
Der islamische Theologieprofessor Mouhanad Khorchide interpretiert die Scharia anders
«So kleinlich kann Gott nicht sein»
Auch im Islam gibt es Andersdenkende. Mouhanad Khorchide, einer der führenden islamischen Theologen Deutschlands, ist so einer.
Die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» brachte das Interview hinten am redaktionellen Teil, da, wo die Stellenanzeigen für Hochschulen und andere Bildungsanstalten beginnen. Zum Verstecken aber ist das Interview nicht, im Gegenteil. Es macht deutlich, dass es auch im Islam prominente Wissenschaftler gibt, die es auszusprechen wagen: Vieles an der Scharia ist zeitgenössische Interpretation der damaligen Rechtsgelehrten. Und sie ist, in dieser juristischen Ausformulierung, kein zentraler Gehalt des islamischen Glaubens.
Mouhanad Khorchide wurde 1971 als Sohn palästinensischer Flüchtlinge im Libanon geboren. Er ist in Saudi-Arabien aufgewachsen, hat in Beirut Theologie studiert und ging für die Promotion in Soziologie nach Wien. Seit 2010 ist er Professor für islamische Religionspädagogik am Zentrum für Religiöse Studien der Universität Münster in Nordrhein-Westfalen/Deutschland. Ein «erfahrener» Mann also, im besten Sinne des Wortes.
Bibel und Koran sind Schriften ihrer Zeit
Für die meisten Christen ist es, vor allem seit der Epoche der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, klar: Vieles, was im Alten und auch im Neuen Testament zu lesen steht, darf nicht zu wörtlich genommen werden. Vieles ist zeitbedingt, muss aus der damaligen Zeit heraus verstanden werden. Und Vieles kommt aus dem Brauchtum der Region, des Morgenlandes.
Verstehen aber auch die Muslime ihren Koran so?
Nicht alle. Aber es gibt sie, nicht zuletzt unter jenen, die ihre Religion auch wissenschaftlich näher angeschaut haben. Aber nicht alle wagen dies auch zu sagen.
Umso erfreulicher, wenn auch prominente islamische Theologen diese Haltung offen vertreten. Im interreligiösen Gespräch ist es ein wichtiger Punkt.
Hier ein paar Ausschnitte aus dem Interview der «Zeit» mit dem Theologen Mouhanad Khorchide:
ZEIT: Sie würden den Islam gerne befreien von dem herkömmlichen Scharia-Verständnis?
Khorchide: Man muss sich lösen von dem Gedanken, der islamische Gott sei ein angstmachender Gott, der nur dann zufrieden ist, wenn ich Gesetze den Buchstaben nach erfülle; es geht ihm um die Absicht dahinter. Gerade 80 von den 6236 Versen im Koran sprechen juristische Belange bezüglich der Gesellschaftsordnung an. Der Islam ist keine Gesetzesreligion.
ZEIT: Was ist mit dem Strafrecht, Erbrecht?
Khorchide: Was wir heute als islamisches Recht bezeichnen, ist nicht göttlich, das ist von damaligen Rechtsgelehrten entwickelt, die im Geist ihrer Zeit gedacht haben. Auch im Koran vorkommende juristische Aussagen, dass Dieben die Hand abzuhacken sei oder dass Frauen nur halb so viel erbten wie ein Mann, müssen in ihrem historischen Kontext gelesen werden. Nicht solche juristischen Maßnahmen machen die Scharia aus, sondern die Prinzipien dahinter wie Gerechtigkeit. Versteht man sie so, wäre es auch kein Problem, die Scharia mit unseren Menschenrechten zu vereinbaren.
ZEIT: Machen Sie es sich nicht zu einfach mit diesem, sagen wir es zugespitzt, Wohlfühl-Islam?
Khorchide: Umgekehrt: Die Orthodoxen und die Salafisten machen es sich leicht. Salafisten können den Islam in 30 Sekunden auf YouTube zusammenfassen. Die sagen: Fünfmal am Tag beten, fasten, pilgern, kein Alkohol, und das Paradies wartet. Orthodoxe Lehrbücher erklären ausführlichst, wie man die Finger beim Gebet halten soll, damit man gottgefällig ist. So kleinlich kann Gott nicht sein. Ich sage: Es geht nicht um die Fassade, es geht um den Kern, um das Innere des Menschen. Als guter Muslim muss ich mir mein Leben lang einen Spiegel vorhalten, ob ich mich aufrichtig verhalte. Der Weg zu einer reinen Seele ist länger und mühsamer, als sich an Äußerlichkeiten zu halten.
ZEIT: Sehen Sie sich eigentlich in der Rolle eines Wissenschaftlers oder eines Predigers?
Khorchide: Ich sehe mich in erster Linie als Wissenschaftler. Aber nicht nur: Ich möchte auch dazu beitragen, dass Muslime lernen, ihren Glauben zu reflektieren.
Und an anderer Stelle des Interviews:
ZEIT: Islamische Rechtsgelehrte scheinen Ihnen ein Dorn im Auge zu sein, in Ihrem neuen Buch über die Scharia bezeichnen Sie sie als Götter, die es nicht geben dürfte.
Khorchide: Ich habe nichts gegen die Rechtsgelehrten. Ich habe etwas dagegen, dass wir Muslime ihre Aussagen unhinterfragt als göttliche Wahrheit für alle Zeiten übernehmen. Dabei haben auch sie nur den Koran interpretiert. Wir haben aus ihnen Götter gemacht.
ZEIT: Warum ist es so gekommen?
Khorchide: In der muslimischen Welt herrscht seit dem 9. Jahrhundert ein restriktiver Geist. Wir hinterfragen kaum. Wir vertrauen der Vernunft nicht mehr als normgebender Quelle, und wenn heute ein Muslim dies tut, wird er schnell zum Häretiker erklärt. Die politischen Herrscher haben seit den Anfängen des Islams das Bild eines Gottes konstruiert, dem Gehorsam über alles geht, um einen Geist der Unterwerfung zu etablieren.
ZEIT: Sie sagen, die Scharia stehe im Widerspruch zum Islam. Ist sie nicht wesentlicher Teil des Islams und regelt das Leben der Muslime bis ins Detail?
Khorchide: Ich will mit diesem Klischee aufräumen. Nur wenn man die Scharia als juristisches Werk versteht, steht sie im Widerspruch zum Islam, denn dann schiebt sich der Rechtsgelehrte mit seinen Interpretationen des Korans zwischen Gott und den Menschen und verhindert die direkte, persönliche Beziehung zu Gott. Der Prophet Mohammed sagte: »Frag dein Herz, egal, was sie dir an religiösen Rechtsgutachten geben.«
ZEIT: Und wie verstehen Sie die Scharia?
Khorchide: Scharia bedeutet: der Weg zu Gott. Das ist der Weg des Herzens. Es geht um Prinzipien wie Gerechtigkeit, es geht um innere Läuterung, nicht um einzelne Gesetze, kleinliche Vorschriften. Gott darf nicht auf einen Richtergott reduziert werden.
Das Interview stand in der «Zeit» Ausgabe 41 vom 2. Oktober 2013
* * * * * * *
Nachtrag 2015:
Zwischenzeitlich ist von Mouhanad Khorchide auch ein Buch über den Islam erschienen: Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus. 248 Seiten. Herder Verlag 2015.
Das Buch ist nicht ganz einfach zu lesen, weil mit vielen theologischen Ausführungen, aber in der Summe lesenwert und zur Lektüre für Islam-Interessierte empfohlen (cm).
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Keine
Weiterführende Informationen
Feinbild Islam (auf Infosperber)
Drei Religionen unter einem Dach (auf Infosperber)
Islamische Kleidung ist arabische Tracht (auf Infosperber)
Zu den islamistischen Fundamentalisten (auf Infosperber)
Scharia – der missverstandene Gott (zum Buch von Mouhanad Khorchide)
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2 Meinungen
Vgl. Pirmin Meier: Fundamentalismus - eine neue Bedrohung? 90 Seiten, Institut f. politologische Zeitfragen, Zürich 1989
Gut, wenn Lehrer die Essenz ihrer Lehre aufzeigen, Essenz verbindet - Rezepte trennen.
Ich frage mich, welche Instanz hat endlich den Mut und die Kompetenz, die Frage 100 des Heidelberger Katechismus (evang.ref). zu revidieren. Da wird 450 Jahre nach Niederschrift immer noch die Todesstrafe auf's Fluchen gefordert! Hoffentlich kommt die Revision bevor Fanatiker diesen Wahnsinn umsetzen wollen!
Hier die Frage 100:
Ist es denn eine so schwere Sünde, Gottes Namen mit Schwören und Fluchen zu lästern, dass Gott auch über die zürnt, die nicht alles tun, um es zu verhindern?
Ja;
3. Mose 5, 1denn es gibt keine Sünde, die größer ist
und Gott heftiger erzürnt, als die Lästerung seines Namens. Darum hat er auch befohlen, sie mit dem Tode zu bestrafen. 3. Mose 24, 15-16
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