Kommentar

Der «Medienberater» des «Tagi» und «das Klageweib»

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Jürgmeier /  «Je weniger man redet, desto rascher gehen sie vorbei» – der Tipp für «Opfer von Medienkampagnen». Gut gemeint oder nachgetreten?

Es ist nichts wirklich Aussergewöhnliches, dass (ehemalige) JournalistInnen – wenn sie sich nicht als PressesprecherInnen eines Konzerns oder Bundesamtes verdingen wollen – ins Beratungsbusiness wechseln. Weil sie etwas mehr verdienen möchten oder einen Schreibstau haben. Da geben sie, als Mediencoachs, denen, die es nötig haben oder es zumindest glauben, kostbare Tipps, wie sie sich gegenüber Presse, Fernsehen und Radio geschickter verhalten könnten.

Zuger Sexaffäre oder Zuger Vergewaltigung?

Bemerkenswert ist es aber, wenn ein erfahrener Journalist wie Jean-Martin Büttner, der offensichtlich keine Ambitionen hat, das Fach zu wechseln, einer Frau ungefragt und in einer der grössten Schweizer Zeitungen eine Gratislektion coram publico erteilt. Dies in einer halbprivaten Tragödie, die zum öffentlichen Ärgernis verkommen ist, von der wir nicht einmal wissen, ob sie am Ende als «Zuger Sexaffäre» oder «Zuger Vergewaltigung» in die Stadtchronik eingehen wird. Warum schreibt der Mann – der fragt «Warum redet Jolanda Spiess-Hegglin immer weiter?» – diese endlose Geschichte im Scheinwerferlicht fort? Aus uneigennütziger Nächstenliebe? Damit auch ihm, Jean-Martin B., unbekannte Medienopfer von seiner Kompetenz profitieren können? Oder aus Rache, weil die Betroffene ein reales & persönliches Beratungsangebot uneinsichtig & schnöde zurückgewiesen hat?

Es klingt hämisch, wenn Jean-Martin B. über «das Klageweib» herzieht. «Wütend», spottet er, sei Jolanda S. gewesen (wegen der an einem SVP-Wahlkampffest zum Schein angebotenen K.-o.-Tropfen), «ungläubig» («Was sie in den letzten Monaten über sich habe lesen müssen, sagte sie, ‹war haarsträubend›»), und schliesslich habe sie «auf Knöchelhöhe» erkannt: «Recht und Gerechtigkeit sind zwei Paar Schuhe.» Am meisten, gibt er sich bekümmert, schade sie sich selbst, «weil sie die Affäre mit ihren Reaktionen, Aussagen und nachgelegten Empörungen weiterbefeuert». Das scheine sie immer noch nicht gemerkt zu haben. «Als Einzige.»

Dummedumme Schülerin. Warum demütigt er die Frau, die vermutlich nicht weiss, wie ihr geschah & geschieht, öffentlich? So wie einigermassen sadistische LehrerInnen jene, die das Einmaleins nicht begreifen wollen, in der ganzen Klasse vorführen? Ist es die nachvollziehbare fürsorgliche Ungeduld – die auch mich dann & wann befiel – mit einer medial schlecht Beratenen? Peter Uebersax habe «Opfern von Medienkampagnen» – anscheinend rechnet Jean-Martin B. durchaus mit der Variante, dass sich das «Klageweib» zu Recht beklagt – jeweils mitgegeben: «Je weniger man redet, desto rascher gehen sie vorbei.» Sie könne froh sein, dass der «brutalste Chefredaktor, den der Blick je gehabt hat», vor drei Jahren gestorben sei und nichts mehr sagen könne.

Schweig‘, wenn du nicht zum Schweigen gebracht werden willst

Glück gehabt, dass es nur ein Tages-Anzeiger-Kommentator ist, der ihr öffentlich vorhält, was sie «telefoniert, getwittert, erzählt, gefaxt, diktiert, gemailt, gefacebooked und briefgetaubt hat seit jener Dezembernacht, die sie in unbekannter Nähe ihres Ratskollegen Markus Hürlimann von der SVP teilverbrachte». Dass der Sensible darauf verzichtet, das Material einer Verzweifelten und vermutlich Isolierten auszubeuten. «Es gäbe vieles her». Droht er. Und lässt es, ach wie nett, bleiben.

Aber die (vermutlich generalpräventiv gedachte) Botschaft für aktuelle & potenzielle «Klageweiber», die auch Männer sein könnten, ist klar. Unabhängig davon, ob sie im Recht sind oder nicht: «Gib‘ Rue.» Leg‘ dich nicht mit der veröffentlichten Meinung an. Schweig‘, wenn du nicht zum Schweigen gebracht werden willst. Die Online-Zeitung Vice musste den Artikel «Fragen, die wir zur ‹Zuger Sexaffäre› noch stellen müssen» wegen «der Drohung mit rechtlichen Schritten» wieder offline schalten. «Es ist für ein Medium wie Vice schon aus finanziellen Gründen nicht möglich, sich gegen angebliche Rechtsverletzungen zu wehren. Wir müssen kapitulieren und stehen dazu.» Das ist die Sprache der (Ohn-)Macht, die definiert, welche Fragen & Klagen zugelassen sind, was Realität und was Vorurteil ist.


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Eine Meinung zu

  • billo
    am 18.10.2015 um 14:32 Uhr
    Permalink

    Danke, Jürgmeier! Ich war auch unangenehm überrascht über den merkwürdigen Kommentar von Büttner (den ich ansonsten sehr schätze).

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