Waisenhausplatz

Die Situation spitzte sich immer mehr zu: Truppen auf dem Waisenhausplatz während des Landesstreiks. © Bundesarchiv

Der Kampf um die Deutungshoheit des Landesstreiks

Wolfgang Hafner /  Historische Fakten sind das eine. Die Ursachen eines Ereignisses aber können – interessenbedingt – unterschiedlich erklärt werden.

Revolutionsversuch oder sozial gerechtfertiger Aufstand? Hauptsächlich dieser Gegensatz prägte den Diskurs rund um den vor hundert Jahren stattgefundenen Landesstreik. Während Christoph Blocher den Soldaten dankte, die sich gegen die Streikenden stellten und zum Teil sinnlos Gewalt anwendeten, feierten die Gewerkschaften den Landesstreik als gemeinsame Erhebung der Arbeitenden zur Eindämmung der sozialen Not, als ein Bravourstück von Solidarität. Doch das rund um diesen Gegensatz konstruierte historische Narrativ ist geprägt von heutigen politischen Auseinandersetzungen. Im Zentrum steht die Definitionsmacht bei der Erinnerungskultur. Auf der Strecke bleibt dabei ein umfassender historisch-analytischer Zugang, der helfen könnte, auch heutige Entwicklungen besser zu verstehen.

Denn der Landesstreik fand nicht nur in einer Epoche gesellschaftlich-politischer Auseinandersetzungen statt, sondern in einer Zeit grundlegender industrieller Veränderungen. Analog zu der heutigen Entwicklung, bei der unter dem Label «Industrie 4.0» die breite Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vorangetrieben wird, fand in der Zeit des Landesstreiks ein umfassender zweiter Industrialisierungsschub statt, der in seinen Auswirkungen der eigentlichen ersten Industrialisierung entsprach: Dank Fliessbandarbeit, Mechanisierung der Arbeitsvorgänge und systematischer Kontrolle der Leistung der Arbeitenden konnte der industrielle Output pro Arbeiter um ein Mehrfaches erhöht werden. Es war eine Entwicklung, die in den Theorien der sogenannt «wissenschaftlichen Arbeitsorganisation» – so benannt nach deren Erfinder F.W. Taylor (1856 – 1915) – ihren extremsten Ausdruck fand. Durch diese neue Organisation veränderte sich die industrielle Fertigung grundsätzlich, gleichzeitig aber auch das gesellschaftliche Umfeld. Anstelle des Arbeiters, der mit «roher Kraft» seine Produkte herstellte, trat der disziplinierte Fliessbandarbeiter, der im durch die Maschine vorgegebenen Takt seine Handgriffe verrichten musste.

Um diese Form der Modernisierung durchzusetzen, die auch einen «neuen Menschen» verlangte, fand eine umfassende Neuausrichtung der Gesellschaft statt: Emotionale Ausbrüche mussten vermieden, Alkoholismus, Vagabundismus und andere Formen von Verhalten, die eine geordnete Produktion behinderten, bekämpft werden. Ziel war die Förderung des ökonomischen Wohlstandes, zu dessen Zweck die Arbeitenden letzten Endes in den Fabriken in ein streng getaktetes System eingebunden wurden. Einer der führenden Austromarxisten, Otto Bauer, beschreibt dieses System in einer Analyse zum «Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg»: «Mit der Rationalisierung steigt die ingenieursmässige Denkweise auf – eine nüchterne, positivistische, relativistische Denkweise, ein Denken in Wirkungsgraden, das den erstrebten Erfolg mit den geringstmöglichen Opfern zu erreichen sucht. In dieser Denkweise, die alles Unberechenbare, jedes Wagnis, jedes Abenteuer scheut, die die Stimme der Leidenschaft nüchterner Rechnung unterordnet, [ ] in dieser Denkweise wurzelt die moderne Demokratie.» Dieser Vorgang wird jedoch nicht ohne Opfer verlaufen, wie der italienische Politiker und Theoretiker Antonio Gramsci in den Zwanzigerjahren in seinen «Gefängnisheften» feststellte: «Eine zwangsweise Auswahl wird unvermeidlich sein, ein Teil der Arbeiterklasse wird unerbittlich aus der Welt der Arbeit und vielleicht tout court aus der Welt eliminiert werden». Damit wird im Rahmen der durch die Modernisierung vorgegebenen Entwicklung eine Normierung der Individuen propagiert, die alle, die sich nicht dem Standard unterwerfen wollen, zum «Abfall» werden lässt.

Das Denken in den Kategorien der Nutzbarkeit und des Zwanges zur Anpassung breitete sich auf alle Formen des gesellschaftlichen und politischen Lebens aus. Und es warf, als Ambivalenz einer Modernisierung breite Schatten. Führende Gewerkschaftskreise unterstützten das Projekt, in dem sie im Rahmen des Friedensabkommens Arbeitskämpfe zu einem juristisch-technischen Instrument umfunktionierten. Die patriarchal organisierten Gewerkschaften und Sozialdemokraten etablierten sich so als willige Vollzugshelfer der Bürgerlichen im Dienste der anstehenden Modernisierung: Wer sich nicht sozial entsprechend der Normen verhielt – wie etwa die nichtkonformen Jugendlichen oder die Fahrenden – oder wer pointiert am linken Flügel des politischen Spektrums politisierte, wurde ausgegrenzt. Dabei spielte beispielsweise der Kanton Solothurn als einer der damals führenden Industriekantone eine wichtige Rolle. Die Uhrenmetropole Grenchen und ihr Umfeld gehörten zu den Regionen, in denen, bedingt durch die Produktionsstruktur der Industrie, schon vor dem Ersten Weltkrieg durchrationalisierte Fabriken entstanden. Die Herstellung von Uhren als Konsumgut für die breite Masse (Roskopf-Uhren oder montres prolètaires) war ein ideales Arbeitsfeld für die neuen Rationalisierungsmethoden. Hier war denn auch – bedingt durch tiefe Löhne, hohes Arbeitstempo und Zuwanderung – das Konfliktpotenzial hoch. Und durch den Landesstreik bestand auch die Gefahr, dass das Projekt der Modernisierung ins Stocken geriet. Entsprechend fiel denn auch die Reaktion auf Abweichler aus. So ist es nicht verwunderlich, dass einer der gemässigten solothurnischen Streikführer, der SP-Nationalrat Jacques Schmid (1882-1960), den Linkssozialisten und Anführer des Landesstreiks in Grenchen, Max Rüdt, als «Eiterbeule» beschrieb, «die schon längst hätte entfernt werden sollen am Körper der leberbergischen Arbeiterbewegung». Schmid weiter: Eine «Sauordnung herrscht überall, wo Rüdt seine Hände hineinlegte». In der Folge erlitt Rüdt den sozialen Tod: Er verlor seine Anstellung bei der sozialdemokratischen Presse, wurde ausgegrenzt und starb verarmt.

Ein Zug des Füsilierbataillons 6, das in Grenchen für die tödlichen Schüsse verantwortlich war. (Anonymes Streikalbum / Stadtarchiv Grenchen)

Auf die schillernden Aspekte der Modernisierung wurde in dem als Quintessenz der historischen Forschung zum Landesstreik von Roman Rossfeld, Christian Koller und Brigitte Studer herausgegebenen Sammelband «Der Landesstreik – Die Schweiz im November 1918» nicht eingegangen. Bloss irrlichternd taucht ein Zusammenhang zwischen der Durchsetzung neuer Managementmethoden und Streiktätigkeit auf. So etwa wurde bei einem Streik in Winterthur im Frühling 1916 auf den «brutale(n) amerikanische(n) Geldgeist» mit seinen «raffinierte(n) Arbeitsmethoden und seiner hartherzigen Rücksichtslosigkeit» hingewiesen.

Dabei könnte gerade eine Analyse der Ambivalenz der damals stattfindenden Modernisierung hilfreich sein in Hinsicht auf die heute anstehende Modernisierung im Rahmen der «Industrie 4.0» mit der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Überwachung, Disziplinierung und Ausgrenzung von nicht konform sich Verhaltenden waren damals ein zentral wichtiges Instrument zur Neuformierung von Gesellschaft und Wirtschaft. Und sie dürften es wieder werden. Eine Geschichtsschreibung, die sich aber vorwiegend auf die historisierend-politischen Vorgänge fokussiert und die Widersprüchlichkeit der Ereignisse, beziehungsweise die Schattenseiten der Modernisierung ausklammert – so wie das im oben erwähnten Sammelband zum Generalstreik der Fall ist – , bietet dazu kaum eine Grundlage. Auf der Basis der Fakten hat Blocher die Schlacht um die Deutungshoheit des Landesstreiks längstens verloren. Aber da sich der Diskurs um die historische Aufarbeitung auf der Ebene der von ihm vorgebrachten Argumente abspielte, hat er letztlich gewonnen.

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3 Meinungen

  • am 8.12.2018 um 13:06 Uhr
    Permalink

    Die Geschichte wird den Landesstreik angemessen einordnen helfen.
    – Was Blocher in Uster kürzlich zum Besten gab, das wird keinen Bestand haben.
    — Wir Männer lernen im Dienst, dass ’sie› unsere Armee nicht (mehr) zum Einsatz gegen unsere Bevölkerung aufbieten dürfen.
    — Und wir Alle lernten mittlerweile, uns ‹von ihnen› nicht (mehr) missbrauchen zu lassen.
    – Es wird nicht mehr funktionieren, ‹die Schweizer Armee› zum Runter-Knüppeln gegen die Schweizer Zivilgesellschaft einzusetzen. Ende …

  • J1
    am 9.12.2018 um 10:41 Uhr
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    Hafner weist zurecht darauf hin, dass der Landesstreik auf dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Strukturwandels zu interpretieren ist. Diesem Wandel stellten sich jedoch zu viele Kräfte entgegen, etwa im politischen System, wo nicht begriffen wurde, dass die Arbeiterschaft nicht mehr paternalistisch zu führen war, sondern partizipativ ins politische System eingebunden werden musste. Das Oltener Aktionskomitee suchte ja diese Aufnahme und brauchte den Generalstreik in erster Linie als verbale Drohung. Doch die Widerstände in der bürgerlichen Elite zu partnerschaftlicher Kooperation war gross. Das zeigte sich etwa im Streik des Bankpersonalverbandes in Zürich (30.Sept./1.Okt.1918), wo der Zürcher Regierungsrat die Bankherren darauf aufmerksam machen musste, dass die Bankbeamten ein Recht hatten, sich zu organisieren, und dass ihre Forderung nach einem Lohnregulativ nicht revolutionär, sondern ein Schritt zu einem modernen Arbeitsverhältnis war. Selbst der konservative Schwyzer Regierungsrat notierte: «Die Banken haben egoistisch und kurzsichtig gehandelt und mussten nun klein beigeben.»
    Die Arbeiterbewegung verlangte die institutionalisierte Mitsprache nicht nur im politischen, sondern auch im Arbeitsbereich. Es ging dann aber noch 20 Jahre, bis die Unternehmer die Idee der Gesamtarbeitsverträge akzeptierten. Die Verweigerung einer raschen Reform der politischen, wirtschaftlichen und arbeitsrechtlichen Bereiche war einer der Gründe, dass es im November 1918 zum Streik kam.

  • am 9.12.2018 um 23:50 Uhr
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    Dies aktuelle Ausstellung «Landesstreik 1918» ist sehr sehenswert, auch wenn der Hobbyhistoriker aus Herrliberg dageben lästert. Die Streienden (nur Männer) sind alle im Sonntagsdress und sehen nicht aus wie Krawallbrüder.
    Martin Liechti, Maur

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