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Autoren Siemoneit (links) und Richters: «Leistungsloses Einkommen untergräbt Marktwirtschaft» © Werkstatt Zukunft

Die revolutionäre Reparatur der Wachstums-Wirtschaft

Hanspeter Guggenbühl /  Leistungsprinzip statt Ressourcen-Plünderung: Nach diesem Prinzip wollen zwei Physiker die «Marktwirtschaft reparieren».

Wie befreien wir die (angebliche freie) Marktwirtschaft vom Wachstumszwang? Oder: Wie kann eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren? Diese Fragen stellen sich seit Jahren einige Ökonomen, Politikerinnen und Freiheitsliebende, doch sie sind eine Minderheit. Denn für die grosse Mehrheit der Leute aus Wirtschaft und Politik – vom Freisinn über die SP bis hin zum technokratie-gläubigen Flügel der Grünen – ist das Wachstum der Wirtschaft eine unerlässliche Bedingung, um Wohlstand und Arbeitsplätze zu erhalten, die Armut zu überwinden, die Renten und den Staatshaushalt zu finanzieren. Oder mit den Worten von Margaret Thatcher selig: «There is no alternative».

Gefragt wird allenfalls, wie sich dieses alternativlose Wachstum natur- und sozialverträglich gestalten liesse. Die Erfahrung zeigt: Bisher klappte es nicht. Denn trotz Wirtschaftswachstum wuchs die Schere zwischen Reich und Arm weiter – wenn auch auf höherem Niveau. Und mit dem Wachstum nahm die Ausbeutung von nicht nachwachsendem Naturkapital weiter zu, ebenso der Ausstoss von Treibhausgasen, die das Klima aufheizen.

Aus diesem Grund haben die verbliebenen WachstumskritikerInnen das Feld noch nicht geräumt. Unter ihnen lassen sich, grob gesagt, drei Gruppen unterscheiden: Erstens ökologisch orientierte Ökonomen, unter ihnen etwa Mathias Binswanger, die relativ ratlos zum Schluss kommen, die kapitalistische Markt- und Geldwirtschaft unterliege einem systemischen Wachstumszwang (Infosperber berichtete hier und hier darüber). Zweitens einige revolutionär gesinnte Linke, die finden, der Kapitalismus habe keine Probleme, sondern er sei das eigentliche Problem, und die folglich eine – wie auch immer geartete – Systemveränderung fordern.

«Marktwirtschaft reparieren»

Hier widmen wir uns einer dritten Gruppe, vertreten durch die Physiker Oliver Richters und Andreas Siemoneit. Sie meinen, eine natur- und menschengerechte Marktordnung lasse sich innerhalb der freien Marktwirtschaft verwirklichen. Ihr Rezept publizierten die beiden im Fachbuch unter dem Titel «Marktwirtschaft reparieren». (oekom-Verlag, 2019), in dem sie sich zum liberalen Leistungsprinzip bekennen – mehr darüber später.

Um den Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Naturausbeutung aufzulösen, bleiben gemäss Richters/Siemoneit «nur zwei Optionen», nämlich: «Wirtschaftswachstum ökologisch nachhaltig zu gestalten oder Nichtwachstum sozioökonomisch stabil zu machen.» Dazu blicken sie ebenfalls zurück und stellen fest: «Die erste Option – grünes Wachstum – scheitert trotz enormer Anstrengungen seit mehreren Jahrzehnten vor allem am Thema Rohstoffeffizienz (…) Die zweite Option – Nichtwachstum oder sogar Schrumpfung – erscheint den meisten Menschen in politischer Hinsicht als völlig unrealistisch, buchstäblich undenkbar.» Über dieses angeblich «Undenkbare» denken die Autoren in ihrem Buch ausführlich nach und kommen auf Seite 155 zu folgendem Schluss:

«Die Idee der Marktwirtschaft ist eine vernünftige soziale Utopie. Sie kann Freiheit, Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit systematisch verbinden und bietet dafür gangbare politische Gestaltungsmöglichkeiten an. Bewährte Mechanismen wie Gewinn, Geld, Zins und Wettbewerb sorgen für eine strukturell einfache und dezentrale Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten.»

Realer Kapitalismus weit entfernt von Marktwirtschaft

So weit, so schön. Doch nun kommt ihre zentrale Kritik: «Der heutige Kapitalismus als real existierende Marktwirtschaft ist weit von dieser Utopie entfernt. Soziale Ungerechtigkeit, Armut neben Reichtum, ökologische Zerstörung sowie ein geradezu verzweifeltes Streben nach Wirtschaftswachstum sind Beleg dafür. Die Ursachen liegen in leistungslosen Einkommen, fehlenden ökologischen Leitplanken und Machtakkumulation. Diese sind nicht Ausdruck marktwirtschaftlicher Prinzipien, sondern ihrer Verletzung.»

Während der Schreibende das liest, erinnert er sich an den Titel des Buches, das er 1996 zusammen mit Urs P. Gasche und Werner Vontobel schrieb: «Das Geschwätz von der freien Marktwirtschaft». Das alte Werk ist längst vergriffen, aber, so zeigt eine Suche, bei «amazon.de», als gebrauchtes Taschenbuch noch erhältlich.

Weites Feld an leistungslosem Einkommen

Zurück zum aktuellen Buch: Verletzt werden die «marktwirtschaftlichen Prinzipien» dadurch, dass der «realexistierende Kapitalismus» es erlaubt, Einkommen ohne Leistung zu erzielen. Zur Kategorie leistungsloser Einkommen zählen Richters /Siemoneit nicht nur naheliegende Dinge wie etwa das Einkommen aus Vererbung, das Nachkommen von reichen Eltern ohne eigenes Zutun und mehrheitlich steuerfrei erzielen, oder die Rente aus Bodenbesitz, dessen Wert sich ohne eigenes Zutun durch Verknappung oder Einzonung vermehrt.

Ebenfalls als weitgehend leistungslos werten die Autoren – und hier werden viele Technikgläubige staunen – Einkommen aus technologischen Innovationen. Ihre Begründung: Technologische Innovationen basierten nur zum kleinen Teil auf Ideen und damit auf menschlicher (Denk-)Leistung, zum grösseren Teil auf dem Einsatz von natürlichen Rohstoffen.

«Das Leistungsprinzip ‹Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen› lautet in der Realität eher ‹Es verdient mehr, wer natürliche Ressourcen marktgerechter verbraucht’», analysieren die Autoren auf Seite 103 und präzisieren auf Seite 104: «Technologie und ihr überbordendes Ressourcenverbrauch untergraben damit fundamental das Leistungsprinzip, weil mit technischen Produkten und Dienstleistungen weniger die Leistungen der entsprechenden Menschen am Markt angeboten werden als vielmehr der Brennwert von Erdöl, die Festigkeit von Stahl, die Leitfähigkeit von Kupfer und so weiter.»

Mit dieser weiten Definition von «leistungslosem Einkommen» betrachten Richters/Siemoneit ein altes Problem – die Gratisnutzung von Naturgütern – aus einem neuen Blickwinkel. Um diese Plünderung zu beenden, fordern sie «eine explizite Deckelung von Ressourcen- und Naturverbrauch». Mit diesem (Kontingentierungs-)Rezept unterscheiden sich die beiden Physiker von ökologisch orientierten Ökonomen, welche verlangen, die unentgeltliche Nutzung von Naturgütern sei mittels Lenkungsabgaben (auf der Metaressource Energie) in den ökonomischen Kreislauf zu integrieren.

«Reparatur» mit revolutionären Konsequenzen

«Die wichtigste ideelle Grundlage von Marktwirtschaft ist die sogenannte Leistungsgerechtigkeit, oft auch als Leistungsprinzip bezeichnet», schreiben Richters/Siemoneit in der Einleitung zu ihrem Buch. Da werden liberale Wirtschaftsführer zustimmend nicken. Doch wenn sie weiter hinten erfahren, dass der Grossteil ihres Einkommens, das sie beziehen, nicht ihrer Leistung entspricht, sondern auf Erbe, Bodenrente, Marktmacht oder naturplündernder Technologie basiert, werden sie dieses Buch wohl entrüstet beiseitelegen. Denn was die Autoren harmlos als «Marktwirtschaft reparieren» ankünden, hätte für die real existierende Marktwirtschaft revolutionäre Konsequenzen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Führt Wachstum zu Glück oder Crash?

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6 Meinungen

  • am 10.09.2019 um 13:41 Uhr
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    Eine sehr interessante Analyse, aber wie setzt man sich gegen die Netzwerke der Macht durch?

    Ich lade alle ein, mitzumachen: http://www.du-bern.ch, http://www.helvida.ch

    Klaus Marte
    Nationalratskandidat Bern, Ständeratskandidat Zürich

  • am 11.09.2019 um 13:07 Uhr
    Permalink

    Der Ansatz ist wichtig, «Marktwirtschaft reparieren» ist noch zu lesen. Allerdings sind solche Reparatur- Vorschläge längst gemacht worden. Sie scheitern bisher alle an den herrschenden Machtverhältnissen.
    Aber warum bleibt die alles entscheidende Dimension einer «Reparatur» im Vorschlag unberücksichtigt? Die Menschheit wächst in jüngerer Zeit, weitgehend ohne Ziel und ohne Plan, auf bald acht Milliarden. Die meisten Kulturen, auch die christliche, betrachtet dieses Wachstum als «Menschenrecht» oder gar «Menschenpflicht», als Exklusivrecht das sie keinem anderen mitlebenden Wesen gewährt. Raubbau pur.
    Jeder Reparaturversuch ohne eine Wachstumsbeschränkung unserer Spezies muss scheitern.

  • am 12.09.2019 um 15:30 Uhr
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    Wie wärs mit der Freiwirtschaft? Silvio Gesell´s Gedanke ist so genial wie trivial. Außerdem sollte dies gerade in der Schweiz bekannt sein, wo es sogar die WIR Bank gibt und sogar die drei FFF´s bekannt sind. Freiland, Freiboden Freigeld. Außerdem gibt es schon eine Reihe funktionierender Regionalgeldversuche. Wer Interesse hat schaue mal bei INWO.de vorbei.

  • am 12.09.2019 um 15:34 Uhr
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    Ohne das Buch jetzt gelesen zu haben unterstelle ich den Autoren jetzt mal einen dramatischen Mangel an «Kapitalismustheorie».
    Den hier entscheidenden Punkt hätten die beiden Kollegen (ich bin selbst promovierter Physiker) sich z.B. auch vom Vater des kurz erwähnten Mathias Binswanger, Hans Christoph Binswanger, erklären lassen können. Der konnte nämlich noch beweisen, dass dem Kapitalismus nicht nur ein Wachstumsdrang innewohnt (schon durch Marx bewiesen mit der Formel, dass aus Geld immer mehr Geld werden muss), sondern durch das real existierende Kreditbasierte Geldsystem sogar ein Wachstumszwang.
    "Marktwirtschaft» im heutigen Sinne ist also grundsätzlich nicht ohne Wachstum zu haben. Wachsen oder untergehen, bzw. Wachsen und deswegen untergehen. Das ist die Wahl. Oder, um es mit Rosa Luxemburgs zu sagen: «Sozialismus oder Barbarei».

  • am 13.09.2019 um 21:29 Uhr
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    In einem Buch mit dem Titel Cogento gibt es für die Probleme des Kapitalismus einige vielversprechendere Lösungsansätze – und das obwohl es nur als Einführung in Humanismus und Weltpolitik für Jugendliche gedacht ist.

  • am 17.09.2019 um 16:46 Uhr
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    Der Ansatz ist zwar richtig aber nicht neu und er setzt sich erneut philosophisch über den Lösungsweg hinweg, der nur mit realen Menschen zu erreichen ist. Unsere Gesellschaft schaut nur noch auf die sozialen Dimensionen in der Kategorie «Mensch» und negiert zunehmend aggressiv und konsequent jegliche FUNKTION. Eine funktionale Gerechtigkeit setzt eine neue Grundlagenwissenschaft voraus, welche der Schweizer Physiker Dr. Peter Meier bereits 1979 «erfunden» hat und seither bis zur instrumentellen Umsetzung auf eigene Kosten entwickelt hat.

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