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Philosoph und Schriftsteller Peter Sloterdijk © PS

«Fuck the EU» war «Klassiker freimütigen Redens»

Urs P. Gasche /  Nicht nur digital, auch militärisch und wirtschaftlich unterwirft sich Europa den USA, kritisiert Philosoph Peter Sloterdijk.

«Fuck the EU» sagte Victoria Nuland, US-Politikerin und Frau des konservativen Chefideologen Robert Kagan im Februar 2014 in einem abgehörten Telefongespräch und setzte in der Ukraine den von den USA gewünschten Arsenij Jazenjuk als Ministerpräsidenten durch.
Für den Philosophen und intensiven Gegenwartsbeobachter Peter Sloterdijk war dieser Ausspruch Nulands «ein Klassiker freimütigen Redens». Denn die USA würden in ihrem «Viel-Fronten-Krieg» nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden.
In einem ganzseitigen Beitrag in der NZZ vom 5. Oktober 2015 analysiert Sloterdijk die Aussenpolitik der USA als «Waffenkrieg, Wirtschaftskrieg, Kunstkrieg, Überwachungskrieg, Agentenkrieg und Datenkrieg». Das seien Aspekte derselben Mobilisierung.
«Die Rüstungsindustrie hat keine Rezession zu befürchten»
Den Hauptfeind Hitler habe Washington nach dem Zweiten Weltkrieg gegen Stalin ausgewechselt und seither einen siebzigjährigen Krieg geführt. Seit 1945 hätten US-Truppen und CIA-Agenturen in rund hundert Kriegen und «Operationen» zwischen 10 und 13 Millionen Opfer gefordert – je nach Berechnungsverfahren der so diskreten wie kompetenten Institute für strategische Studien.
Heute würde das Pentagon leicht einen Psychologen finden, der an Wladimir Putin freihändig ein Asperger-Syndrom diagnostiziere.
Und das «nach 2001 geschaffene neue Suchbild ‹Terror’» werde die kommenden Jahrzehnte «zuverlässig überdauern». Deshalb habe die Rüstungsindustrie auch auf lange Sicht keine Rezession zu befürchten.
Die EU als «Konsum-Klub»…
Die Europäer hätten ihre Sicherheit nach dem Zweiten Weltkrieg den USA zu verdanken und «den Faktor Gewalt weitgehend aus ihrer Weltsicht gelöscht». Europa nehme es kommentarlos hin, wenn dieses Töten so präzise wie möglich, so grossräumig wie nötig geschehe.
Die oben erwähnten getöteten 10-13 Millionen würden die «europäsischen Medien intensiv beschweigen». Weil die Europäer jahrzehntelang das Wegsehen geübt hätten, «haben sie gelernt, den Preis ihrer passiven Sicherheit zu ignorieren». Die Beziehung zu den USA sei vorrangig davon geprägt, dass «Europa nicht im eigenen Namen tötet, sondern kommissarisch töten lässt». Derweil hätten sich die Europäer «unter dem Klubnamen ‹EU› zur Optimierung ihrer Konsumansprüche zusammengeschlossen».
…zum Preis der Unterwürfigkeit
Aus diesen Gründen «verhalten sich die Europäer gegenüber der tötungsbereiten Grossmacht unterwürfig». Die Unterwürfigkeit zeige sich in fast allen Bereichen: Bei den Aktivitäten der Geheimdienste, dem Datenaustausch, den Ambitionen der Nato, der Zusammenarbeit bei Auslandeinsätzen, bei Freihandelsabkommen, beim Durchsetzen amerikanischer Kunststandards etc.

Die Vorherrschaft der US-Datentechnologie ist für Solterdijk «mehr als eine Nebenfront im amerikanischen Krieg gegen den Rest der Welt». Es gehe vielmehr um die «Schlüsseltechnologie, bei der ‹hard power› und ’soft power› direkt ineinander übergehen». In diesem Sinn sei das Silicon Valley «eine zivile Aussenstelle des Pentagons».

Europa als zweite Stimme?
Das angeschlagene Europa müsse sich entscheiden, ob es sich mit einer zweiten Stimme zu Wort melden wolle. Die «hochfliegende deutsche These zur Flüchtlingsfrage» könne den Anfang einer alternativen Politik signalisieren.
Es stehe viel auf dem Spiel: «Wäre Europa imstande, mit einer Stimme zu sprechen, würde es unter den ökonomischen Grossmächten seit einer Weile an erster Stelle stehen.». Längst hatte es, wäre es einig, eigene Suchmaschinen und Social Media entwickelt, die nicht der «massiven Bürgerausspähung durch paranoische Sicherheitsdienste» unterliegen würden.
Doch unsere «amerikanischen Freunde», meint Sloterdijk, würden weiterhin jede Entwicklung fördern, die aus der Schwäche Europas einen zusätzlichen Grund für ihre Stärke mache.

Siehe
«Europa muss sich von der US-Politik distanzieren», vom 5.10.2015

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4 Meinungen

  • Helmut_Scheben_310
    am 18.10.2015 um 19:06 Uhr
    Permalink

    Es ist der Verdienst von infosperber, immer wieder auf Meinungen aufmerksm zu machen, die vom Medien-Mainstream abweichen Infosperber ist mittlerweile eine meiner wichtigsten Informationsquellen. Was die Aussenpolitik der USA angeht, so bin ich mit Sloterdijk einverstanden. Man les z.B. die kürzlich freigegebenen Dokumente (freedom of information act) zum CIA-Putsch 1953 gegen den iranischen Premier Mossadegh. Das liest sich wie ein Rezeptbuch für die Destabilisierung von unliebsamen Regierungen. Nach exakt demselben Drehbuch wurde im Irak, in Libyen und in Syrien verfahren. Es ist erstaunlich, dass unsere fleissigen Mainstream-Journalisten so wenig Background haben und so wenig fähig sind zu kritischem und logischem Denken. Die Anerkennung der Deutungshoheit des Pentagons ist für die meisten offenbar das elfte Gebot.

  • am 18.10.2015 um 20:10 Uhr
    Permalink

    "Fuck the EU» war keine freimütige Äusserung von Frau Nuland, sie glaubte unbemerkt zu sein als sie in ihrem Gassenjargon mit dem US-Botschafter am ungeschützten Telefon den Ukraine- Putsch samt Personalliste plante.
    Wieso Sloterdijk bei einem Verbrechen (Putsch gegen eine gewählte Regierung mithilfe von Scharfschützen, die DemonstrantInnenen wie Polizisten zu dutzenden liquidieren) Worte abwägt, kann man nur mit déformation professionelle erklären. Bei seinesgleichen gibt es wohl nur noch den Smalltalk ohne Einsicht in Zusammenhänge und Moral dahinter. Es geht hier nicht um Kultur oder Wirtschaft sonder um GeoPOLITIK. Das Imperium glaubt mit Europa offshore-balancing betreiben zu können, wie es etwa Mearsheimer zu Hause erklärt. Europäische Regierungen (optimal Deutschland und Russland) soll man hintereinander hetzen, damit in Eurasien kein Konkurrent entsteht.

    Wer daraus die Lehre zieht, dass Imperien keine Freunde haben, sondern nur nützliche Idioten, hat glaube ich das wesentliche begriffen.

    Werner T.Meyer

    Quelle: Die beste Übersicht zu USA / Europa und Ukraine hat im Moment Ray McGovern (Suche auf YOUTUBE)

  • am 18.10.2015 um 20:49 Uhr
    Permalink

    „……. Die Unterwürfigkeit zeige sich in fast allen Bereichen ……. „

    Die Unterwürfigen fordern ihrerseits wieder Unterwerfung.
    Dies zeigt die Gefährlichkeit unserer gegenwärtigen Situation. Unsere Polit- und Medienmarionetten (gleich welcher Ideologie) sind in ihrer Charakterschwäche nicht nur in fast allen Bereichen der USA und den Machteliten hörig und von ihnen abhängig, sie bestimmen auch, auf Order der USA und der Machteliten, über die Bevölkerung. Ohne deren Einwilligung und gegen deren Willen.

    Die Abhängigkeit Europas von den USA ist gar schon so weit gediehen, dass ein Parlamentarier der in TTIP-Verträge Einsicht nehmen will 1. Politiker im Europaparlament sein muss und 2. dafür in die amerikanische Botschaft in Brüssel gehen muss.

    Ab 1:25
    Me, Myself and Media #11 – Putin greift an, TTIP, Kundus, Flüchtlinge in der ARD
    https://www.youtube.com/watch?v=Ylp3c8jz30A

  • am 19.10.2015 um 16:13 Uhr
    Permalink

    Siehe auch «Der Russen Treff» – Kurzerklärung von Sarah Wagenknecht vom 9.10. 2015 – wem haben wir die Flüchtlingsströme zu verdanken?
    Es ist Zeit, sich gegen die Destabilisierung zur Wehr zu setzen!
    Katharina Gattiker

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