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Warnung vor dem Blutverdünner Pradaxa © drugrisk.com

Blutverdünner: Das Einseifen der Ärzte hat Erfolg

Urs P. Gasche /  Trotz unklaren Langzeitrisiken, etlichen Kontraindikationen und einem x-fach höheren Preis steigen die Verschreibungen raketenhaft.

Infosperber berichtete über eine von Pharmafirmen gesponserte Weiterbildungsveranstaltung für Ärzte in Deutschland, an der einseitig über Vorteile der neuen Generation von Blutverdünnern informiert wurde. (Siehe «So seifen Pharmafirmen Ärzte ein» vom 18. August 2015). Die neuen Blutverdünner (Antikoagulanzien) Xarelto, Pradaxa und Eliquis (=NOAKs) «werden derzeit beispiellos beworben», schreibt die von Pharmawerbung unabhängige Fachzeitschrift «Gute Pillen – schlechte Pillen». In Deutschland schickte der Pharmakonzern Bayer den Hausärzten unverlangt Gratismuster von Xarelto. Ob Bayer diese Praxis auch in der Schweiz betrieb, ist unbekannt.
Der Erfolg der Pharma-Marketing-Anstrengungen ist eklatant: In der Schweiz haben die neuen, zehnmal teureren Blutverdünner die bewährten alten innert zwei Jahren verdrängt. Bereits über die Hälfte aller Patientinnen und Patienten bekommen die neuen Arzneien verschrieben. Das zeigt eine Statistik der grössten Krankenkasse Helsana.
In der Schweiz verdienen selbstdispensierende Ärzte sowie Apotheken mehr, wenn sie die teuren Blutverdünner verkaufen.
Der gepriesene Vorteil der NOAKs: Man muss nicht mehr ständig Blutkontrollen machen. Aus diesem Grund hat das Bundesamt für Gesundheit den Herstellern Preise gewährt, die rund zehnmal so hoch sind wie die Preise der seit vielen Jahren bewährten Blutverdünner Marcoumar und Sintrom.
Kein Gegenmittel bei schweren Blutungen
Die Nachteile der NOAKs – ausser dem extrem hohen Preis: Falls es zu schweren Blutungen kommt, gibt es kein Gegenmittel (Antidot) wie bei Marcoumar oder Sintrom. Ein solches sei nicht nötig, behaupten die Pharmakonzerne, weil man die NOAKs einfach absetzen könne und das Blut dann praktisch sofort weniger gerinne. Gleichzeitig aber warnen die gleichen Pharmafirmen, NOAKs auf keinen Fall auf eigene Faust abzusetzen. Und sie gaben bekannt, an einem (angeblich unnötigem) Antidot intensiv zu forschen.
Für die NOAKs bestehe ein «signifikantes Risiko schwerer Blutungsereignisse», erklärt das deutsche «Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte». Das BfArM hat deshalb schon 2013 einen ganzen Katalog aufgestellt, wann NOAKs nicht zur Anwendung kommen sollten (Kontraindikationen).
Eine schwerwiegende Blutung («major bleeding») komme bei 1-4 Prozent der mit NOAKs behandelten Patientinnen und Patienten vor, schätzt die US-Pharmafirma Portola, welche an der Entwicklung von Antidots für Xarelto und Eliquis arbeitet.
Schwere Blutungen unter der Medikation der NOAKs haben bereits zu etlichen Todesfällen geführt. Das BfArM, das solche seit April 2008 erfasst, nannte für Eliquis 523 Inlandsfälle, davon 37 mit Todesfolge (Stand: 3. Dezember 2014). Für 2012 lagen dem BfArM Verdachtsberichte von 72 Todesfällen von Menschen vor und für 2013 bereits Verdachtsberichte von 102 weiteren Todesfällen, die zuvor mit Xarelto behandelt wurden. Ein Kausalzusammenhang im Einzelfall ist dabei nicht sicher belegt.
Gemäss den Recherchen einer US-Gruppe sind
seit 2010 in den USA mindestens 8000 Todesfälle im Zusammenhang mit den drei neuen oralen Antikoagulantien Xarelto, Pradaxa und Eliquis aufgetreten.
In der gleichen Zeit wurden nur 700 Todesfälle als Folge einer Antikoagulation mit dem Vitamin-K-Antagonisten Warfarin registriert, obwohl dreimal mehr Patientinnen und Patienten mit Wafarin behandelt wurden (Quelle «Journal Sentinel» 2013). Statt Warfarin wird in der Schweiz Marcoumar verwendet.
Marcoumar zahlen die Krankenkassen seit 1955, Sintrom seit 1957. Die Langzeitrisiken nach jahrzehntelanger Einnahme sind bekannt und gering. Dagegen weiss man über Langzeitrisiken der NOAKs noch nichts.
Die Zulassungsbehörde Swissmedic hat bei den NOAKs lediglich geprüft, ob der Gesamtnutzen grösser ist als der Schaden. Swissmedic prüft nicht, ob neue Medikamente zweckmässiger sind als bisherige.

Leitlinien in Deutschland
In den Leitlinien der deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin DEGAM heisst es zu den KOAGs:

  • «Jeder Patient mit NOAK soll einen Patientenausweis erhalten und über die Risiken der Therapie, die Notwendigkeit regelmässiger ärztlicher Kontrollen und über das Problem eines fehlenden Antidots aufgeklärt werden
  • «Insgesamt ergeben sich aus Sicht der DEGAM für Patienten, die zur Prophylaxe kardioembolischer Erkrankungen bei Vorhoffflimmern mit VKA gut zu behandeln sind (Red. mit Vacoumar oder Sintrom), keine Vorteile aus einer Therapie mit NOAK
  • «Kontraindikationen für NOAKs: Alter >80 Jahre; Körpergewicht <60 Kilo; Niereninsuffizienz, Polymedikation, unsichere Therapietreue, TAH- und/oder NSAR-Einnahme, Mulitmorbidität, Magen- und Blutungsanamnese.»

Wolfgang Becker-Brüser, Chefredaktor des unabhängigen deutschen «Arznei-Telegramms», empfiehlt Ärzten dringend, Pradaxa nur denjenigen Patientinnen und Patienten zu verschreiben, welche die andern Blutverdünner nicht vertragen.*
Ärzte in der Schweiz «weniger restriktiv»
Der Schweizer Arzt Etzel Gysling von Infomed-Online, einer Plattform für interessenunabhängige medizinische Informationen, und Herausgeber der Zeitschrift «pharma-kritik», hat sich zur Anwendung der NOAKs wiederholt kritisch geäussert. Er kritisiert, dass die bei uns berücksichtigten Kontraindikationen «weniger restriktiv» seien als die der deutschen Allgemeinmediziner. Gysling verweist auf die «Häufung von Todesfällen» und hält die enorme Steigerung der NOAK-Verschreibungen deshalb «medizinisch für nicht sinnvoll».
Die grossen HMO-Gruppenpraxen Medix lehnen den Einsatz von NOAKs für alle diejenigen Patientinnen und Patienten ab, die mit Marcoumar oder Sintrom während längerer Zeit eine gut eingestellte Antikoagulation haben (z.B. Quick-Wert >75%). Eine langfristige Einnahme von NOAKs empfiehlt Medix nur für Patienten mit nicht-valvulärem Vorhoflimmern, die mit Marcoumar schlecht einzustellen sind, oder für Patienten, die unter Marcoumar Thrombosen erlitten.

Verkaufsschlager
Trotz solcher Empfehlungen unabhängiger Stellen sind die NOAKs seit 2012 besonders in der Schweiz zum Verkaufsschlager geworden.
Krankenkassen-Kosten** für NOAKs:
Januar bis März 2013: 7,7 Mio CHF
Januar bis März 2015: 21,2 Mio CHF (+275%)
Krankenkassen-Kosten für Marcoumar und Sintrom:
Januar bis März 2013: 2,2 Mio CHF
Januar bis März 2015: 1,7 Mio CHF (-13%)
Mengenmässiger Anteil NOAKs am Gesamtmarkt NOAKS/Marcoumar/Sintrom:
Januar bis März 2013: 28 Prozent
Januar bis März 2015: 56 Prozent
Nach Angaben von Professor Job Harenberg von der Medizinischen Fakultät Mannheim haben in Deutschland die meisten Patientinnen und Patienten «auf Empfehlung des Hausarztes» auf NOAKs umgestellt. Erst an zweiter Stelle folgt als Grund «schwer einstellbarer Quick-Wert oder INR-Wert».
———-

*HINWEIS: Patientinnen und Patienten, die das Medikament Pradaxa oder Xarelto einnehmen, sollen es nicht eigenmächtig absetzen. Halten Sie in diesem Fall Rücksprache mit Ihrem Arzt.
**Konservative Hochrechnungen auf die ganze Schweiz aufgrund der Statistik der grössten Krankenkasse Helsana.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor vertritt die Prämienzahlenden und PatientInnen bis Ende 2015 in der Eidgenössischen Arzneimittelkommission.

Zum Infosperber-Dossier:

Pillen

Die Politik der Pharmakonzerne

Sie gehören zu den mächtigsten Konzernen der Welt und haben einen grossen Einfluss auf die Gesundheitspolitik.

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4 Meinungen

  • am 21.08.2015 um 13:02 Uhr
    Permalink

    Ich wiederhole: Wolf-Dieter Ludwig: «Wir haben einen globalen Pharmamarkt. Wir haben keine nationalen Zulassungen mehr. Wir haben 90% der Medikamente, die von der europäischen Arzneimittelagentur zugelassen werden. Die Gefahr geht nicht von den Phase 1 Studien aus. Die Gefahr geht davon aus, dass diese Studien, die methodisch besser sind von den pharmazeut. Herstellern als viele akadem. Studien, die falschen Botschaften vermitteln. Die Daten sind manipuliert, im Nutzen übertrieben und letztlich Schäden auch verschwiegen werden. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir diese Situation verbessern. Das werden wir nur können, indem wir unabhängige Forschung unmittelbar nach der Zulassung stärken, indem Ärzte nicht mehr von den pharmazeutischen Herstellern über ihre Produkte informiert werden, sondern indem wir unabhängige Fort- & Weiterbildung haben. Ich finde es geradezu absurd, dass sich ein Mediziner zu 90/95% nach Zulassung eines neuen Wirkstoffes von der Industrie mit Hochglanzbroschüren über die Vorteile, und geringen Nachteile natürlich, dieses Wirkstoffes informieren muss. Wir haben nur 20, maximal 20% der Wirkstoffe, die neu zugelassen werden, die wirklich innovativ sind. D.h. sie bedeuten einen therapeutischen Fortschritt. Die meisten sind überflüssig und wir kriegen diese Information nicht zu den verschreibenden Ärzten und darum müssen wir kämpfen!“
    Dieser Beleg der individ. Indikations- & Behandlungsqualität gilt für alle Ärzte, auch medix mit deren Retrozessionen!

  • am 25.08.2015 um 10:44 Uhr
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    Ich kenne keine Berufsgruppe, welche der Werbung weniger zugänglich und weniger käuflich wäre als Ärzte, denn wer möglichst rasch möglichst reich werden möchte, studiert nicht mühsam und langwierig Medizin sondern wird Banker, Ökonom oder Jurist: Eine «Positivselektion» relativ empathischer Menschen. Selbstverständlich gibt es aber auch bei uns schwarze Schafe und auch hier natürlich in erster Linie unter denjenigen, die immer ganz nach oben steigen müssen.

    Alle Studien der NOAK wurden gegenüber einer ziemlich schlechten Einstellung von Marcoumar durchgeführt (nur etwa 2/3 der INR-Messwerte im Zielbereich 2.0-3.0 gegenüber von mir gefühlt in meiner Praxis 90-95%). Sie sind ergo nicht beweisen besser oder schlechter als eine ziemlich schlechte Antikoagulation unter Marcoumar.
    Ich hatte dies schon vor zehn Jahren an den grossen Kongressen kritisiert – die Antwort: Diese 2/3 entsprächen ihren Erfahrungen im realen Leben.

    Tja…

  • am 25.08.2015 um 12:40 Uhr
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    Tja … Was als Patientenvertreter eben auch die Notwendigkeit gegenüber der Ärzteschaft bekräftigt, der angeblichen Sorgfaltspflicht unserer Ärzte über ‹Zweckmässigkeitsforschung› und im speziellen über fachspezifische Audits die med. Indikationsqualität und den daraus zu resultierenden Behandlungserfolg zu kontrollieren und zu optimieren, wenn den das Patientenwohl das Primat unseres Gesundheitssystems und nicht die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringer und Dienstleister sein soll!

    Aber eben, alle, insbesondere die medizinisch ungebildeten Bundesrätinnen & Bundesräte, Parlamentarierinnen & Parlamentarier sowie unsere Direktoren unserer Gesundheitsämter gehen stets davon aus, dass unsere Ärzte diese Sorgfaltspflicht selbstverständlich stets wahren. Dies gilt es kritisch zu hinterfragen. Schnell würde man dann aber die Schwachstellen des Wirtschaftlichkeitsverfahrens unserer KK’s, der Fallpauschalen, Managed Care Netzwerken, der Preisbildung und Preisüberprüfung kassenpflichtiger Medikamente etc. blosslegen und die wirtschaftliche Effizienz der Gesundheitsindusrie empfindlich schmälern.

    Stichwort: effiziente Operationalisierung der gesetzlich vorgeschriebenen WZW-Kriterien zur Wahrung des Patientenwohls und der Kosteneffizienz der OKP, welche aber in Bundesbern leider entsprechend lobbyiert im Interesse einer boomenden Gesundheitsindustrie unterwandert werden.

    Empathie hin oder her. Hier geht es knallhart um das Geschäft und wirtschaftliche Eigeninteressen …

  • am 25.08.2015 um 13:08 Uhr
    Permalink

    Tja…auch hier erscheint der Arzt, der wie ich die NOAK zurückhaltend einsetzt und unter Marcoumar alle vier Wochen eine INR-Kontrolle durchführen muss, im unsäglichen WZW-, in Wahrheit w-, Weltbild,der Santésuisse teurer als seine NOAK massenhaft einsetzenden Kollegen, obwohl er dem Gesamtsystem Kosten spart.

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