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Mardin, eine multikulturelle türkische Stadt mit Blick nach Syrien und bis in den Irak © taduanka

Die türkische Syrienpolitik liegt in Trümmern

Amalia van Gent /  .

Nach dem Fall von Aleppo liegt nun auch die türkische Syrienpolitik in Trümmern. Der Traum von einer neo-osmanischen, imperialen Welt, die den ganzen Nahosten und Zentralasien umfassen würde, scheint ausgeträumt. In Ankaras Führungsriege macht sich nun Angst vor einer neuen Flüchtlingswelle breit, auch auch Entschlossenheit, ein kurdisches, autonomes Gebilde in Nordsyrien mit allen Mitteln zu verhindern.

»Meine Herren! Wir sind das mächtigste Land der Region. Ohne die Zustimmung der Türkei kann im Nahen Osten nichts diskutiert geschweige denn verändert werden». Das erklärte der türkische Ex-Aussenminister Ahmet Davutoglu, als er Anfang 2010 rund 200 türkische Botschafter aus aller Welt in die südostliche Stadt Mardin kommen liess, um ihnen die Pfeiler der neuen türkischen Aussenpolitik zu erklären. Ahmet Davutoglu, ein feingliedriger Politologieprofessor, hatte die türkische Aussenpolitik seit Beginn der 1990er Jahre nicht nur geprägt, er galt buchstäblich als Architekt der grossen, aussenpolitischen Wende in Ankara.

Das Konzept der «strategischen Tiefe»

Als «strategische Tiefe» bezeichnete er diese Wende. In seinem Konzept spielte die Türkei die Rolle des regionalen Machtzentrums zwischen Europa und Asien, zwischen dem Schwarzen Meer und dem Nahosten. Schon aufgrund ihrer geostrategischen Lage sei die Türkei prädestiniert, zu einem «global player» zu werden. Die türkische Aussenpolitik bräuchte deshalb nicht unbedingt und ausschliesslich west-orientiert zu sein. Ahmet Davutolgu führte seine Diplomaten durch die schattigen Gassen Mardins. Er liebte diese multikulturelle Stadt mit ihren aus beigem Sandstein gebauten Kirchen und historischen Moscheen, mit den alten palastartigen Häusern und dem gedeckten Basar.

In Mardin fasste Davutoglu in Worten seine Vision von einem neuen zivilisatorischen Projekt zusammen, in dem die muslimische (sunnitische) Welt vereinigt unter Führung der Türkei eine Konkurrenz zum christlichen Westen bilden könnte. In Wirklichkeit verkündete er dort das Ende der kemalistischen Aussenpolitik. Republikgründer Kemal Atatürk schrieb 1923 seiner jungen Nation eine strikte Ausrichtung nach Westen vor: «Unser Ursprung liegt in Asien und unsere Zukunft in Europa». «Die Türkei fühlt den Puls zweier Welten, der westlichen und der islamischen», erwiderte Davutoglu und lehnte die strikte Westorientierung ab. Im Konzept der «strategischen Tiefe» war die arabische Welt ins Zentrum des Interesses gerückt, und Syrien, das die neuen Herrschenden in Ankara als Haupttor der Türkei zum Nahen Osten betrachteten, zur «Krone» der neuen «vielseitigen Aussenpolitik» auserkoren. «Was wir wollen ist die Vereinigung Mardins mit Aleppo, mit Mossul, Erbil und Kirkuk. Mit diesen Städten teilen wir dieselbe Kultur, singen dieselben Lieder», setzte Davutoglu in Mardin seine Gedanken fort. Kritiker warnten damals eindringlich vor einer Umsetzung der aussenpolitischen «imperialen Vision» der Türkei und sprachen von gefährlichen Grossmachtambitionen der Regierenden. Der starke Mann der Türkei Recep Tayyip Erdogan und der ebenfalls starke Mann Syriens Baschar al Assad wurden auf einmal Busenfreunde.

Neue Wende

Diese Freundschaft währte nur kurz. Wie die Wissenschaftler Tannas Michel und Günther Seufert vom «Peace Research Institute Frankfurt» (PRIF) in ihrer spannenden Analyse «Turkey’s Failed Pursuit of Hegemony in der Middle East» schreiben, geriet das aussenpolitische Konzept Ankaras beim Ausbruch des «arabischen Frühlings» 2011 gleich mehrfach aus dem Gleichgewicht. In der irren Annahme, der Moment sei für die Türkei gekommen, um als die führende Macht aller Sunniten im Nahen Osten aufzutreten, trieb die Regierung unter Erdogan offen eine Politik entlang religiöser Grenzlinien: «In Syrien suchte Ankara zunächst Bashar al-Assad davon zu überzeugen, die Muslimbrüder zu legalisieren und sie als Partner in der Regierung zu akzeptieren», schreiben die zwei Forscher. Und als diese Bemühungen fruchtlos blieben, habe die Türkei sich «vorbehaltlos auf die Seite der sunnitischen Opposition geschlagen».

Bereits im Frühjahr 2012 drängte Ankara auf eine unmittelbare Bewaffnung der Opposition und «bewirkte damit neben Frankreich und Katar die enorme Militarisierung des Konflikts», so die zwei Forscher des PRIF. Die Gewissheit der vorigen Jahre, wonach ohne die Zustimmung der Türkei im Nahen Osten nichts verändert werden könne, verduftete allmählich. Zorn auf den Westen und auf die Uno, die den Massakern in Syrien tatenlos zusähen, bestimmte die Gemüter in Ankara. So schreckte Erdogans Regierung, als die gemässigte Opposition unter den Rädern der zwei extremen Fronten zermalmt wurde, nicht davor zurück, auch salafistische Gruppierungen wie die Jabhat Fatah al Sham (die ehemalige al-Nusra), die Ahrar al-Sham oder die Nureddin Zengi Brigade zu unterstützen, zu bewaffnen und auszubilden. Der Sturz al-Assads wurde fortan zur absoluten Priorität der türkischen Aussenpolitik – oder laut ihren Kritikern zu ihrer fixen Idee.

Die Feuer von Aleppo verbrennen auch Ankara

Der Fall von Aleppo hat nicht nur den Rebellen eine empfindliche Niederlage beschert. Er hat gleichzeitig auch dem Traum Davutoglus, der die Türkei als global player wahrnahm, unsanft zugrunde gerichtet. Letzten Mittwoch gelang zwar dem türkischen Aussenminister nach mehrfachen Gesprächen mit seinem russischen und seinem iranischen Amtskollegen, einen sicheren Abzug der Rebellen und deren Familien zu vereinbaren. Laut der türkischen Presse sollen diese in die Stadt Idlib oder nach Azaz direkt an der türkisch-syrischen Grenze verlegt werden. «Die Feuer von Aleppo verbrennen auch Ankara», kommentierte in der Internet-Plattform «Al-Monitor» der renommierte Journalist Fehim Tastekin. «Was, wenn diese Tausende bewaffneten, im Krieg hart erprobten Ex-Schützlinge Ankaras in die Türkei zurückgedrängt werden?». Tatsächlich lässt schon der Gedanke, dass die geschlagenen Kämpfer aus Aleppo sich unter die Flüchtlinge schleichen könnten, Ankara erschaudern. Denn das Land beherbergt bereits rund 3 Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Die überwältigende Mehrheit von ihnen vegetiert im Grenzgebiet, meist arbeits- und perspektivlos.

Der kurdisch-stämmige Fehim Tastekin, aber auch türkische Journalisten führen den dramatischen Fall Aleppos auf einen «Deal» zwischen Moskau und Ankara zurück. Demnach soll Ankara in den letzten drei Monaten die gnadenlosen Bombardierungen Ost-Aleppos durch die russische Luftwaffe, die schweren Menschenrechtsverletzungen und das Töten der Zivilisten stillschweigend hingenommen haben. Als Belohnung für dieses Schweigen hätte Moskau seinerseits den Einmarsch der türkischen Truppen in Nordsyrien geduldet, Ankara gar grünes Licht gegeben, um die nordsyrische Stadt Al-Bab zu besetzen. Die Besetzung von Al-Bab betrachtet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan als Chefsache und als eine Prestigefrage. Gelingt den türkischen Spezialtruppen tatsächlich, Al-Bab zu besetzen, werden die nordsyrischen Kurden ihren Traum, im Nordsyrien die drei kurdischen Provinzen zu einem autonomen Gebiet zu vereinigen, wohl begraben müssen.

Werden nach Aleppo nun auch die Kurden auf dem Altar nationaler Interessen und einer vermeintlichen Realpolitik geopfert, wie so oft in ihrer Geschichte? Nach dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA scheint das Schicksal der Kurden, der noch vor Kurzem im Krieg gegen die Terrorgruppe IS in Syrien und im Irak engsten Alliierten des Westens, jedenfalls wieder völlig ungewiss. Die Türkei suche in Syrien zu retten, was noch zu retten sei, schrieb nach dem Fall Aleppos der prominente türkische Redakteur Murat Yetkin. Die türkische Führung, die anfänglich den Sturz des Tyrannen Al-Assad und die Errichtung eines demokratischen Regimes in Syrien anstrebte, habe ihre Ziele mittlerweile darauf beschränkt, ein kurdisches Gebilde entlang der türkischen Grenze mit allen Mitteln zu verhindern. Der Frage, «ob sie dieses Ziel in enger Zusammenarbeit mit den USA oder mit Russland erreiche, messe sie dabei keine Bedeutung mehr bei».


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Eine Meinung zu

  • am 20.12.2016 um 15:11 Uhr
    Permalink

    Leider blieb Davutoğlus „Null Probleme mit den Nachbarn“-Politik eine Fata Morgana. War zu schön, um wahr zu bleiben!

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