfremdung nennen, um nicht – etwas vergröbernd – von Fake zu sprechen. Der Reiz dieser leidenschaftlichen Erkundungen besteht darin, dass Kunsthistoriker Nentwich, wie ein Übersetzer, diese Bauten als jeweilige Zeitzeugen sozusagen dekonstruiert und sie dem heutigen Leser in ihrer je eigenen Verwandlung näher bringt, als jede visuelle Dokumentation dies vermöchte. Denn der Autor verkabelt seine durchdringende Wahrnehmung mit höchster sprachlicher Eleganz. So gerne wir dem «Spleen» für das anglikanische Sakrale, wie Nentwich selbst einräumt, folgen, so gerne begleiten wir ihn auf den Strassen, wo das wandlungsfähige Alltagsleben pulsiert. Dorthin, wo der Augenblick im Auge des Flaneurs zu einem Bild von Dauer gefriert.

Geschenkte Zeit

Der Zürcher Stadtwanderer löst in London ein Guthaben geschenkter Zeit ein. Ermöglicht durch ein halbjähriges Stipendium. Zwei Tempi schlägt er an. Mal joggt oder schwimmt er allegro, mal schlendert er mehr oder weniger ziellos andante durch Londons Strassen, Parkanlagen, der Themse entlang oder er besucht Ortschaften, Sehenswürdigkeiten und Unscheinbares der Umgebung. Was er draussen gespeichert hat, gleicht er im Nachgang mit ergänzender Lektüre oder in den Museen mit den Klassikern der englischen Malerei von John Constable bis William Turner ab, um es aus der Gegenwartswarte neu zu vermessen. Bald kürzer, bald weiter ausholend von seiner Basis im East End aus. Im Fokus sind Häuser, Menschen, Tiere, Pflanzen, der hundertfarbige Himmel. Also all dies, was der hektische Grossstadtbesucher oder Tourist in der Regel übersieht. In die chronologischen Tagesnotate findet nicht nur das Visuelle, sondern auch der wechselhafte und kontrastreiche Klang der Metropole Eingang. Um die Vesperzeit lauscht der Flaneur oft im Chorraum einer Kathedrale den meditativen Klängen der Evensongs, die die Tradition des christlichen liturgischen Abendgebets in anglikanischer Version fortführen.

Spiel mit dem Zufall

Dieser Flaneur kommt von aussen und bleibt wie ein scharf beobachtender «Zaungast» stets am Rande. Er vergewissert sich, dass für ihn als «seitenverwirrbarer Linkshänder» beim Überqueren der Strasse besondere Gefahr lauert:

«Für mich … ist es doppelt gefährlich, hier erscheinen zu wollen, wie alle.»

Voilà: fremd bleibt fremd, was durchaus gewinnbringend ist. Der Flaneur operiert, wie ein Detektiv, im Schatten der Distanz zu seinen Sujets. Er benötigt den Abstand zu diesen, um sie unauffälliger beobachten zu können. In einem Busoberdeck platziert sich ein Bobo-Pärchen, die Mischung aus Bohémien und Bourgeois ausspielend, neben dem Autor. Also mit Siegelring, Jeans, Hipsterhütchen und anderen Insignien dieser schon etwas angegrauten Modeströmung. Andreas Nentwich macht daraus mit hochgradiger Souplesse eine kompakte Feldstudie, ein literarisches Kabinettstück, das seinesgleichen sucht. Der Flaneur kann das quirlige Girlie an der Seite des blasierten Schnösels noch nicht erkennen, weil der Modeaffige ihm die Sicht auf seine Partnerin verstellt. Dies tut jedoch nichts zur Sache. Denn:

«Bald redet sie im Smartphone unentwegt mit jemandem, ihr Snob-Ton muss ausgeführt werden, damit er schlank und beweglich bleibt wie ein Windspiel. Ich verstehe nicht viel, aber Wörter wie «vintage» oder «party foul» leuchten mir sofort ein. Manchmal sehe ich aus dem Augenwinkel eine schmale Hand, ringlos mit dunkelviolett lackierten Nägeln nach oben schnellen.»

Der Beobachter muss vor dem Pärchen aussteigen. Aber wir Leserinnen profitieren davon. Dank des Glücksmoments, in welchem die Fiktion ins Spiel kommt. Der Autor bekennt nämlich an dieser Stelle, dass er nicht wisse, wieviel er bei der Aufzeichnung dieser Begegnung «erfunden» habe. So spielt er den Flaneur aus. Als Go-between zwischen Fakt und Fiktion. Zwischen dem objektiv Sicht- und Hörbaren und dem Möglichen als Kompensation der Leerstelle des Beobachters. In Folge dessen ist der Flaneur nicht einfach Chronist, sondern eben auch Schriftsteller, also ein Künstler.

Schrittweise Entzauberung

Gegen Ende des Stipendienaufenthalts in London sitzt der erzählende Chronist wieder in St. Paul beim Evensong. Da ergreift ihn radikale innere Umkehr. Sein eigenes Gothic Revival scheint zu verlöschen:

«Von hinten glänzt der Baldachinaltar mit seinen gedrehten Säulen und goldenen Troddeln wie ein Götze. Gebetet wird für die Hitzeopfer in Mitteleuropa, das ist nett wie immer. Besitzergreifendes Lirumlarum. Viele Besucher in kurzen Hemdchen und Hosen … Ein Hauch von Knoblauch. Ich glaube, ich habe genug von den Evensongs in diesem hässlichen und frostigen Gebäude.»

Man muss das nicht gleich als Lossagung von dem Sabbatical-Projekt des Andreas Nentwich lesen. Aber all die Wegweiser, die den Flaneur wochenlang in alle Himmelsrichtungen Londons auf Trab gehalten haben, scheinen sich in diesem Moment, wie von Geisterhand gelenkt, auf die Person zu richten, die dem Wesen des Genres gemäss als vermittelndes Medium eigentlich im Äussern aufgeht. Nun mutiert der Flaneur für Momente auch zum Beobachter seiner selbst. Dadurch wird er vom Medium zur Figur.

Kaschierte Autobiographie

Anlass für diese Selbstbeobachtung sind meist kurze Abstecher zurück auf den Kontinent. «Und ich?» fragt sich der «fremde» und heimatlose Gast lakonisch anlässlich eines Besuchs bei seinem Vater in Deutschland. Später blitzt eine lapidare Reminiszenz an die chronisch kranke Mutter auf. Sie liess «die ganze Wut und Verbitterung in ihren Blick schiessen.» Man ist versucht, das Gravitationszentrum dieses feinnervigen Journals in dessen Mitte zu orten. Hier tritt in einer Deutlichkeit, wie sonst nirgends, eine lebensgeschichtliche Ader des Autors hervor. Der Geisteswissenschafter und Publizist macht fest, wie ihn seine Herkunft geprägt und wie diese sein Leben bestimmt habe:

«Wir sechzigjährigen Kleine-Leute-Kinder, allemal die unter uns, die eine Geisteswissenschaft studiert haben, sind am Ende in die Bildungsbürger-Sackgasse gelaufen. Wir haben es … nicht geschafft in der digitalen Welt, die emphatisch bei null anfängt. Zukunft umwirbt uns nicht und steckt uns auch nicht in den Fingerspitzen.»

So beiläufig bringt Nentwich damit eine sozialkritische Note ins Spiel. Seine Desillusionierung über eine eigene verbaute Chance, die nun das literarische Tageslicht zu suchen scheint. Noch vor dem Ende seines Londonaufenthalts muss der Autor zu Hause in Zürich zwischendurch seine Bibliothek ins Antiquariat verabschieden, weil die Familie kurzfristig umziehen muss. Dabei erinnert er sich an den Titel eines Buchs, welches er gar nicht mehr hat: «Vor dem Leben stehend» (Gemeint ist wohl Johanna Walsers Prosaerstling von 1982.) So kreuzt ein Schub eigene Lebenserinnerung die Staubwolken seiner gerade verschwindenden Bibliothek. So als müsste auch Platz geschaffen werden für das im Journal Nentwichs Heranwachsende, nämlich funkelnde Versatzstücke autobiographischer Prosa, geboren über den Umweg der Beobachtung des grossen Welttheaters in einer uferlosen Kapitale.

Sprachfest

Der Titel Change Ringing, als Anspielung auf den mäandernden Wechselklang des typisch englischen Kirchengeläuts, bringt auf den Punkt, dass das Kunststück des Journals ebenso vom wohlklingenden Sound seines ausserordentlich eleganten Ausdrucks lebt. Nentwichs Sprache ist wie alles Edle von einfacher Art. Schlank und rank, völlig unprätentiös. So leicht wie Prosa sein muss, der man nicht ansieht, wieviel Arbeit sich darin verbirgt. Dieser Erzähler reiht sich mit seinem Journal in die Reihe der Nachfolger der grossen Stilisten der namhaften Flaneure ein. Walter Benjamin, Franz Hessel, Cees Nooteboom und als jüngste Judith Schalansky. Nentwichs eigenständige Wortkunst ist gleichwohl ungebunden und elementar aus hart erarbeitetem Können gedrechselt. In Andreas Nentwichs Londonjournal wird sich die Welt von Stadt und Landschaft sozusagen ihrer selbst bewusst. Und darum kann er als Flaneur in London auf dem Weg zum Romancier derart souverän herausfiltern, wie das Leben in dieser Stadt heute Menschen formt. Orchestriert von der Tradition jahrhundertealten Glockengeläuts und durchdrungen vom glasklaren Blick eines Fremden. Es wäre jammerschade, wenn dieses Buch, gewiss zusammen mit vielen anderen literarischen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs, zwischen die weiten Maschen des coronabedingten Lockdowns fiele. Noch ist es nicht zu spät. Ihre Buchhandlung öffnet demnächst wieder.
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Andreas Nentwich. Change Ringing. Ein Londonjournal. Edition Blau. Rotpunkt Verlag. Zürich 2020.

Andreas Nentwich und Christine Schnapp. Modern in alle Ewigkeit. Eine Reise zu den schönsten modernen Kirchenbauten der Schweiz. Zytglogge Verlag. Basel 2019.


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