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Seit Mai sitzt Meşale Tolu mit ihrem zweijährigen Sohn in einem Istanbuler Gefängnis © SWR

«Wenn du nicht ruhig bist, kommst du in den Knast»

Amalia van Gent /  Hunderte Kinder sitzen zusammen mit ihren Müttern in türkischen Gefängnissen. Traumatisiert, verstört – ihrer Kindheit beraubt.

Sie kamen im Morgengrauen, und sie kamen mit Gewalt. Türkische Anti-Terror-Polizisten brachen am 30. April gegen vier Uhr morgens die Istanbuler Wohnung auf, in der die deutsche Journalistin Meşale Tolu mit ihrem zweijährigen Sohn schlief. Sie warfen die Frau zu Boden und richteten Maschinengewehre auf sie. Tolus kleinen Sohn schrien sie an: «Wenn du nicht ruhig bist, kommst du in den Knast, genau wie deine Mutter!» So schilderte Hüseyin Tolu, Meşales Bruder, die Festnahme seiner Schwester dem deutschen Politmagazin «Der Spiegel».
Die 33-jährige Journalistin und Übersetzerin sitzt seither im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtviertel Bakirköy – bislang ohne ordentliches Verfahren. Ihr wird vage Terrorpropaganda vorgeworfen. Ihre Zelle teilt sie unter anderem mit ihrem zweijährigen Sohn. «Das Kind war extrem verstört», erzählte Meşales Bruder. «Es hat nur noch geweint und nach seiner Mutter gefragt.» Das türkische Gericht erlaubte Meşale Tolu, ihren Sohn zu sich zu holen.
670 Kinder leben hinter Gefängnismauern
In der ostanatolischen Stadt Mus war es noch stockdunkel, als die maskierten Männer der türkischen Anti-Terror-Polizei am 24. Mai die Abgeordnete der pro-kurdischen Demokratiepartei der Völker (DHP) Burcu Çelik Özkan aus ihrem Bett holten, ihre Wohnung auf den Kopf stellten und sie abführten. In der durchwühlten Wohnung zurück blieb ihre dreijährige Tochter, Asmin Mira, die vor Angst zitterte. Burcu Çelik Özkan wurde ins Hochsicherheitsgefängnis Sincan nahe der Hauptstadt Ankara geschleppt. Auch ihr wird vage Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen. Es sind die üblichen Unterstellungen, mit denen die türkische Regierung nach dem Putschversuch im Juli 2016 alle ihre Kritiker verfolgt. In Mus nahm die Grossmutter das Kind zu sich. «Es war verstört und hat nur erbärmlich geweint», erzählte sie später der einzigen in der Türkei noch zugelassenen oppositionellen Tageszeitung «Cumhuriyet». Die Abgeordnete Burcu Çelik Özkan durfte wenige Tage nach ihrer Verhaftung, ihr Töchterlein Asmin Mira zu sich ins Hochsicherheitsgefängnis holen.
Rund 700 Kinder wachsen heute in der Türkei hinter grauen Gefängnismauern und Stacheldraht auf, nur weil ihre Mütter bei der Regierung in Ankara politisch in Ungnade gefallen sind. 149 dieser Kinder sind gemäss den Angaben des türkischen Justizministeriums ein Jahr alt oder jünger. Das Alter der übrigen variiert bis zu sechs Jahren. Das sind mehr Kleinkinder in türkischen Haftanstalten als je zuvor. Wie Meşale Tolus Sohn und Burcu Çelik Özkans Tochter leben die Kinder zusammen mit ihren Müttern eingesperrt in Gemeinschaftszellen und haben nur beschränkt Hofgang an der frischen Luft.
Erschütternde Bilanz der Säuberungswelle
Ein von der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP vor Kurzem veröffentlichter Bericht zum Jahrestag des Putschversuchs belegt, wie dramatisch im letzten Jahr die Verfolgung aller Andersdenkenden war und wie kafkaesk auch das Ausmass der Folgen dieses Erdogan’schen Verfolgungswahns fürs Land. Demnach sind zwischen Juli 2016 und Juli 2017 111’240 Staatsangestellte von ihrem Amt suspendiert worden. Gegen 169’000 Personen wurde Anklage erhoben. Davon wurden 50’510 festgenommen, mehr als 35’000 von ihnen sind nach wie vor in Haft. 35 Personen haben in der Haft Selbstmord begangen.
Von den 111’240 suspendierten Staatsangestellten waren 45’678 Lehrer. Ohne diese Lehrer bleiben schätzungsweise 1,5 Millionen Schüler ohne Unterricht. Verordneter Kahlschlag auch an den Universitäten: 6383 Akademiker wurden entlassen und weitere 5295 Akademiker verloren ihren Job, weil ihre Hochschulen per Dekret geschlossen wurden. 159 Journalisten sind wie Mesale Tolu in Haft. Das macht die Türkei weltweit zum grössten Gefängnis für Journalisten. Rund 180 Medienorgane wurden geschlossen. Darunter sind 31 Fernsehanstalten, 5 Nachrichtenagenturen, 62 Zeitungen, 19 Magazine, 34 Radiostationen und 29 Verlage.
Auch die Justiz befindet sich in einem desolaten Zustand: Weil im Rahmen der Säuberungen 4238 Richter und Staatsanwälte suspendiert bzw. verhaftet wurden, ist im türkischen Justizsystem ein «Loch» entstanden, das der Staat zu füllen sucht, indem er ehemalige Militärrichter per Dekret aufruft, Dienst in den zivilen Gerichten aufzunehmen. Absurd mutet auch die Situation bei den Sicherheitskräften an: Gemäss dem CHP-Bericht wurden nach 2016 22’975 Polizisten und 10’840 Armeeangehörige entlassen und/oder verhaftet. Von den Säuberungen besonders stark betroffen ist die Luftwaffe. Der Mangel an ausgebildeten Militärpiloten ist inzwischen so gross, dass die Regierung Druck macht auf Ex-Piloten der Luftwaffe, die inzwischen in der lukrativeren zivilen Luftfahrt beschäftigt sind. Mit einem offiziellen Brief wurden diese vor wenigen Tagen vor die Wahl gestellt, sich innerhalb eines Monats für kurze Zeit zum Militärdienst zu melden – oder ihren Job in der zivilen Luftfahrt für immer zu verlieren.
Unmenschliche Haftbedingungen
Die beispiellosen Säuberungen der letzten zwölf Monate hatten zur Folge, dass die Gefängnisse des Landes hoffnungslos überfüllt sind. Die Häftlinge müssten oft die Betten abwechselnd nutzen, einige schliefen gar stehend in den Fluren, beklagte sich der Anwalt von Meşale Tolu. Seit Juli 2016 seien insgesamt 353’749 verurteilte Kriminelle, darunter zahlreiche Kindervergewaltiger, auf Bewährung freigelassen worden, kritisierte Murat Yetkin, Chefredakteur der konservativen Tageszeitung «Hürriyet», um in den Zellen Platz zu machen für Journalisten, Politiker und Intellektuelle …

Weiterführende Informationen


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Keine.

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