PrototypderGrenzbefestigung

Prototyp der künftigen Grenzbefestigung Griechenland/Türkei © Georg Gatsas

Europas Grenzen – das (unbekannte) nackte Grauen

Christian Müller /  Politische Diskussionen um die Zuwanderung sind das Eine. Ein Augenschein an Europas Grenze das Andere. Es geht unter die Haut.

Schweizer Politikerinnen und Politiker pflegen die Zuwanderung zu diskutieren, als ob es ein spezifisch schweizerisches Problem wäre. Und eine der meistgehörten Thesen lautet: Die Zuwanderer kommen, weil sie von unserem Sozialstaat – ohne zu arbeiten! – profitieren wollen.

Leider ist Ignoranz in der Politik noch immer nicht unter Strafe gestellt. Im Gegenteil: solche Aussagen fern jeder Realität sind bei jedem vierten Schweizer immer noch ein Grund, einer so argumentierenden Politikerin, einem so argumentierenden Politiker bei Wahlen die Stimme zu geben.

Klar, wer nur fünf oder sechs Wochen Ferien hat im Jahr, hat keine Zeit, das Strandleben in der Südtürkei, in Tunesien oder Ägypten für einen Tag zu unterbrechen und sich umzusehen, wie das Leben in diesen Ländern wirklich ist. Sun’n’Fun lautet die Devise. Was kümmert mich der Rest der Welt?

Den Realitäten in die Augen schauen

Zum Glück gibt es noch Menschen, auch junge, die bereit sind, den Realitäten in die Augen zu schauen. Und zum Glück gibt es auch noch Journalisten, die bereit sind, sich menschliches Elend vor Ort anzusehen und es – schreibend und gegebenenfalls fotografierend – der Welt kundzutun. So eben wieder einmal geschehen.

Kaspar Surber: «An Europas Grenze», ein neues Buch aus dem Echtzeit Verlag in Basel, ist kein Buch zum Lese-Vergnügen – und doch liest man es, einmal angefangen, mit Herzklopfen zu Ende. Kann das alles wahr sein? Wir Europäer, trotz sogenannter Euro-Krise die Bewohner des reichsten Kontinents, leisten uns solche Zustände an unseren Grenzen?

Kaspar Surber war an verschiedenen Brennpunkten der Migration vor Ort und hat mit den Betroffenen selber reden können: in Lampedusa zum Beispiel, der italienischen Insel gegenüber Tunesien, wo fast regelmässig mit Flüchtlingen überfüllte Boote aus Afrika landen. In Athen und am Evros, dem Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland, wo Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten zu Zehntausenden Europas Grenze überschreiten, um hier irgendwo einen Arbeitsplatz zu finden. Oder in Warschau, wo die europäische Agentur FRONTEX ihren Sitz hat und wo sich Surber über deren Ziele und Methoden in mehreren Gesprächen ein Bild machen konnte.

Kann das alles wahr sein?

Kann das alles wahr sein? Es übersteigt wohl das Vorstellungsvermögen eines in europäisch «geordneten» Verhältnissen lebenden Menschen, sich in die Welt eines Flüchtenden zu versetzen. Wie elend muss es zuhause sein, um solche Risiken und konkreten Qualen auf sich zu nehmen? Wie intensiv muss der Wunsch nach einem bezahlten Arbeitsplatz sein mit der Möglichkeit, auch etwas Geld für die Seinen nach Hause zu schicken?

Dabei schreibt Kaspar Surber, der 32jährige Journalist, eigentlich ganz unemotional, absichtlich oder auch, weil es halt so sein Schreibstil ist. Nirgends drückt er auf die Tränendrüsen. Er schreibt einfach, was er gesehen und erlebt hat. Reporter eben.

Oder er zählt auf, über wie viele Schiffe und sogar Helikopter FRONTEX verfügt. Zur Lösung eines Problems? Augenwischerei! Zur Verhinderung der (sogenannt illegalen) Zuwanderung, zur Errichtung von Mauern und Stacheldrahtzäunen um Europa herum.

Kein Buch für die Wohnzimmer-Bibliothek

Das Buch versucht mehr aktuell zu sein als langlebig zu bleiben. So geht Kaspar Surber auch auf die Debatte um die Verschärfung des Asylgesetzes ein, gerade nach der Debatte im Nationalrat und noch vor der Debatte im Ständerat. Zumindest den tiefen Graben zwischen einer politischen Diskussion und dem lebendigen Geschehen an Europas Grenzen aufzuzeigen gelingt ihm gut: hier die (vermeintlich) plausiblen Argumente, da das unendliche Leiden, die Armut, die ständige Unsicherheit, die Verfolgung, die Ausschaffung.

Kaspar Surbers Text ist, dreimal 16 Seiten Bilder weggerechnet, 110 Seiten lang, in grosser, leicht leserlicher Schrift. Ein verregneter Sonntag genügt, das Buch zu lesen. Und man sollte es tun, in Erledigung der eigenen Bürgerpflicht sozusagen. Denn in einem Land wie der Schweiz, wo die Bürgerinnen und Bürger direkt mitreden, auch in Fragen der Zuwanderung und ihrer Beschränkung, genügt es nicht, den Politikern zuzuhören, die im Bundeshaus via Fernsehen aus dem Fenster parlieren.

Formal – die nicht ganz nachvollziehbare Hintereinander-Reihung von Texten – ist das Buch etwas gewöhnungsbedürftig. Ob es sinnvoll ist, über einen Prozess in Strassburg zu schreiben, das Urteil aber wegzulassen und – eine Überraschung – es dann 20 Seiten später doch noch zu bringen, mag man sich fragen. Aber es scheint zu den heutigen «Musts» im Journalismus zu gehören, «Facts» immer wieder mit «Action» zu unterbrechen, weil man den Leserinnen und Lesern zu viel nüchterne Information am Stück nicht mehr zumuten kann.

Eine erlaubte – nein, eine zwingende Frage

Aufgefangen wird das Puzzle durch ein klug hinterfragendes Nachwort von Andreas Cassee. «Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir denn beginnen, Geburtsprivilegien und nationalen Egoismus in Frage zu stellen?» Der Assistent am Lehrstuhl für Angewandte Ethik der Universität Zürich trifft den Kern des Problems: Als Europäer sind wir zwar alle stolz darauf, dass wir den Feudalismus überwunden haben, ohne uns Rechenschaft zu geben, dass wir einem neuen Feudalismus huldigen: Wer etwa mit einem roten Pass auf die Welt gekommen ist, gehört schon von Geburt an zu den Privilegierten.

Verdient?

Die Buchvernissage mit Lesung findet statt am 20. September 2012 um 21 Uhr im «Helsinki Klub» Zürich an der Geroldstrasse 35 bei der Bahnstation Hardbrücke.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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