PflegekostenUngarn

Mehr für weniger: «Menschlichkeit geht vor Profit» © Neue Zürcher Zeitung

Lieber Seniorenschwemme als Flüchtlingsflut

Jürgmeier /  Ungarische Willkommenskultur für Wirtschaftsflüchtlinge. Pflegeheime locken alte SchweizerInnen in den Osten. Fast eine Satire.

Da heisst es immer, Ungarn und andere ehemalige Oststaaten hätten kein Herz für Flüchtlinge. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sieht in ihnen so etwas wie eine Fünfte Kolonne (*).Hinter der «Flüchtlingswelle» stecke, befürchtet er nach eigener Aussage, «eine Art von Masterplan». In einem Weltwoche-Interview Ende 2015 behauptet er: «Alle Indizien und Erfahrungswerte deuten darauf hin, dass die überwältigende Mehrheit dieser Migranten später links wählen wird, sobald sie eingebürgert sind. Es werden also künftige linke Wähler nach Europa importiert.»

Da empören wir «FlüchtlingsromantikerInnen» und andere «Gutmenschen» uns immer wieder, mit den Zäunen an den serbischen und kroatischen Grenzen ziehe Orbáns Ungarn einen neuen Eisernen Vorhang zu. Einfach mit umgekehrtem Ziel als in den Zeiten des Kalten Krieges. Damals sollten die Menschen im Osten daran gehindert werden, in den Westen abzuhauen. Heute sollen (Kriegs-)Flüchtlinge aus aller Welt abgewehrt & abgeschreckt werden. Und dann plötzlich diese fast schon aggressive Willkommenskultur.

«Menschlichkeit geht vor Profit»

Am 13. März 2016 deckt die NZZ am Sonntag auf: «Osteuropäische Pflegeheime locken Betagte mit massiv tieferen Preisen und besserer Betreuung.» Neuerdings hätten die «Betreiber einer Institution in Nemesbük unweit des Plattensees» ein eigenes (Werbe-)Büro im luzernischen Kriens. «Von dort aus wollen sie interessierte Schweizer Senioren auf ihr Angebot aufmerksam machen.» Und dieses ist verführerisch: «Pro Monat bezahlen sie zwischen 1700 und 2500 Franken – Pflege, Betreuung, Unterkunft, Essen und Freizeitaktivitäten inbegriffen –, ein Bruchteil der Schweizer Pflegekosten.» Trotzdem «steht den Pflegebedürftigen in Nemesbük mehr Personal als in Schweizer Institutionen zur Seite». Dies dank der tieferen Löhne für das ungarische Personal.

«Bei uns läuft es nicht wie in der Schweiz und Deutschland im Minutentakt.» Sagt Heimleiter Genco Cibiroglu stolz. «Menschlichkeit geht vor Profit.» Und betont, mit 1500 bis 2000 Franken im Monat verdienten Angestellte bei ihm «deutlich mehr als in Ungarn in der Pflege üblich». Ein 71-jähriger Migrant aus der Schweiz lobt, «er sei hier weit besser umsorgt als im Heim am Greifensee, in dem er zuvor betreut worden war». Mehr für weniger. Und die Basler Soziologin Sarah Schilliger bestätigt die subjektive Perspektive aus wissenschaftlicher Sicht: «Sie scheinen etwas zu bieten, was in den Schweizer Pflegeheimen teilweise zu kurz kommt… Im Schweizer System fehlt es an Zeit und Personal. Pflege muss wie Akkordarbeit verrichtet werden.»

Ihr die Alten, wir die Flüchtlinge – Deal

Wer würde da nicht die Koffer packen, wenn Rollator & Windeln drohen – und ab nach Osten, wo schon der Rote Teppich für sie ausgerollt ist. Obwohl sie nicht an Leib & Leben bedroht sind, sondern nur einen besseren & billigeren Lebensabend suchen. Niemand wird es den betagten Wirtschaftsflüchtlingen verargen, dass sie ihre Heimat im Stich lassen. Schliesslich profitieren nicht nur «die Ungarn» mit Herz für SeniorInnen, sondern auch (potenzielle) Erben, Krankenkassen und öffentliche Hand in der Schweiz von ihrer letzten Reise.

Bei uns droht die «Überalterung» dem Sozialstaat mit düsterer Zukunft. Die immer älter werdenden «unproduktiven» Menschen erscheinen als volkswirtschaftliche & soziokulturelle «Belastung» – gegen die, klammheimlich, auch schon Lösungsphantasien der unheimlicheren Art angedacht worden sind. In Ungarn spülen sie hoch willkommene Gelder in offene Pflegeheimkassen. Eine klassische Win-Win-Situation und ein möglicher Deal: Ungarn und andere Oststaaten übernehmen unsere Alten, wir nehmen der Europäischen Union dafür ein paar Flüchtlinge mehr ab und bereiten uns auf ein Lebensende am Plattensee vor.

(*) «heimliche, subversiv tätige oder der Subversion verdächtige Gruppierungen, deren Ziel der Umsturz einer bestehenden Ordnung im Interesse einer fremden aggressiven Macht ist», de.wikipedia.org.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Zeitungen_1

Kritik von Zeitungsartikeln

Printmedien üben sich kaum mehr in gegenseitiger Blattkritik. Infosperber holt dies ab und zu nach.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.