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Filmtitel «Blutige Handys»: Krieg um das Erz Coltan © pd

Verdrängt: An Handys und Computern klebt Blut

Lukas Bärfuss /  Wer ein Handy kauft, müsste Hinterbliebenen Tausende Franken zahlen. Denn das Herstellen von Handys kostet viele Menschenleben.

Red. Im Ostkongo wütet seit über einem Jahrzehnt ein Krieg um Rohstoffe, die dort buchstäblich auf dem Boden liegen. Besonders begehrt ist Coltan, ein metallhaltiges Mineral, ohne das weder Computer noch Mobiltelefone funktionieren. Der Krieg im Kongo hat bereits über sechs Millionen Tote gefordert und mindestens so viele Vertriebene. «Wenn wir für die Kriegstoten und traumatisierten Hinterbliebenen Entschädigungen zahlen müssten, würden unsere Handys etliche tausend Franken kosten», schreibt Lukas Bärfuss, Schriftsteller und Dramaturg, in seinem Vorwort zum Buch «Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz» (siehe unten). Im Folgenden bringt Infosperber den leicht gekürzten Text von Lukas Bärfuss (Zwischentitel von der Redaktion).
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Falsche Begriffe vernebeln die Realität
Tatsachen finden schwer den Weg ins menschliche Bewusstsein. Manchmal, weil sie zu schmerzlich sind. Und manchmal, weil sie unser Bild von der Welt und wie sie zu funktionieren hat, zu sehr stören würden.
Solche unangenehmen Tatsachen verstecken wir gerne hinter falschen Begriffen. So reden wir vom »Sonnenuntergang«, obwohl wir seit 500 Jahren, seit Kopernikus, wissen, dass es die Erde ist, die sich um die Sonne dreht. Eigentlich müssten wir vom abendlichen »Erduntergang« sprechen. Wir tun es nicht, weil wir immer noch gekränkt sind, nicht im Zentrum des Universums zu stehen. Und weil es uns erschreckt, dass der Boden, auf dem wir stehen, nicht fest ist und die Erde Schwindel erregend schnell durchs All rast.
Sekundarschüler wissen, dass man Energie und Rohstoffe nicht herstellen kann
Wenn also »Sonnenuntergang« unsere Angst und Eitelkeit versteckt – was verhüllen dann die Begriffe »Rohstoffgewinnung« und »Energieproduktion«?
Wer nämlich in der Physikstunde aufgepasst hat, weiss, wie unzutreffend beide Begriffe sind. Aus dem Erhaltungssatz folgt, dass Energie weder produziert noch vernichtet werden kann. Mit der Materie und damit auch den Rohstoffen verhält es sich ebenso.
Warum verschleiern wir diese Tatsachen durch falsche Begriffe? Warum wollen wir sie nicht wahrhaben?
Ökonomen gehen von falscher Grundannahme aus
Der Mathematiker und Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen, 1906 in Konstanza, Rumänien, geboren, 1994 in Tennessee, USA, gestorben, wies in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts darauf hin, dass die klassischen ökonomischen Theorien von einer falschen Grundannahme ausgehen.
Denn in der Nachfolge von Adam Smith formten die allermeisten Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ihre Modelle nach dem mechanistischen Weltbild: Arbeit lässt sich in Energie und diese wieder in Arbeit umwandeln.
Die Ökonomen folgen diesem Prinzip. Etwa, wenn sie erzählen, dass sich aus einem Rohstoff, zum Beispiel Getreide, ein Produkt herstellen lasse, zum Beispiel Brot, das man verkaufen könne, wodurch man Geld erhalte, mit dem man wiederum Getreide kaufen könne, um Brot herzustellen. Die meisten wirtschaftlichen Konzepte funktionieren wie dieser Kreislauf. Der Konjunkturzyklus zum Beispiel oder die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung im Bruttoinlandprodukt.
Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik
Doch es gibt keinen Kreislauf. Nicht in der Wirklichkeit. Das Perpetuum mobile ist physikalisch unmöglich. Diese äusserst unangenehme Tatsache folgt aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und dem daraus abgeleiteten Gesetz der Entropie, dem Mass für die Unordnung in einem System. (Red. Im Laufe der Zeit wird die Entropie immer höher, bis das Universum den Wärmetod erleidet. ) Wir Menschen können nur geringe Entropie nutzen. Die Ozeane etwa haben ihre immense Wärmeenergie in einer so enorm grossen Entropie gespeichert, dass wir selbst mit modernsten technologischen Mitteln nicht über sie verfügen können. Rohstoffe oder Erdöl dagegen haben eine niedrige Entropie, aber deren Vorräte sind beschränkt.
Der Aufwand, niedrige Entropie zu nutzen, nimmt stetig zu
Um niedrige Entropie verfügbar zu machen, sind immer grössere Anstrengungen nötig. Die leicht zugänglichen Ölfelder sind ausgebeutet, weshalb man nun in der Tiefsee nach dem schwarzen Gold bohren muss. Der beträchtliche Mehraufwand ist natürlich nicht umsonst und jemand muss für die steigenden Kosten aufkommen. In der Regel sind dies aber nicht die Konsumentinnen und Konsumenten, nicht wir in den entwickelten Ländern. Es sind Menschen wie jene in den Kupferminen von Sambia, die Alice Odiot in ihrer eindrücklichen Reportage »Das hier ist Bagdad, einfach ohne Krieg« beschreibt (im Buch «Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz»).
Tote und traumatisierte Hinterbliebene
Niedrige Entropie ist so begehrt, dass deswegen alle Gebote der Menschlichkeit vergessen werden. Zum Beispiel im Ostkongo. Dort wütet seit über einem Jahrzehnt ein Krieg. Bilanz: mindestens sechs Millionen Tote, mindestens so viele Vertriebene. Der Kriegsgrund: die Rohstoffe, die dort buchstäblich auf dem Boden liegen. Vor allem das Coltan, ein metallhaltiges Mineral, ohne das weder Computer noch Mobiltelefone funktionieren. Wenn wir für die Kriegstoten und traumatisierten Hinterbliebenen Entschädigungen zahlen müssten, dann würden unsere Handys etliche tausend Franken kosten. Und wer würde sich dann noch jedes Jahr das neueste Modell kaufen – oder besser gesagt, von den Telekommunikationskonzernen schenken lassen?
Aber eine solche Vollkostenrechnung gibt es nicht. Tatsächlich sind die falschen Preise zugleich Ausdruck und einer der Hauptgründe für die anhaltende Ungerechtigkeit auf den Weltmärkten. Um Abhilfe zu schaffen, müssten Bergbaukonzerne, aber auch Handelshäuser für die sozialen und ökologischen Schäden aufkommen, die sie verursachen. In dieser Hinsicht ist noch viel zu tun. Doch selbst damit hätten wir noch lange keine gerechten Preise.
Die Rohstoffe als kostenlose Vorräte ausgebeutet
Denn was ist mit jenen Kosten, die weit in der Zukunft liegen? In seinem Essay »Energy and Economic Myths« von 1975 hat Georgescu-Roegen das Problem drastisch formuliert: »Deshalb müssen wir in der Bioökonomie betonen, dass jeder Cadillac […] weniger Pflüge für zukünftige Generationen und indirekt weniger menschliches Leben in der Zukunft bedeutet.« Wie also und wem verrechnen wir die Rohstoffe, die zukünftigen Generationen nicht mehr zu Verfügung stehen, weil wir ihre niedrige Entropie bereits in hohe überführt haben? Haben jene, die zuerst kommen, also früher geboren wurden, einfach Glück gehabt? Unser mechanistisches Wirtschaftssystem bietet keine Antworten auf diese eminent politischen Fragen, und jene, die Nicholas Georgescu-Roegen gegeben hat, müssen uns nachdenklich stimmen.
«Das Wegwerfen ist ein Wahnsinn»
Zuerst forderte er die Einstellung jeder Rüstungsproduktion. Dann seien die Entwicklungsländer in einer gemeinsamen Anstrengung auf ein gutes, aber nicht luxuriöses Niveau zu bringen. Das Bevölkerungswachstum müsse so weit beschränkt werden, dass alle Menschen durch ökologischen Landbau ernährt werden können. Dazu sei der Energiekonsum strikt zu regulieren. Ferner müsse sich die Menschheit von der Mode befreien, dieser »Krankheit des menschlichen Geistes«. Es sei ein Wahnsinn, wenn man ein Möbel oder Kleidungsstück wegwerfe, das noch gebraucht werden könne. Und jedes Jahr ein neues Auto zu kaufen oder das Haus aufzumöbeln, so Georgescu-Roegen, sei ein bioökonomisches Verbrechen.
Menschen im Süden wird das Leben diktiert
Es ist offensichtlich, dass solche Massnahmen in eine Ökodiktatur führen könnten, in einen Staat, der die totale Kontrolle über den Einsatz der natürlichen Ressourcen hätte. Eine ungemütliche Vorstellung – und ein weiterer Beleg dafür, dass wir die Ausgestaltung unserer Zukunft nicht den Ökonominnen und Ökonomen überlassen sollten.
Aber ebenso offensichtlich ist, dass viele Menschen im globalen Süden längst in einer solchen Diktatur leben. Mode ist ihnen zwar nicht verboten, aber unerschwinglich, was in der Praxis auf dasselbe hinausläuft. Wegzuwerfen haben sie nichts, weil sie nichts besitzen, nicht einmal ihre eigenen Lebensgrundlagen. Um ein paar Dollars zu verdienen, müssen sie ihre Gesundheit opfern. Sie kennen keine Altersvorsorge, keine Krankenversicherung, keine Ferien.
Privilegien auf Kosten anderer
Viele von ihnen würden zu Georgescu-Roegens Programm begeistert Ja sagen. Denn sie könnten nur gewinnen. Verlierer wären wir in den entwickelten Ländern, zum Beispiel in der Schweiz. Wir sind unter anderem deswegen zu unserem Wohlstand gekommen, weil es Diktaturen und skrupellose Firmen gibt, die uns die billigen Betriebsstoffe lieferten. Unsere Privilegien, Chancengleichheit und Meinungsfreiheit wurden damit erkauft, dass jemand auf diese Privilegien verzichten musste.
Angst vor dem kategorischen Imperativ
Das alles ist bekannt. Die unangenehmen Tatsachen liegen auf dem Tisch – zum Beispiel in Form des neuen Buchs über die Rohstoffdrehscheibe Schweiz. Die Frage ist, was wir damit anfangen.
Oft wird behauptet, die Probleme seien kompliziert und eine Lösung kaum zu finden. Doch das ist nicht wahr. Nicht die Probleme sind kompliziert, unsere eigene Verstrickung ist es. Wir wissen, was zu tun wäre, aber wir haben Angst davor. Ohne Not ändern nur die wenigsten ihre Lebensweise. Und deshalb ist es einfacher, die Wirklichkeit zu leugnen und mit falschen Begriffen zu verhüllen.
Aber solange wir weiter so tun, als verfügten wir über unendliche Ressourcen, als sei unbeschränktes Wachstum möglich und als dürften Rohstoffkonzerne ganze Länder ausplündern, solange können wir diese Probleme nicht lösen. Nicht die Kriege, die um Rohstoffe geführt werden, nicht die Klimaveränderung, nicht die Umweltverschmutzung durch Erdöl, Bergbau und Radioaktivität und sicher auch nicht die sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen um die gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen.
Georgescu-Roegen war ein Pessimist. Und ein bisschen auch ein Poet. Er glaubte nicht an die Umsetzung seiner Forderungen. Vielleicht, so schliesst er seinen Essay, sei dem Menschengeschlecht eine kurze, hitzige und extravagante statt einer langen, ereignislosen und vegetativen Existenz beschieden. Und dann würden andere Arten ohne spirituelle Ambitionen – Amöben zum Beispiel – unsere Welt erben und im Sonnenlicht baden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Schriftsteller und Dramaturg

Zum Infosperber-Dossier:

Bio_Label

«Fair Trade» und «Bio»

Viele zahlen für fairen Handel und für echte Bio-Produkte gerne mehr. Das öffnet Türen für Missbrauch.

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