Kommentar

kontertext: Von der Liebe im Leben und im Sterben

Alfred Schlienger © zvg

Alfred Schlienger /  Ein wunderbarer Film und eine tief berührende Reportage erzählen von ersten und letzten Dingen. Und manche können’s nicht fassen.

Im Dokumentarfilm «Immer und ewig», der eben in unseren Kinos angelaufen ist, berichtet Fanny Bräuning in Form eines eigenwilligen Roadmovies, wie phantasie- und lustvoll ihre Eltern ein Leben auch unter grössten Einschränkungen meistern. Seit über vierzig Jahren leidet die Mutter Annette an MS. Vor zwanzig Jahren fiel sie zudem ins Koma, und als sie nach einer Woche daraus erwachte, war sie halsabwärts vollständig gelähmt. Nur mit Mühe kann sie sich seither noch flüsternd verständigen. Früher war die Familie regelmässig im Kleinbus ans Meer gereist. Soll das jetzt alles vorbei sein? Seine Frau in ein Heim abzugeben, ist für den Vater unvorstellbar. Er gibt seinen angestammten Beruf als Fotograf auf, widmet sich, unterstützt von Fachpersonal, der Pflege seiner Partnerin und baut mit viel Tüftlertalent einen Caravan behindertengerecht so um, dass wieder regelmässige Reisen in alle Himmelsrichtungen möglich werden. Kilometermässig hat das ungewöhnliche Liebespaar in den letzten achtzehn Jahren so viermal die Welt umrundet.

Was aber schreibt nun ein eigentlich erfahrener Filmkritiker im Tages-Anzeiger? Fanny Bräuning widme den Film «ihren Eltern – oder was davon übrig geblieben ist». Man reibt sich verstört die Augen. Ist das nun Hohn? Oder Häme? Oder einfach nur bodenlose Blödheit? Man könnte sich bei einer derartigen journalistischen Respektlosigkeit durchaus eine Beschwerde beim Presserat überlegen.

Die Grenzen des Lebenswerten können sich verschieben

Erschreckend bleibt in jedem Fall, dass professionelle Kritiker den Kern eines grossartigen Films so verkennen können. Mit jedem Bild, mit jedem Satz zeigt «Immer und ewig» höchst eindrücklich, dass dieses Paar das pure Gegenteil von «Rest»-Eltern darstellt, die ein «Rest»-Leben führen. Es ist eine unaufdringliche, aber sehr sinnliche Dokumentation, wie sich die Grenzen des Lebenswerten verschieben können. Da wird aber auch nichts ausgespart, kein Zwist, kein Zank, keine Ungeduld. Und der Dokfilm ist durchzogen von einem Schalk und Charme, der das Publikum immer wieder zu wahren Lachstürmen hinreisst. Das bewahrt den Film auch vor jedem Anflug von Kitsch, der bei so viel fragloser Hingabe mitschwingen könnte. Weder Heldenepos noch Opferdrama, sondern eine Lebensrecherche, gekonnt ausbalanciert auf der Kippschaukel von Nähe und Distanz. An den diesjährigen Solothurner Filmtagen ist «Immer und ewig» hochverdient mit dem Prix de Soleure ausgezeichnet worden.

Wie man Ambivalenzen ausblendet – und dadurch nichts versteht

Wenig später doppelte die Basler Zeitung, die inzwischen ja auch zum Tamedia-Konzern gehört, mit einer seltsam verwirrten Besprechung unter dem Titel «Von hoffnungsloser Romantik» nach. Man muss mindestens die halbe Zeit weggeschaut haben, um über diesen Film so viel Unsinn schreiben zu können. Und die ganze Ambivalenz, die der Film auf Schritt und Tritt ausbreitet, konsequent ausblenden, um ihn «fast kitschig schön» zu finden. Die Stimmung im Kino sei nach dem Film «beklommen», heisst es da. Das könnte daran liegen, dass die Kritikerin nur eine Pressevorführung besucht hat. Denn dort lachen Kritiker tatsächlich praktisch nie. In allen Publikumsvorstellungen, die ich erlebt habe, von Solothurn über Liestal bis Basel, bebte der Saal immer wieder vor Lachen. Genaues, ganzheitliches Schauen ist eigentlich kein Luxus. Man sollte es sich auch bei «Immer und ewig», dieser kritischen Hymne an das Leben, unbedingt gönnen. Der Film thematisiert im Kern nicht die Behinderung, sondern ihre Überschreitung, und dies ohne jede Beschönigung. Also, selber staunen. Selber lachen. Und selber die gesellschaftlich wichtigen Fragen weiterdenken, die der Film sensibel und formvollendet aufwirft.

Blickwechsel: «Letzte Reise»

Fast möchte man hoffen, dass es kein Zufall, sondern so etwas wie eine glückliche mediale Fügung ist, dass fast gleichzeitig in der NZZ eine ebenfalls sehr sorgfältige und hochsensible Reportage erschienen ist über ein hochbetagtes Elternpaar, das sich aufgrund seiner beschwerlichen Situation entschieden hat, mit Hilfe von Exit gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Ich möchte diese exzellent geschriebene und im besten Sinne mitnehmende Reportage im Kontext des oben angesprochenen Films ausdrücklich nicht dagegen, sondern daneben stellen, gerade weil sie so verschiedene Sichtweisen zeigen. Beide stellen erste und letzte Fragen zu Liebe, Leben und Sterben ins Zentrum, ganz konkret, höchst feinsinnig und intim. Beide regen zum so persönlichen wie gesellschaftspolitischen Diskurs an. Und beide haben sie nicht den Anspruch, allgemeingültige Antworten zu geben.

Ein unsäglich schöner Freiheitsgewinn

Der wunderbare Film und der wunderbare Text sind beide ganz transparent gehalten für die Überlegungen, Zweifel und Stimmungen aller Beteiligten – und uns als Leser*innen und Zuschauer*innen. Niemand macht ein Dogma aus seiner Haltung. Immer bleibt spürbar, dass Haltungen sich auch ändern können. Und alles ist letztlich in den ganz persönlichen Situationen verankert und geerdet. Bei aller Gewichtigkeit der Fragen ein unsäglich schöner Freiheitsgewinn.

Vielleicht ist man ganz gut beraten, so denkt man sich unweigerlich bei diesen beiden herausragenden Medienprodukten, seine eigene Patientenverfügung von Zeit zu Zeit wieder einmal zu überprüfen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Alfred Schlienger, Theater- und Filmkritiker, u.a. für die «Republik»; ehem. Prof. für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule; Mitbegründer der Bürgerplattform Rettet-Basel!; lebt in Basel.

    Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Matthias Zehnder.

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