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Just Married in Litauen: Ob er sie immer vor dem Regen schützen wird? © flickr/Maciej Dakowicz

Auch viele Frauen gehören zu den Verlierern

Christian Müller /  Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 hat nicht allen Menschen eine Verbesserung gebracht. Ein kritischer Blick nach Osteuropa.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Öffnung der Ostblock-Staaten wird von fast allen Europäern als «glückliche» Wende bezeichnet. Die – allzu voreilige – Schlussfolgerung allerdings, das Nicht-Funktionieren des kommunistischen System sei ein «Beweis» dafür, dass nur der Kapitalismus funktioniere, ist spätestens seit Ausbruch der internationalen Finanzkrise 2008 ins Wanken geraten: Auch in der Welt der Wirtschaftssysteme sind Monopole mehr als gefährlich.

Der Osten als der grosse Gewinner?

Aber auch in den mittel- und osteuropäischen Staaten, die anfänglich zu den Hauptgewinnern der politischen Öffnung zählten, gibt es Verlierer. Zu ihnen gehören vor allem einige Randgruppen: die Sinti und Roma beispielsweise, die nicht voll Arbeitsfähigen und Behinderten, aber auch die alleinerziehenden Mütter, wie neuere Studien zeigen. Und, von vielen übersehen oder verdrängt, die Position der Frauen in der Gesellschaft hat sich in Mittel- und Osteuropa verschlechtert – ganz im Gegensatz zu Westeuropa. Während vor allem in Nordeuropa, in Deutschland und in der Schweiz immer mehr Frauen in höchste politische Ämter gelangen oder sogar die Regierungsmehrheit stellen, ist etwa die tschechische Regierung heute aus 16 Ministern und nur einer Frau, der Kultur-Ministerin, zusammengesetzt, und auch dies erst wieder seit kurzer Zeit, nachdem ihr Vorgänger wegen Korruptionsverdachts zurücktreten musste.

Die deutsche Zeitschrift «Die Gazette» aus München hat ihre neuste Ausgabe ganz dem Schwerpunktthema Frauen gewidmet. Zu Wort kommt da auch Eva Fodor, Professorin am «Department of Gender Studies» der Central European University in Budapest. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Entwicklung der Frauen in der Gesellschaft in Westeuropa einerseits und in Mittel- und Osteuropa andererseits gerade gegenläufig ist. Im Osten gehören viele Frauen zu den Verlieren des Systemwechsels.

Wo der Osten dem Westen voraus war

Eva Fodor wörtlich: «Die Politik der Kommunisten verfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus das Projekt einer Emanzipation der Frau (). Schon in den frühen 50er Jahren beschloss die Gesetzgebung zum Teil revolutionäre Massnahmen. So bestimmten die Verfassungen der kommunistischen Länder die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen, eingeschlossen das Recht auf Arbeit und alle Sozialleistungen. Auch wurde in den ?meisten dieser Länder die Gleichstellung in der Ehe festgeschrieben – eine Neuheit zu einer Zeit, als in Westeuropa die Ehefrau noch ihren Mann um Erlaubnis bitten musste, wenn sie eine bezahlte Arbeit aufnehmen wollte und in manchen Ländern nur ein eingeschränktes Verfügungsrecht über ihr Vermögen besass. Während etwa in Österreich noch die Lohnhöhe für Frauen diskutiert wurde, gab es in ost- und mitteleuropäischen Fabriken bereits Kindergärten und Still-Pausen für junge Mütter. Frauen wurden aufgefordert, Bildungs- und Weiterbildungsangebote wahrzunehmen, und für Universitäten und Technische Hochschulen wurde eine Frauenquote festgelegt. Ende der 70er Jahre hatten Frauen insgesamt den gleichen Ausbildungsgrad wie Männer erreicht, und die meisten Frauen waren ihr Leben lang vollzeitbeschäftigt.»

Keine Kitas mehr in der Fabrik

»All dies war nach 1989, nach der Einführung der Marktwirtschaft, radikal anders, für Frauen wie für Männer. Über Nacht verschwanden die lebenslang gesicherten Arbeitsplätze, und viele Millionen wurden arbeitslos. Ende der 80er Jahre hatten noch 70 bis 75 Prozent der erwerbsfähigen Frauen eine bezahlte Beschäftigung, zehn Jahre später war dieser Anteil in Ungarn auf 50 Prozent gesunken; Slowenien war mit 60 Prozent noch überdurchschnittlich. Zwar erlebte die mittel- und osteuropäische Region nach dem Chaos und den Krisen der frühen 90er Jahre eine gewisse wirtschaftliche Erholung, aber die Jobs in diesen neuen kapitalistischen Ländern waren oft schlecht bezahlt, den Schwankungen der Globalisierung ausgesetzt, verlangten mehr Arbeitsstunden und brachten ganz andere Vergünstigungen mit sich: keine Kitas mehr in der Fabrik, aber Handys für das Management; keine subventionierten Erholungsorte mehr für alle, aber für einige den Firmenwagen. Gleichzeitig ging die Qualität der Sozialleistungen zurück, Krankenhäuser für ältere Menschen wurden geschlossen, Nachmittagsprogramme an Schulen kosteten plötzlich Gebühren, das Elterngeld für den Elternurlaub wurde zusammengestrichen.»

Mehr Freizeit für die Männer

»Frauen, ob vollzeitbeschäftigt oder nicht, hatten schon immer die Hauptlast der unbezahlten Arbeit zu tragen. Das änderte sich auch nach 1989 keineswegs. Nachwievor haben aus diesem Grund Männer erheblich mehr Freizeit als Frauen. Mehrere Studien zeigen auch, dass Frauen in den postkommunistischen Ländern mehr häusliche Arbeitsstunden leisten als Frauen im Westen. In Polen zum Beispiel, aber auch in Ungarn oder Slowenien verbringen Frauen täglich ungefähr fünf Stunden mit Sorge- und Hausarbeit; in Skandinavien, Grossbritannien und Deutschland werden dafür nur etwa vier Stunden aufgewendet. Männer arbeiten in allen Ländern im Haushalt gleich wenig: nur zweieinhalb Stunden täglich. Das bedeutet: Geschlechtsspezifische Ungleichheiten sind in Mittel- und Osteuropa stärker ausgeprägt als in Westeuropa.»

Der vollständige Artikel von Eva Fodor kann unten gelesen und/oder als pdf heruntergeladen werden. Für die Bestellung der neusten Ausgabe der «Gazette» zum Schwerpunkt Frauen gehe man auf deren Website.

Kurzer Nachtrag:
Der Zufall will es, dass gerade gestern, Samstag, 23. Juni 2012, die Delegierten der Schweizer FDP endlich auch auf die Idee kamen, das Problem der Doppelbelastung der Frauen anzugehen. Sie wollen das Thema als ihr Thema verkaufen und es nicht den Linken überlassen. Näheres dazu auf NZZonline und im Echo der Zeit.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

we_can

Gleiche Rechte für Frauen und Männer

Gleichstellung und Gleichberechtigung: Angleichung der Geschlechter – nicht nur in Politik und Wirtschaft.

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