Kommentar

Sprachlust: Flüchtlinge vor diesem Wort retten?

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Wie man’s sagt, ist’s (für manche) falsch: Wer Migranten oder Asylanten «Flüchtlinge» nennt, riskiert die Belehrung: «Geflüchtete!»

Flüchtlinge oder Migranten – diese Frage war gestern, oder an dieser Stelle im Herbst. Es ging darum, ob man mit dem einen oder dem andern Wort von allen reden könne, die da übers Mittelmeer oder den Balkan nach Europa kommen wollten und wollen. Nennt man sie alle Migranten, so suggeriert man, sie kämen ohne Not auf der Suche nach besseren Lebensumständen. Will man auf ihre Not hinweisen, so nennt man sie Flüchtlinge, auch wenn nicht alle unter die Flüchtlingskonvention der Uno fallen.
Heute aber soll auch «Flüchtlinge» kein teilnahmsvolles Wort mehr sein, sondern ein abschätziges, und es soll daher für empfindsame Gemüter durch «Geflüchtete» ersetzt werden. Als eine Art Ehrenrettung kann man es verstehen, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) «Flüchtlinge» zum Wort des Jahres gekürt hat. Eigentlich hat sie damit weniger ein Wort gekürt als ein Ereignis, das sich bequem in ein einziges Wort fassen lässt. Neu oder auch nur wiederentdeckt ist das Wort ja wahrlich nicht.
Immerhin macht die GfdS geltend, es sei «auch sprachlich interessant. Gebildet aus dem Verb flüchten und dem Ableitungssuffix -ling (‹Person, die durch eine Eigenschaft oder ein Merkmal charakterisiert ist›), klingt Flüchtling für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig: Analoge Bildungen wie Eindringling, Emporkömmling oder Schreiberling sind negativ konnotiert, andere wie Prüfling, Lehrling, Findling, Sträfling oder Schützling haben eine deutlich passive Komponente. Neuerdings ist daher öfters alternativ von Geflüchteten die Rede. Ob sich dieser Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.»
Ohne abzuwarten, urteilte der GfdS-Vorsitzende Peter Schlobinski: «Ich glaube, dass Flüchtling letztlich bleibt, dass Geflüchtete keine Chance hat.» Ihm widersprach sein Professorenkollege Anatol Stefanowitsch, der schon 2012 in seinem «Sprachlog» einige Sympathie für das Anliegen von Aktivisten gezeigt hatte, man solle von «Geflüchteten» reden. In einem neuen Beitrag hält er fest, «Flüchtlinge» werde zwar nach wie vor meist neutral verwendet, aber der alternative Gebrauch von «Geflüchtete» nehme zu; früher sei letzteres Wort häufiger nicht für Flüchtlinge verwendet worden, sondern für (etwa vor der Polizei) Flüchtige. Er schliesst: «Man könnte Schlobinski also erwidern: Geflüchtete/r hat keine Chance, aber die nutzt es längst.»
Wo bleibt die Flüchtlingin?
Auch ein weiteres Argument gegen «Flüchtlinge» greift Stefanowitsch wohlwollend auf, jenes der Professorin Luise Pusch: dass man von diesem Wort kein Femininum bilden könne und jemand, der von «einem Flüchtling» hört, automatisch an einen Mann denke. Der Berliner Professor hat ältere Belege für «Flüchtlingin» gefunden und meint, man könnte das Wort wieder einführen. Die kulturelle Prägung, bei Sammelnamen zuerst an Männer zu denken, greife nämlich auch bei geschlechtsneutralen Wörtern: «Bei die Geflüchteten denken wir zunächst genauso sehr nur an Männer wie bei dem Wort die Flüchtlinge
Bis die GfdS Anlass sieht, «Flüchtlingin» zum Wort des Jahres zu küren, dürften noch etliche Flüchtlinge beiderlei Geschlechts nach Europa gelangen. Zu befürchten ist eher, dass der Anglizismus des Jahres in nächster Zeit einmal «Refugee» lauten könnte; nominiert ist dieses Wort bereits. Dass es ins Deutsche übernommen wird, hat Stefanowitsch – der Initiant der Anglizismus-Wahl – tatsächlich schon beobachtet, und ihm gefällt, dass es von refugium, Zuflucht, stammt. Zudem ist es geschlechtsneutral, aber das bliebe wohl im Deutschen nicht lange so – so wenig wie bei «Teenager»: «Teenagerin» steht zwar noch nicht im Duden, ist aber durchaus geläufig. Wegen der Endung «-er» wäre das Femininum «eine Teenager» seltsam. «Eine Refugee» könnte man eher sagen, aber wäre ihr damit gedient?
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»
— Zum Beitrag «Asylant»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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