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SRF zeigt Film über das Schicksal einer «rebellischen» Jugendlichen in den Sechzigerjahren © SRF

Lina – Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen

Wolfgang Hafner /  Ein Film erzählt die Geschichte einer «Fremdplatzierten», aber nicht die ganze Geschichte schweizerischer Zwangsversorgung.

Red. Wolfgang Hafner ist Sozial- und Wirtschaftshistoriker. Er war einer der ersten Historiker der neueren Generation, der die Aussage von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen für seine Arbeit verwendete. Hafner ist Autor von mehreren Büchern u.a. der Publikation «Pädagogik, Heime, Macht eine historische Analyse».

Am 21. Februar 2016 war im Schweizer Fernsehen zu bester Sendezeit der in Solothurn preisgekrönte Film «Lina» (Regie: Michael Schaerer, Drehbuch: Jan Poldervaart) zu sehen, der das Schicksal einer «rebellischen» Jugendlichen aus den Sechzigerjahren zeigt. Lina führt nach den Normen der damaligen Zeit einen «lasterhaften» Lebenswandel: Für einen Ausflug flüchtet sie mit ihrem Jugendfreund aus der Enge des Dorfes in eine Kommune (Wohngemeinschaft) in der Stadt. Danach wird sie in einem Gefängnis zwangsversorgt. Im Gefängnis bringt sie einen Jungen auf die Welt, den sie zur Adoption freigeben muss. Für ihren Jugendfreund – aus einer reichen Familie stammend – bleibt das Ganze ohne grössere Folgen.

Massenproduktion …

Der Blick auf dieses Einzelschicksal mit dem diffusen Hinweis auf eine rigide, patriarchal bestimmte Moral verschleiert die grundsätzliche Thematik, die hinter dieser Zwangsversorgung steckt: Mit dem starken Industrialisierungsschub zu Beginn des 20. Jahrhunderts mussten sich auch Verhaltensweisen und Mentalität der arbeitenden Bevölkerung ändern. Ausgehend von den USA fand ein Übergang von der handwerklichen Produktionsweise zur standardisierten Massenproduktion von Gütern an Fliessbändern statt, was eine hoch disziplinierte Arbeiterschaft verlangte. Der Autohersteller Henry Ford war der erste, der diese neuen Produktionsmethoden einführte und dazu ein umfassendes politisch-wirtschaftliches Konzept zur rationellen Massenproduktion verfasste («Fordismus»).

… Sexualität und Alkoholismus

Der zeitgenössische italienische Intellektuelle Antonio Gramsci analysierte diese Veränderungen und stellte fest:
Das Ziel sei «mit unerhörter Geschwindigkeit und einer in der Geschichte nie da gewesenen Zielbewusstheit einen neuen Arbeiter- und Menschentypus zu schaffen. … [dieser neue Menschen-, bzw. Arbeitertypus] muss nun sein … Geld ‹rational› ausgeben, um seine nervlich-muskuläre Leistungsfähigkeit zu erneuern. … Und daher die Kampagne gegen den Alkohol, den gefährlichsten Zerstörungsfaktor der Arbeitskraft, die zur Staatsfunktion wird. (…) Eine mit der des Alkohols verknüpfte Frage ist die sexuelle: der Missbrauch und die Unregelmässigkeiten der Sexualfunktionen sind, nach dem Alkoholismus, der gefährlichste Feind der Nervenkräfte (…). Es scheint klar, dass der neue Industrialismus die Monogamie will, dass er will, dass der arbeitende Mensch seine Nervenkräfte nicht bei der ungeordneten und aufregenden Suche nach sexueller Gelegenheitsbefriedigung verschwendet: Der Arbeiter, der nach einer ‹ausschweifenden› Nacht zur Arbeit geht, ist kein guter Arbeiter, der Überschwang der Leidenschaft verträgt sich nicht mit den zeitgemessenen Bewegungen der an die perfektesten Automatismen gebundenen menschlichen Produktionsgesten.»

Ausschweifungen und Abweichungen von der Norm wurden je länger je weniger geduldet. Eine bei uns teilweise bereits bestehende gesellschaftliche Tendenz zum Puritanismus wurde so entscheidend verstärkt. Der «Fordismus» legte den gesellschaftlichen Teppich für eine rigide Moral, die auch Lina zum Verhängnis wurde.

In den USA entwickelten die Fordisten ein Wirtschaftsmodell, das auf hohen Lohnzahlungen und entsprechendem Konsum der arbeitenden Bevölkerung aufbaute. Der hohe Lohn und die damit verbundenen Konsummöglichkeiten dienten als Disziplinierungsmittel.

Moral statt gute Entlöhnung

Nicht so in der Schweiz: Hier wurden zwar die Methoden des Fordismus, beispielsweise in der Uhren- und in der Schuhindustrie (Bally), früh eingeführt, gleichzeitig aber wurde versucht, die Lohnkosten tief zu halten. Dafür wurde die moralische (und auch die patriotische) Frage zunehmend wichtiger: «Sittlichkeit» und «Vaterlandsliebe» waren hier disziplinierendes Leitmotiv. Mehr und mehr war weniger «Armut» das Argument, das zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsanstalten beziehungsweise Heimen oder zu deren Verdingung diente. Vielmehr galt es nun «liederliche», «lasterhafte», «trunksüchtige» und andere, von der Norm abweichende Menschen, die gegen die Moralvorstellungen der Gesellschaft verstiessen, zu «erziehen».

Dieser Wandel der Werte war umfassend. Das Friedensabkommen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen im Jahre 1937 symbolisierte das Ende der kämpferischen, gefühlsbetonten Arbeiter-Organisationen: Gesittet, moralisch hochstehend und bürokratisch geordnet, so sollten diese Auseinandersetzungen in Zukunft vonstatten gehen – das waren zumindest die Intentionen des Präsidenten des damaligen Arbeitgeberverbandes der Metall- und Maschinenindustriellen Ernst Dübi, dem Mitunterzeichner des Abkommens. Wirtschaftlicher Niedergang war in seinen Augen Ausdruck des sittlichen Zerfalls einer Gesellschaft, was sich, unter den damaligen patriarchalen Verhältnissen, vor allem gegen Frauen – insbesondere junge Frauen wie Lina – richtete.

Föderalismus ermöglicht engmaschige Kontrolle

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Menschenbild nicht grundsätzlich hinterfragt. Im Gegenteil. Die Kontrolle über die arbeitende Bevölkerung und die Bestrafung von NormabweichlerInnen wurde intensiviert. «Verbäuerlichung» der Industrie war eines der Leitbilder der tonangebenden liberalen Kreise: Die Industrialisierung sollte, wo immer möglich, auf dem Land stattfinden, damit die Arbeitenden mit der Scholle verbunden blieben. Dabei sollten die jungen Töchter – wie Lina – im Dorf zurückbehalten werden, damit sie als billige Arbeitskräfte den Unternehmen zur Verfügung standen. Gleichzeitig konnten so die Löhne allgemein tief gehalten und den Arbeitenden die Möglichkeit geboten werden, sich bei Arbeitslosigkeit aus dem eigenen Garten zu ernähren, was sich günstig auf die Sozialkosten auswirkte.

Dank des schweizerischen Föderalismus konnte dieses System zur Bewahrung der Sittlichkeit sowie der tiefen Löhne fein austariert und mit Rücksicht auf lokale Gegebenheiten flächendeckend durchgesetzt werden. Diese Disziplinierung war in der Schweiz erfolgreicher als in anderen europäischen Staaten: So gab es in der Schweiz beispielsweise in der Zwischenkriegszeit anteilsmässig rund doppelt so viele fremdplatzierte Kinder und Jugendliche wie in Deutschland. Im Gegensatz zu Deutschland, wo dieser Trend durch die Niederlage der Nationalsozialisten gebrochen wurde, bestand er in der Schweiz weiter. So dürften Figuren wie Lina eine vergleichsweise typisch schweizerische Erscheinung gewesen sein.

Rigide Sozialmoral in der Gesellschaft

Gleichzeitig wird ein falsches Bild entworfen, wenn – wie im Film «Lina» – einzig den Behörden der «Schwarze Peter» für die Durchsetzung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen zugeschoben wird. Der Kampf zur Aufrechterhaltung von «Moral» und «Sittlichkeit» wurde vielmehr als gesellschaftliche Aufgabe empfunden: Schätzungsweise rund zwei Drittel der Fremdplatzierungen erfolgten aufgrund privater Initiativen, das heisst durch Eltern und Verwandte. Der Druck der dörflichen Behörden/Gemeinschaft verstärkte hier – wie im Film – schon bestehende Verhaltensmuster. Denn nur dank der gesellschaftlichen Akzeptanz des Kampfes zur Aufrechterhaltung der Sittlichkeit war es möglich, dass beispielsweise private Organisationen (Pro Juventute, Institutionen etc.) Kinder in Nacht-und-Nebel-Aktionen von ihren Familien, ihren unehelichen Müttern etc. wegholten. Juristisch bewegte sich dieses Verhalten häufig in einer Grauzone, wenn es nicht gar gegen das Recht – «Kindsentführung» ist ein unverjährbares Delikt – verstiess.

Aber die Aufrechterhaltung von Sittlichkeit und Moral war wichtiger als die Durchsetzung des Rechts. Es war dieses umfassende moralische Selbstverständnis und die damit verbundene (Selbst-)Disziplinierung der arbeitenden Bevölkerung, welche einen wesentlichen Beitrag zum Wohlstand der Schweiz leistete. Was heute als «düsteres Kapitel der Schweizerischen Sozialgeschichte» bezeichnet wird – wie im Film «Lina» – ist eine der Kehrseiten unseres heutigen hohen Lebensstandards, des «Erfolgsmodells» Schweiz. Unter den bestehenden historischen Verhältnissen gibt es das eine nicht ohne das andere. Erst mit dem Übergang zu einer Dienstleistungsgesellschaft in den Siebzigerjahren begannen sich die Verhältnisse allmählich zu ändern.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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6 Meinungen

  • am 2.03.2016 um 15:12 Uhr
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    Ihr Text, Herr Hafner, klingt für mein Empfinden sehr nach einem «Verriss» des Films — eines in meinen Augen hervorragenden Werkes. Ist er tatsächlich so zu verstehen oder vermissen Sie in diesem «Spielfilm mit historischem Hintergrund» einfach die herleitende, begründende Tiefe?

    Persönlich fand ich just diesen wichtigen Aspekt sehr gelungen: Weder die Geschichte selber noch die Art und Weise ihrer Darstellung scheinen Einzelpersonen anzuprangern. Selbst beim Gemeindevertreter, der den Prozess bis zur Zwangsversorgung vorantreibt, entsteht der Eindruck, dass er nicht aus persönlichen Interessen sondern durch und durch im «Sinne der Gesellschaft» handelt. Lisas Mutter scheint sich der Mechanismen und sich daraus ergebenden Folgen für ihre Tochter zwar jederzeit bewusst zu sein, sie kann aber aus wirtschaftlichen und eben diesen gesellschaftlichen Gründen ihre Tochter nicht so unterstützen, wie sie es aus Liebe eigentlich tun möchte.

    Oder anders formuliert: Ich fand den Film gerade deshalb hervorragend, weil er *keine* Personifizierung des Bösen zelebriert und die erwachsene Lina nicht erst im Sinne eines Happy-Ends der Verangenheit verzeiht, sondern von Anfang an kaum Groll zeigt.

    Mich würde sehr interessieren, wie Sie mit den in Ihrem Artikel erwähnten «Mängeln» im Genre Spielfilm umgehen würden.

  • am 2.03.2016 um 16:16 Uhr
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    Herr Hafner ist offensichtlich nicht an der Front psychiatrischer Versenkungen wie der Verein PSYCHEX, welcher über mehr als 23‘000 Dossiers seit seiner Gründe 1987 verfügt. Nur so konnte er einen Satz wie „erst mit dem Übergang zu einer Dienstleistungsgesellschaft in den Siebzigerjahren begannen sich die Verhältnisse allmählich zu ändern“ in die Welt setzen. Was bis 1981 gang und gäbe war, setzt sich heute nicht nur unvermindert, sondern in noch weit schärferem Masse fort. 1988 26‘686, 2006 bereits 54‘072 und 2009 sage und schreibe 60’511 „Eintritte“ in über 50 psychiatrische Anstalten. 2013 noch einmal ein Quantensprung: Jetzt können auch „ambulante Massnahmen“ von der KESB verfügt werden, was in der Praxis nichts anderes heisst, als dass die Betroffenen verpflichtet werden, heimtückische Nervengifte zu schlucken. Weigern sie sich, werden sie zwangseingewiesen. In meiner Fundamentalkritik der Zwangspsychiatrie (googeln und edmund an den Titel hängen) fasse ich 40 Jahre anwaltliche Erfahrungen mit den Opfern zusammen. Die neue Geissel der Menschheit hat mit Fürsorge nichts gemein. Sie ist ein reines Herrschaftsinstrument.

  • wolfgang_hafner
    am 3.03.2016 um 13:14 Uhr
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    Lieber Herr Schönenberger, natürlich haben Sie grundsätzlich Recht mit Ihrer Kritik an der Psychiatrie. Die Zeiten mit den Ansätzen zu deren Reformen (Triest Basaglia etc.) sind längst Geschichte. Und – wenn man die heutigen Verhältnisse betrachtet, scheint einem, es habe diese Reformideen nie gegeben. Angesichts des Spardrucks im Zeichen der Privatisierung des Gesundheitswesens wäre die Schliessung der psychiatrischen Anstalten tatsächlich häufig ein Fortschritt. Und dass hier Herrschaftswissen durchgesetzt und Befriedigungsverbrechen (Basaglia) verübt werden, ist eine Tatsache. Aber eben, es gab mal diesen Ansatz an Reformen und daran habe ich gedacht, als ich den von Ihnen zitierten Satz schrieb….

  • am 3.03.2016 um 14:55 Uhr
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    Okay. Hätte ich diesen Zusatz im Artikel gesehen, hatte ich nicht in die Tasten gegriffen. Mit freundlichen Grüssen, Edmund Schönenberger

  • am 3.03.2016 um 15:34 Uhr
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    Was mich bei dieser ganzen Geschichte am meisten Interessiert ist, wer die Akteuere in den Parlamenten der Kantone, des Bundes sowie der Gemeinde- und Kantonsräte waren die solche Gesetzgebung erst legalisiert haben. Ebenso die Akteuere im Hintergrund aus dem Bereich der Lobbyisten und Geldgeber deren Moralvorstellungen umgesetzt wurden.

    Den dies ist die zweite primäre Seite der Opfer Helvetischer Zwangsarbeit und Arbeitslager… in etwa so deplaziert wie das Verbot gegen Parteien und politische Strömungen wie etwa die gegen die PDA und deren Mitglieder (Kommunist als Schimpfwort, Beleidigung, Unmenschen) bis in die 70′ Jahre illegalisiert wurden. Es sind immer nur wenige deren Deutungshoheit, Moral und Wertvorstellungen, sich über alle anderen erhebt.

    Nicht nur schlecht, ganz sicher aber nicht nur gut, denn der Staat schützt primär Kapital, Investitionen, Eigentum nicht Menschen. TTIP grüsst…

    So wie die letzten Volksverhetzenden Kampagnen gegen IV Bezüger, Arbeitslose, Kranke, Sozialhilfeempfänger. Erschütternd und Tragisch wie weit man das Volk gegen andere hat aufhetzen können und der Rest hilflos zusehen musste. Das war nicht vor 50 Jahren sondern erst kürzlich. Wir erinnern uns doch noch? Nicht? Ich erkenne heute keinen Unterschied zu damals.

  • am 3.03.2016 um 15:36 Uhr
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    Doch noch etwas. Sie schreiben: «Der Kampf zur Aufrechterhaltung von «Moral» und «Sittlichkeit» wurde vielmehr als gesellschaftliche Aufgabe empfunden». Ein für mich problematischer Satz. Diese Moral und Sittlichkeit waren meiner Meinung nach nicht eine Erfindung der Bevölkerung, sondern von den damaligen moralischen Instanzen wie Kirche, Schule, Patrons und dem schon damals mit ihrer Geldmacht kontrollierten Staatsapparat aufoktroyiert, so dass derart „geimpfte“ Eltern sich in nichts anderem als eben in den Bahnen dieser diktierten Moral und Sittlichkeit bewegen konnten. Das ist auch heute noch so: Die Kinder gehen vom ersten Tag bei schon seinerzeit disziplinierten Eltern buchstäblich in die Schule und diese wachen streng darüber, ob sich die Sprösslinge anständig verhalten. Dabei spielt selbstverständlich auch die wohl begründete Angst eine Rolle, dass der Nachwuchs bei Abweichungen wie nichts in einem Heim landet. Man soll sich mal das vom Bund geführte Verzeichnis der weit über 1000 Anstalten, Heime, BEWO etc. in der Schweiz zu Gemüte führen. Der Verein PSYCHEX ist am Puls der Geschehnisse: Beständig wenden sich vor allem Frauen an ihn, welchen die Kinder weggenommen und die Mütter obendrein in eine psychiatrische Anstalt versenkt worden sind. Hier greift allerdings Ihr Satz: „Und dass hier Herrschaftswissen durchgesetzt und Befriedigungsverbrechen (Basaglia) verübt werden, ist eine Tatsache.“

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